Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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des alten Michael leise über die Tastatur der Orgel. Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne schienen durch die westlichen Fenster und fielen einen Augenblick wie ein goldner segnender Schein auf Mainwarings abgespanntes Gesicht.

      »Ich gehe nun fort«, sagte er fest.

      »Sie gehen fort?« flüsterte sie. »Wohin?«

      Die Orgeltöne schwollen an.

      »Dorthin«, er deutete kurz nach Westen, »als Missionar die Heiden bekehren.«

      »Wirklich!« Ihre Stimme bebte. »Und Sie gehen allein?«

      Er lächelte traurig. Die Sonne war untergegangen. Das Zwielicht in der Kirche verbarg ihr, daß seine Augen feucht geworden waren.

      »Ja, allein«, sagte er. »Ist nicht ein Größerer vor neunzehnhundert. Jahren auch allein ausgegangen?«

      »Allein, ach, allein!« seufzte sie.

      »Aber ehe ich gehe«, sagte er nach einer Weile mit einer Stimme, deren innere Erregung er vergebens zu unterdrücken sich bemühte, »… da möchte ich Ihnen gestehen, Grace …« Er hielt inne und suchte die Herrschaft über seine Gefühle zu gewinnen.

      »Ja … was?« hauchte sie.

      »… daß ich Sie nie vergessen werde, solange ich lebe, nie.« Er wandte sich zum Weggehn.

      »Nein, nein! Nicht allein!« Sie hielt ihn weinend zurück.

      »Was soll das heißen?« fragte er heiser.

      »O Du einfältiger Mann, Du geliebter, blinder, törichter Junge! Hast Du es denn nicht bemerkt? Die ganze Zeit über nicht bemerkt, von dem Tage an, als ich Dich in der Mietskaserne in der Murphy Street predigen hörte!?«

      Er preßte sie in einer heftigen Umarmung an sich. Ihr schlanker Leib gab dem Druck seiner Arme nach, als er sich über sie beugte. Sie legte ihre vollen runden Arme um seine breiten Schultern, schmiegte sie um seinen Hals. Sie zog sein dunkles Haupt zu sich herab, während er sie mit hungrigen Küssen auf die geschlossenen Lider, auf den duftenden Nacken, auf den geöffneten Blumenkelch ihrer jungen frischen Lippen küßte.

      »Nein«, flüsterte sie, »nicht allein, sondern auf ewig zusammen!«

      »Auf ewig!« antwortete er feierlich, »so wahr mir Gott helfe.«

      Die Orgeltöne schwollen zu einem Triumphgesang an und fluteten durch das geräumige Dunkel der Kirche. Und während der alte Michael sein ganzes Herz in die Musik legte, rollten ihm Tränen unaufhaltsam über die abgezehrten Wangen. Er lächelte glücklich unter diesen Tränen, als er mit seinen greisen Augen die uralte Sage von Jugend und Liebe wahrgeworden sah, und murmelte:

      »Ich bin die Auferstehung und das Leben, das Alpha und das Omega, ein Ende und ein Beginn …«

      Eugen wandte das Gesicht ins Licht, das durch die Fenster des Lesesaals fiel. Seine Augen waren feucht; er blinzelte heftig, schluckte schwer, schneuzte sich scharf die Nase. Ach ja! Ach ja!

      … Die Wilden merkten, daß sie nun nichts mehr zu fürchten hatten. Rasend vor Wut über die erlittnen Verluste bereiteten sie den Angriff vor. Taomi, ihr Häuptling, in gräßlicher Kriegsbemalung, führte einen wilden Tanz auf. Dann kommandierte er mit schriller Stimme den Stamm zum Sturm auf die Klippe.

      Glendenning stieß eine leise Verwünschung aus, als er zum letztenmal die leeren Patronengürtel untersuchte. Dann lud er die letzten zwei Schuß in seinen Colt.

      »Die sind wohl für uns?« fragte sie ruhig.

      Er nickte.

      »Das Ende also?« flüsterte sie leis, aber ohne eine Spur von Angst.

      Er nickte abermals und sah sie fest an.

      »Ja, jetzt heißt's sterben, Veronika«, sagte er, »und so kann ich es nun sagen.«

      »Ja, Bruce«, antwortete sie sanft.

      Er war beglückt, denn dies war das erstemal, daß sie ihn beim Vornamen nannte.

      »Ich liebe Dich, Veronika«, sagte er, »ich habe Dich von dem Augenblick an geliebt, als ich Dich fast leblos am Strande fand, in all den Nächten geliebt, die ich draußen vor dem Zelt lag, in dem Du ruhig atmend schliefst, und am meisten lieb ich Dich jetzt, in dieser Stunde des Todes, wo ich von der Pflicht, über meine Liebe zu schweigen, entbunden bin.«

      »Liebster, ach Liebster! Warum hast Du geschwiegen?« flüsterte sie mit tränenüberströmtem Gesicht. »Ich habe Dich auf den ersten Blick geliebt.«

      Sie neigte sich zu ihm mit halbgeöffnetem, bebendem Mund, ihr Atem ging in kurzen Stößen, und während seine nackten Arme sie fest umfaßten, trafen sich ihre Lippen in einem langen Augenblick der Seligkeit, in einer jähen Ekstase, in der all die eingesperrte Sehnsucht ihres ganzen Lebens Erlösung und Erfüllung fand.

      Ein lauter Knall aus einiger Entfernung erschütterte die Luft. Glendenning sah schnell auf und rieb sich erstaunt die Augen. Drunten in den kleinen Hafen der Insel war ein Kanonenboot eingefahren. Da lag es mit der gepanzerten Breitseite, gerade fuhren eine Flamme und Rauch aus einer Geschützmündung heraus. Eine 15-cm-Granate schlug dreißig Meter vor den Wilden ein.

      Mit gellendem Geschrei, gemischt von Angst und unterdrückter Furcht, wichen die Angreifer zurück und flohen zu ihren Kanoes am Strand. Ein Boot, mit lustigen blauen Jungen bemannt, wurde vom Schiff herabgelassen und ruderte auf die Küste zu.

      »Gerettet! Wir sind gerettet!« rief Glendenning. Er sprang auf und signalisierte dem Boot. Plötzlich hielt er inne.

      »O verdammt, verdammt noch mal«, murmelte er bitter.

      »Was ist denn, Bruce?« fragte sie.

      »Ein Kriegsschiff ist gerade in den Hafen eingefahren. Wir sind gerettet, Miss Mullins, gerettet!« Und er lachte bitter.

      »Aber Bruce, Liebster; was ist denn mit Dir? Freust Du Dich nicht? Warum benimmst Du Dich so seltsam? Nun können wir doch unser ganzes Leben zusammen haben!«

      »Zusammen?« sagte er mit hartem Lachen. »Ach nein, Miss Mullins. Ich kenne meinen Stand. Glauben Sie etwa, daß der große Multimillionär John T. Mullins seine Tochter dem Vagabunden Bruce Glendenning zur Frau gibt? Nicht im Leben! So was kommt nicht vor! Es ist nun alles aus zwischen uns. Es heißt Lebwohl sagen.« Er verzog die Miene. »Ich hoffe, bald von Ihrer Heirat mit einem Herzog oder Lord zu hören. Also, leben Sie wohl, Miss Mullins. Viel Glück! Wir müssen nun jedes seiner eignen Wege wieder gehen.« Er wandte sich weg.

      »Du närrischer Junge! Du lieber, böser, törichter Kerl!« Sie fiel ihm um den Hals, schmiegte sich zärtlich an ihn und redete sanft auf ihn ein. »Hast Du denn tatsächlich geglaubt, ich ließe Dich je wieder von mir gehn?«

      »Veronika!« keuchte er. »Meinst Du das wirklich?«

      Sie wollte ihm in die Augen sehen, konnte aber nicht, denn sie war über und über errötet. Er riß sie verzückt an sich, und zum zweitenmal, diesmal aber mit der Aussicht auf ein langes und glückliches Leben, fanden sich ihre Lippen in süßem Vergessen …

      O mir! O mir! Eugens Herz war voll Freude, und schwer vom Kummer war es, daß die schöne Geschichte schon aus war. Er zog seine verklumpte Rotzfahne aus der Tasche und blies den Inhalt seines glorreich-sentimentalen Gemüts mit einem sieghaften Trompetenstoß hinein. O mir! O mir! Guter alter Bruce-Eugen!

      In der hehren Innenwelt, in die ihn seine Phantasie hob, war aller Makel des Lebens getilgt. Er lebte edel und heldenhaft unter liebenden, tugendsamen Geschöpfen. Er sah sich selber in erhabnen Begegnungen mit seiner Schulkameradin Bessie Barnes, ihre reinen Augen waren von Tränen trüb, ihr süßer Mund bebte vor Verlangen. Er spürte den starken Händedruck ihres Bruders Honest Jack, dessen treuherzige Aufrichtigkeit, die tiefe, ewige Verbundenheit ihrer wackren Männerherzen, wenn sie einander stumm anblickten und jener schweigsam bestandnen Gefahren gedachten, die Freunde aus ihnen gemacht hatten.

      Eugen begehrte die beiden Dinge, die alle Männer begehren. Er wollte geliebt werden und wollte berühmt sein. Der Ruhm war chamäleonhaft, aber der Triumph lag immer daheim bei den Leuten von Altamont. Das Bergstädtchen hatte eine ungeheure Autorität