Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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geben?« wisperte er mit trockner Stimme zu Otto Krause.

      »Haue, Haue!« sagte Otto und lachte heiser.

      Die Klasse höhnte ihn schadenfroh. Sie rieben sich den Allerwertesten vor seinen Augen und schnitten weinerliche Grimassen dazu.

      Eugen wurde übel; nicht aus Furcht vor den Schmerzen, sondern aus Ekel vor der Demütigung. Er empfand Bewunderung und Neid vor der seelischen Unempfindlichkeit seiner Klassenkameraden, die eine Tracht Prügel einfach hinnahmen, laut heulten, um die Schläge zu mildern, und zehn Minuten später die ganze Sache vergessen hatten. Er wußte, daß er es nie verwinden könne, wenn ihn der feiste junge Mann mit der Nelke im Knopfloch verhauen würde. Um drei Uhr meldete er sich auf dem Rektorzimmer, kreideweiß im Gesicht.

      Armstrong, schlitzäugig und dünnlippig, hielt den Stock in der Hand, als Eugen eintrat. Er ließ den Stock durch die Luft sausen. Hinter ihm auf dem Schreibtisch lagen, ein säuberlich geordneter Stoß, die Zettel mit dem gereimten Schimpf.

      »Hast Du das Zeug da geschrieben?« fragte Armstrong und machte seine Augen klein wie Punkte, um Eugen Angst einzujagen.

      »Ja«, gestand Eugen.

      Armstrong ließ abermals den Stock durch die Luft sausen. Er hatte Daisy mehrere Male zu Hause besucht und an Gants reichgedecktem Tisch gegessen. Er erinnerte sich dessen genau.

      »Habe ich Dir je etwas zuleid getan. Söhnchen, daß du mich so verunglimpfst?« knirschte die gekränkte Großmut.

      »N – n – nichts«, stotterte Eugen.

      »Willst Du es je wieder tun?« tönte die schneidende Strenge.

      »N – n – nein, Herr Rektor«, antwortete der Sünder mit versagender Stimme.

      »Gut! Dann will ich Dir's hingehn lassen«, sprach Gott in seiner Größe. »Du kannst gehen.«

      Eugen fand seine Beine erst wieder, als er draußen auf dem Spielplatz war.

      Aber oh! der herrliche Herbst! Die Lieder, die sie sangen! Lieder von der Ernte und vom verfärbten Wald, und »Heut ist halber Feiertag …« und »Droben in der Luft so hoch der Drache …« und das Schnellzugsliedchen: »Stationen sausen im Flug vorbei wie ein Pfiff …« Oh, diese mürben Tage! Die Tore des Verlangens taten sich auf; Nebel verspannen die Sonne; das welke Laub fiel raschelnd durch die Luft auf den Boden.

      »… Und jede dieser kleinen Schneeflocken ist anders in der Form als alle anderen.«

      »Wirklich, Miss Pratt? Jede?«

      »Ja, jede Schneeflocke ist anders als alle anderen, die es je geschneit hat. Die Natur wiederholt sich nie.«

      »Oh!«

      Bens Bart wurde flück; er rasierte sich bereits. Er tollte stundenlang mit Eugen, drückte ihn aufs Ledersofa und kratzte die zarte Wange des Kleinen mit den dünnen spitzen Kinnstoppeln. Eugen quietschte.

      »Ha! Wenn Du das erst mal kannst, bist Du'n Mann«, sagte Ben. Und er sang mit seiner dünnen summenden Gespensterstimme:

      »Peck peck peck! pocht der Specht an die Schulhaustür,

      Peck peck peck! und sein Schnabel ward wund,

      Nun schnelle an der Schelle auf dem Schulhaus gewetzt,

      Peck peck peck! ward der Schnabel gesund.«

      Sie lachten, Eugen mit schaukelnden Kehllauten, Ben mit fast lautlosem Kichern. Er hatte wäßrige graue Augen und eine gelbe, finnige Haut. Sein Kopf mit der hohen knochigen Stirn war wohlgeformt. Sein Haar war kraus, ahornbraun. Unterhalb der ständig zusammengerückten Brauen war sein Gesicht klein und lief spitz zu. Sein ungewöhnlich sensitiver Mund lächelte kurz, flackernd, mit eingezogenen Lippen. Wie ein Lichtschein über eine Klinge läuft, so huschte das Lächeln über Bens Mund. Ben gab stets einen Puff, wenn er eigentlich streicheln wollte; er war sehr zärtlich und sehr stolz.

      IX

      Ja, und die Zeit, wenn Proserpina wiederkehrt, wenn der Zeres totes Herz aufs neue entbrennt, wenn aller Wald von zartem Dunste schwimmt und winzige Vögel durch ausgelaubtes Gezweig singender Bäume flitzen, wenn der schwammige Teer auf die Straßen gefahren wird und die Buben, die Taschen klümprig mit Kreiseln und achatnen Murmeln, kleine heiße Teerbälle auf der Zunge rollen … ja, dann grollt der berstende Donner nachts, dann fällt der millionenfüßige Regen; morgens sieht man, Wolkenfetzen am stürmischen Himmel … und wenn der Junge aus dem Gebirg, der Handlanger, seinen Leuten, die einen Zaun setzen, den Wasserkrug bringt, dann hört er den Wind durchs Gras schlängeln und drunten im Tal den langhinseufzenden Pfiff und das matte Geläut einer Schelle … die großen blauen Berge scheinen ihm näher, dichter, herangerückt, denn er hat ein wortloses Gelöbnis vernommen: der Frühling, ein scharfes Messer drang in sein Herz.

      Und das Leben wirft den rostroten, verwitterten Schutzpelz ab, und die Erde sprießt auf mit zarter, unerschöpflicher Gewalt, und der Becher des Menschenherzens fließt über von sagenhaftem Erwarten, stummen Versprechungen, unerklärlicher Sehnsucht. Irgend etwas schnürt dem Menschen die Kehle, irgend etwas blendet ihm den Blick, und ein mutiger Hörnerklang tönt leise durchs Erdreich.

      Die kleinen langzöpfigen Mädchen trotten pflichtschuldig den Schulweg – aber die jungen Götter säumen. Sie hören die Schalmei, die Flöte, das Getrampel der Bockshufe im moosigen Wald. Sie schwanken, sie lauschen, sie sind am gespanntesten, wenn sie müßig zu warten scheinen; schließlich gehen sie verwirrt weiter zu dem einzigen Heim, das sie kennen. Aber die Erde ist voll von uraltem Rumor, und sie können den Weg nicht finden. Alle Götter haben den Weg verloren, alle.

      Was sie gegen die Barbaren hatten, hüteten sie. Eugen, Max und Harry regierten über die kleine Nachbarschaft. Sie führten Krieg gegen die Neger und die Juden, an denen sie ihren Spaß hatten, und gegen die verhaßte, verachtete Brut aus der Pigtail Alley.

      Sie hockten in der Dämmerung auf der Mauer, bei der flackernden Gaslaterne an der Straßenecke, und spähten aus. Sie lagen in Gants Garten im dichten Gebüsch versteckt und lauerten auf verliebte Negerpärchen, die dort vorbeigingen. Sie hatten einen langen, ausgestopften Strumpf an einer Strippe; das Ding sah wie eine Schlange aus. Das Stammeln, Gurgeln, Quieken der Erschreckten, das Lachen der Buben gellte im Dunkel. Dem schwarzen Lieferjungen des Grünzeughändlers, der auf dem Fahrrad elegant im Freilauf den Berg hinuntersauste, schmissen sie Steine nach.

      Nein, sie haßten sie nicht, die Neger. Clowns sind eben schwarz in den Südstaaten. Sie hatten gelernt, wie man mit diesem Volk umgehen muß. Puffe sie in Güte, verfluche sie freundlich, gib ihnen mächtig zu futtern. Menschen behandeln einen treuen, schwanzwedelnden Hund gut, aber muß dieser Hund gewohnheitsmäßig auf zwei Beinen herumlaufen? Sie wußten: von einem Nigger nimmt man nichts an. Man läßt sich nicht auf Argumente mit ihm ein. Die einzige Antwort auf die Einwände des Schwarzen ist ein Knüppel auf den Kopf und ein Schädelbruch. Bloß, daß es unmöglich ist, einen Niggerschädel zu brechen.

      Die Juden spuckten sie lustig an. Ersäuf den Juden, verhau den Nigger.

      Die Jungen paßten auf Juden, folgten ihnen bis ans Haus und schrien: »Gänseschmalz! Gänseschmalz!« Sie glaubten unbedingt, daß Semiten in der Hauptsache von Gänseschmalz leben. Oder sie riefen: »Wischamadei! Wischamadei!«, blind davon überzeugt, daß dieses entstellte, vielleicht falsch überlieferte, vielleicht freierfundne Schimpfwort die tiefste, unaussprechlichste Beschimpfung für jüdische Ohren sei.

      Eugen war nicht für Pogrome; bei Max aber war es Leidenschaft. Ihre Nachstellung galt vor allem dem kleinen Isaak Lipinski. Sie überfielen ihn bei jeder Gelegenheit, jagten ihn über Straßen und Wege, über Zäune und durch Gärten, durch Scheuern und Ställe bis in sein Elternhaus. Der kleine Kerl mit dem pfiffigen Gesicht war flink und gewandt. Immer entkam er. Er grinste mit jiddischer Verachtung und Überlegenheit, deutete mit dem Daumen auf sie, forderte sie zwinkernd zur Wiederverfolgung heraus.

      Manchmal in der Dämmerung schlichen sie vor ein jüdisches Haus. Sie kauerten unterm Fenster, eng aneinandergedrückt. und lauschten kichernd auf den hysterischen Zank, von dem beinah allabendlich die vier Wände der Hebräer bebten.

      Johlend