Vor den Pausen fürchtete er sich, denn er haßte das Durcheinander und die Balgerei auf dem Schulhof. Sein Stolz erlaubte ihm nicht, einfach im Klassenzimmer zu bleiben oder sich stillschweigend zu drücken. Eliza hatte sein Haar lang wachsen lassen und wickelte es jeden Morgen um die Finger zu dicken Lord-Fauntleroy-Locken. Die Qualen und Demütigungen, die er wegen dieser Locken ausstand, konnte oder wollte sie nicht verstehn. Umsonst flehte Eugen, sie möge ihm das Haar schneiden lassen. Sie bewahrte die Locken von Ben, Grover und Lukas in kleinen Schachtein auf. Sie weinte manchmal, wenn sie Eugens Haar anschaute. Für sie waren diese Locken Merkzeichen dafür, daß Eugen noch ein Baby sei, Gedenkzeichen auch ihrer eigenen Herzenstrauer. Sie brachte es nicht über sich, sie zu opfern. Sogar als sich eine blühende Kolonie von Harry Tarkintons Läusen in dem dichten Gelock ansiedelte, ließ sie es nicht scheren, sondern behandelte die Kopfhaut zweimal täglich mit einem feinzinkigen Kamm.
Eugen zitterte und wand sich bei der Prozedur. Er flehte leidenschaftlich. Aber sie summte vor sich hin und sagte: »Aber was? Du bist doch gar kein großer Junge. Du bist doch mein Nesthäkchen.« Plötzlich verstand Eugen die nachgiebige Unbeugsamkeit ihres Wesens, die Ursache von Gants Wut. Er schrie auf, hilflos vor wahnwitzigem Zorn.
In der Schule war er ein gehetztes kleines Tier. Die Klasse in ihrem Herdeninstinkt hatte den Fremdling schnell herausgefunden. Sie trieben ihn zur Verzweiflung, sie jagten ihn unerbittlich. Wenn die große Mittagspause kam, packte Eugen sein fettfleckiges Papierbündel und rannte, vom heulenden Rudel verfolgt, über den Spielplatz. Die Führer der Bande, zwei oder drei ältere Lausbuben, die wegen Dummheit sitzen geblieben waren, drängten sich an Eugen mit der Aufforderung: »Gelt, Du kennst mich! Du kennst mich!« Sie keilten ihn in eine Ecke, rissen ihm Stück für Stück die belegten Brote aus der Hand, rauften sich mißgünstig um die Beute. Manchmal gelang es Eugen, ein halbes Brot aus den Händen der Räuber zu reißen und es schnell zu verschlingen. Wenn die Brote alle waren, lief das Pack davon.
An die große Phantastik der Weihnachten glaubte er noch. Abend um Abend im Spätherbst und Vorwinter kritzelte er Wunschzettel an den Nikolaus, schrieb fleißig immer wieder die Liste der Geschenke auf, die sein Herz am meisten begehrte. Dann warf er den Zettel in das auflodernde Kaminfeuer. Die Flamme faßte das Papier und wehte den verkohlten Rest zum Rauchfang hinauf. Gant rannte ans Fenster, deutete auf den wolkigen Nordhimmel und sagte:
»Siehst Du? Dort fliegt er, Dein Wunschzettel.«
Eugen sah. Er sah, wie der herrliche Botenwind seine Bittschrift nordwärts davontrug nach Weihnachtsland und ins lustige Reich der Schnee-Elfen; er sah die kleinen Dächer und Giebel der Spielzeugdörfer; er hörte das Lachen der Zwerge, süß und hell, wie ein Hämmerchen auf einem kleinen silbernen Amboß klingt; er hörte das Wiehern des himmlischen Rentiers, das den Schlitten des Nikolaus zieht. Gant sah und hörte dasselbe.
Zum Fest, wurde er mit buntem Spielzeugtand überschüttet. Von Grund seines Herzens haßte er die Leute, die für »nützliche« Geschenke sind. Gant kaufte ihm Karren, Schlitten, Pferde, Trompeten, Hörner. Das Schönste war ein kleiner Feuerwehrwagen, der das Wunder und später die Plage der gesamten Nachbarschaft wurde. Monatelang lebte er in der schulfreien Zeit im Keller mit Max Isaacs und Harry Tarkintott; sie hatten die Leitern auf dem Wagen so mit Draht festgemacht, daß sie im Handumdrehen angelegt werden konnten. Sie taten, als dösten sie auf Wache, ganz wie es die tapfere Feuerwehr tut. Plötzlich sprangen sie auf, wenn einer von ihnen die Alarmglocke »Klengelengeleng« nachmachte. Wie besessen stürzte Eugen zum Fahrerbock, stürzten Harry und Max auf die Seitenbänke. Sie rasten zum Keller hinaus, galoppierten vor ein Nachbarhaus, legten Leitern an, öffneten Fenster, erzwangen Eintritt, schrien, löschten eingebildete Zimmerbrände und fuhren dann wieder ab, ohne sich um das Gekeif der heimgesuchten Hausfrau zu scheren.
Monatelang gingen sie ganz in diesem Spiel auf. Ihr Vorbild war die städtische Feuerwehr, besonders aber der Schweizer Jannadeau, der Leutnant bei der Truppe war. Sie hatten gesehen, wie er, sobald der Alarm ertönte, eine gerade auseinander genommene Uhr auf dem Glastisch liegen ließ, aus seinem Juwelierladen neben Gants Werkstatt stürzte, über den Stadtplatz stürmte und wie ein Verrückter rennend den großen Löschwagen gerade noch erreichte, als dieser zur Halle herausfuhr. Die Feuerwehr gab waghalsige Schaustellung vor der gaffenden Bürgerschaft; sie führten tollkühne Kunststücke an den Leitern aus. Ein Mann hielt einen zweiten an den Armen in der Schwebe, und Jannadeau wagte den halsbrecherischen Sprung nach den Armen des Schwebenden und hing sich an dessen Händen ein. Den Leuten lief es eiskalt den Buckel hinunter.
Wenn nachts Alarmschellen durch den heulenden Wind tönten, fuhr der Dämon in Eugens Herz. Er träumte sich in Herrschaft, in fliegende Herrlichkeit über Feuersbrunst, Dunkelheit, Sturm und alle Mächte, über eine Welt höllischer Widersacher; er bestand wilde Abenteuer der Einsamkeit, Begegnungen mit Feinden im Gewitter, warf Blicke durch regengepeitschte, sturmerschütterte Fenster auf Frauen.
Ja, auf ein Reich von Frauen, die schönleuchtend, mit angehaltnem Atem im Bette lagen. Über Welten hinweg, zwischen zitternden Säulen aus Duftrausch kam er zu ihnen. Das Geheimnis des weiblichen Körpers, rätselhaft dunkel und groß, hatte es ihm angetan. Bald auch fand er Unterweisung für seine Neugier bei den ungekämmten Gören von Doubleday, die die Herzen der kleineren, zarteren Jungen mit Furcht und Verwunderung erfüllten. Doubleday war das verseuchte Stadtviertel, in dem das ortsansässige Pack der stumpfen Gebirgsrasse hauste, rohes Volk, das nachts auf den Gassen herumlungerte und gegen andre Banden mit Steinen Krieg führte, so daß es in der Nacht von Allerheiligen blutige Köpfe und zerbrochne Schädel gab.
Eugens Mitschüler Otto Krause war der Sohn deutscher Einwandrer. Er war ein struppiger, käsenasiger Bursch mit schmalen, dünnen Brauen, sehr schnell auf den hageren Beinen; er war ewig heiser und hatte ein idiotisches Lachen. Dieser Otto Krause zeigte ihm die Gärten der Lust.
Ein Mädchen namens Bessie Barnes war schwarzhaarig, hochgewachsen, mit einer kecken aufreizenden Figur … Sie diente als Modell. Bessie war dreizehn, Otto war vierzehn. Eugen war acht. Alle drei gingen sie in die drittunterste Volksschulklasse. Otto saß neben Eugen.
Otto schrieb und zeichnete Schweinereien auf Zettel und reichte sie über den Gang zwischen den Bankstaffeln der Bessie hinüber. Die Nymphe machte eine unzüchtige Miene, hob elegant die Hinterbacke und gab sich einen verächtlichen Klaps auf den Schenkel, eine Gebärde, die Otto für eine Zusage hielt und gekitzelt mit einem heiseren Kichern beantwortete.
Die Bessie ging dem Eugen im Kopf herum.
Während des Unterrichts vergnügten sich Otto und Eugen heimlich damit, Unanständigkeiten in ihre Geographiebücher zu zeichnen. Die dargestellten Ureinwohner der Tropen versahen sie mit Hängebrüsten und mächtigen Geschlechtsteilen. Auf kleine Zettel schrieben sie kurze schweinische Reimereien über die Lehrerin und den Rektor. Miss Groody, die Lehrerin, war eine magere alte Jungfer mit rotem Gesicht und grellen Augen. Otto dichtete von ihr:
»Die alte Miss Groody
Hat gute Toody.«
Eugens Poesie galt der Person des Rektors. Dieser war ein fetter, weichlicher, geckenhafter junger Mann namens Armstrong. Er trug stets eine Nelke im Knopfloch, deren Duft er, wenn er einen Buben verwichst hatte, mit geblähter Nase und niedergeschlagenen Lidern einsog. Im Ansturm der ersten, reinen und reichen Schaffensfreude verfaßte Eugen Dutzende von Reimen, die Armstrong und dessen Eltern schmähten und den jungen Mann unkeuscher Beziehungen zu Miss Groody bezichtigten.
Eugen war besessen. Er verbrachte den ganzen Tag damit, diese Themen in liederlichen Reimen zu variieren. Und gewann es nicht über sich, diese Kunstwerke zu zerstören. Er verwahrte die zerknitterten Zettel in seinem Gefach unter der Bank. Eines Tages in der Erdkundestunde wurde er von der Lehrerin ertappt. Seine Knochen wurden wie Gummi, als sie ihn grell anfunkelte und den Zettel mit seiner Kritzelei, im Buch versteckt, entdeckte. Während der Pause untersuchte