Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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aufeinander ein und wichen im letzten Augenblick voreinander zurück. Die Buben barsten fast vor Lachen.

      Der blasse Louis Greenberg, kürzlich von der Universität heimgekehrt, trank Blausäure. Der Vater des Selbstmörders, ein orthodoxer Alter, wurde gerufen. Eugen, Max und Harry standen neugierig vor dem Klagehaus. Der Alte kam. Er trug einen schwarzgrünen speckigen Kaftan und einen verbeulten steifen Hut. Er gestikulierte wild und jammerte: »o yoi, o yoi, o yoi, o yoi … oyoiyoipoipoi …« und rannte ins Haus. Die Rangen lachten sich halbkrank über ihn.

      Die flachshaarigen Kinder aus der Pigtail Alley aber haßten sie mit einem humorlosen, tödlichen Haß. Pigtail Alley war eine kotige Gasse am untern Ende der Woodson Street, am Rande eines veralgten Sumpfs. Dort hauste in elenden, weißgetünchten Holzhütten verkommenes Volk, arme Weiße. Knochige, schnupfnasige Weiber und wüste, dumpfe Männer, denen der Kautabakspeichel über die brutalen Kinnbacken lief, lungerten in der Sonne vor den stinkenden Hütten herum. Die Kinder waren fast alle weißblond. Abends roch es nach halbfaulem Fleisch, das in ranzigem Fett gebraten wird. Flackernde Ölfunzeln brannten in den trüben Hausungen. Man hörte das scharfe Gekeif der Weiber und das besoffne Gebrüll der Männer, Geschrei und Flüche, Flüche und Geschrei.

      Einst zur Kirschenzeit hatte Lukas, der Hauptmann, seinen Trupp Zeitungsträger, Judenbuben und Christensöhne, zum Pflücken in Gants Garten gebracht. Die ganze Bande turnte im Geäst und brach die hellroten Herzkirschen in kleine Körbchen; ein Viertel des Gepflückten sollte den Arbeitenden gehören. Ein weißblonder Bub aus den Elendshäusern erschien mit unschlüssigem, traurigem Gesicht im Garten.

      Lukas war fünfzehn. »Immer rauf auf den Baum, Söhnchen!« befahl er herzhaft. »Da! Nimm Dir ein Körbchen und los!«

      Eugen wiegte sich begeistert und lebensfroh im höchsten Wipfel des Baums. Der Bub kam wie eine Katze den beharzten Stamm heraufgeklettert, schwang sich ins Geäst und pflückte mit unglaublicher Geschwindigkeit sein Körbchen voll. Er ließ sich gewandt auf den Boden herunter und leerte es in den großen Sammelkorb. Er war schon wieder halb den Stamm hinaufgeklettert, als seine Mutter, ein hageres, knochiges Weib, im Garten erschien.

      »Haij, Reese«, schrillte sie. »Was suchstu'enda?« und hieb ihm mit einer Gerte über die braunen Waden. Der Junge heulte.

      »Mach, daß 't hejmkummst«, befahl sie und schlug ihn wieder.

      Keifend trieb sie ihn mit Rutenschlägen vor sich hin. Der Bub sprang hoch vor Schmerz und schrie auf. Wenn er stehen bleiben wollte, schlug sie noch härter zu.

      Die Buben auf den Bäumen kicherten schadenfroh. Aber Eugen, der das verhärmte, verhärtete Gesicht der Frau, das zornige Mitleid in ihren grellen Augen gesehen hatte, spürte einen Stich im Herzen. Es war, als ob ein Geschwür in ihm risse.

      »Der arme Kerl, er hat seine Kirschen hiergelassen«, sagte er zu Lukas.

      Die Buben johlten hinter Loney Shytle her, die nach Lumpen stank, einen riesenhaften Federhut auf dem trüben Fransenhaar trug, faustgroße Löcher in den Fersen ihrer schmutzigen weißen Strümpfe hatte. Sie war der Grund blutschänderischer Eifersucht zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder; am Hals hatte sie eine große Narbe von einer Wunde, die ihr ihre Mutter einst mit dem Rasiermesser beigebracht hatte; sie hatte den steifen, spreizbeinigen Hoppelgang der Geschlechtskranken.

      Eines Tages hatten sie einen Buben aus der Alley umzingelt. Furchtsam zog sich der arme Kerl in eine stinkende Mauerecke zurück. Willie Isaacs, ein jüngerer Bruder von Max, verhöhnte ihn, hämisch lachend:

      »Deine Mutter nimmt Wäsche ins Haus; sie wäscht für 'nen dreckigen ollen Nigger!«

      Das Opfer des Hohns zuckte im Gesicht. Willie bog sich vor Lachen über den trefflichen Einfall. Harry Tarkinton brüllte vor Vergnügen. Eugen wandte sich unentschieden weg, renkte krampfhaft den Hals, hob den einen Fuß scharf vom Boden wie jemand, der sich vor Schmerz windet:

      »Das ist gelogen!« schrie er seinen erstaunten Gefährten ins Gesicht. »Das ist gelogen!«

      Harry Tarkintons Eltern waren aus England eingewandert. Er war drei oder vier Jahre älter als Eugen, ein untersetzter, täppischer Junge mit stumpfem Gesicht und einer von chronischem Katarrh verschwollnen Nase. Immer roch er nach den Farben und Ölen, mit denen sein Vater handelte. Er war der Zerstörer der Visionen, der Anstifter zur Anstößigkeit. Eines schönen Abends lagen sie und schwatzten im hohen kühlen Gras. Die Sonne ging unter. Da zertrümmerte Harry auf immer den holden Zauber, der Weihnachten heißt. Dafür bot er Eugen den Ölfarbengestank, die Abortluft, die stumpfe, schweißige, phantasielose Passion des Vulgären. Eugen konnte ihm nicht folgen; in diesen Regionen roch es ihm zu schlecht.

      An einem öden Nachmittag stöberten die zwei im Dachstock des Gantschen Hauses. Sie fanden eine Flasche, halbvoll mit einem Haarwuchsmittel.

      »Hast du schon Haar unten am Bauch?« forschte Harry.

      Eugen war verlegen, machte Ausflüchte, gestand. Sie knöpften sich die Hosenlätze auf und schmierten sich mit öligen Händen die Bäuche ein. Tagelang warteten sie verzückt auf das Goldne Vlies.

      »Haar da unten macht 'nen Mann aus Dir«, behauptete Harry.

      In diesem Frühling ging Eugen oft in die Werkstatt seines Vaters am Stadtplatz. Alles dort gefiel ihm: Die helle Sonne auf dem Pflaster. Der Blick aufs Gebirg. Das wehende Gesprüh des Springbrunnens. Die redseligen Feuerwehrmänner. Die Kutscher und Fuhrleute, die sich träg vor Gants Backsteinschuppen herumtrieben, mit den Peitschen um die Wette knallten, miteinander häkelten. Jannadeau hinter den niegewaschnen Scheiben, der, die Uhrmacherlupe eingeklemmt, geschickt etwas im Räderwerk einer Uhr richtete. Der moosige, feuchte Geruch des ganzen Baus.

      Im ersten Raum war Gants Lager: der Boden hatte sich vom Gewicht der Steine gesenkt. Da standen polierte Platten aus Georgia-Marmor, unbehaune Blöcke aus Vermont-Granit, bescheidne, mit einer Urne oder einem liegenden Lamm gezierte Grabmale, und – große, fliegenverdreckte verstaubte Engel aus Carrara in Italien, die Gant für schweres Geld erstanden hatte und nie verkaufte. Sie waren seine Freude, sein Stolz.

      Durch eine Holzwand abgeteilt war ein anderer Raum, die Werkstatt mit dem Abort in der Ecke und dem Waschbecken. Der Steinstaub lag fingerdick auf den groben Holzböcken, den mit Meißeln, Bohrern, Hämmern vollbesteckten Werkzeugregalen, dem kleinen, zerbeulten gußeisernen Ofen. Sandsteinsockel standen herum. Brennholz und Kohle lagen in losen Haufen aufgeschüttet am Boden. Am Fenster stand ein Schleifstein mit einem Pedal; Eugen spielte stundenlang damit; das zunehmende Sausen des Rades begeisterte ihn.

      Ein dritter, kleinerer Raum diente Gant als Büro. Staub von zwanzig Jahren, zusammengebündelte Stöße von schmutzigen Papieren auf dem altmodischen Schreibtisch; ein Ledersofa, ein zweiter Schreibtisch, auf dem geschichtet kleine rechteckige Täfelchen, die Stein- und Politurmuster, lagen. Durch die trüben Scheiben des niegeöffneten Fensters blickte man auf Will Pentlands Bürohaus und Holzlager hinaus und sah eine Ecke des Marktplatzes, der, nur durch einen kurzen Straßenblock abgeschnürt, auf dem Hang neben dem Stadtplatz lag.

      Gewöhnlich fand Eugen seinen Vater im Gespräch mit Jannadeau in der Juwelierwerkstatt; Gant stützte sich schwer auf den zerbrechlichen Glastisch. Oder die beiden Männer unterhielten sich über den Zaun, der Jannadeaus Ecke von dem Grundstück ausgrenzte. Sie sprachen über Politik, Krieg, Tod und Hungersnot. Gant Schimpfte auf die Demokraten und schob ihnen die Schuld am schlechten Wetter und an den hohen Steuern in die Schuhe. Er pries Teddy Roosevelts sämtliche Aussprüche, Handlungen und Prinzipien. Der urteilsfähige, besonnene Schweizer entgegnete mit statistischen Einwänden. Sein einziges Nachschlagewerk war ein drei Jahre altes Exemplar von »The World Almanac«, vollständig abgegriffen und mit Fingerspuren beschmutzt. Er schlug nach und bemerkte etwa so: »Aha! Ganz wie ich mir dachte! Die Munizipalsteuer in Milwaukee während der demokratischen Verwaltung 1905 war 2,25 Dollar auf Hundert, also niedriger als sie seit Jahren war.« Er disputierte mit Eifer und bohrte dabei mit seinen stumpfen schwarzen Fingernägeln in der Nase. Sein breites gelbes Gesicht legte sich in fettige Falten, wenn er über Gants Unvernunft lachte.

      Gant aber war nie abzubringen, nie zu überzeugen: »Ich prophezeie es, Jannadeau«, dröhnte er, »wenn die Demokraten bei der Wahl gewinnen,