Er ging nachts am Wasser spazieren; er hörte die Uferlaute, das Anschwappen der Wellen an die verkrusteten Pierpfosten; er trank den starken, grünen Duft des Wassers und den Kabeljaugeruch tief ein. Dann sah er zu, wie die großen Schiffe beladen wurden, wie sie sich grell erleuchtet langsam hinunter ins Wasser wälzten. Und die Nacht war erfüllt vom Gekreisch und dem Rattern der großen Krane, dem plötzlichen Kettengerassel, dem Geschrei der Aufseher, dem Gerumpel der Ladekarren auf den Landungsbrücken.
Das imperiale Amerika ballte zum erstenmal seine Macht zu einem ungeheuren Wurf zusammen. Die Luft war geladen mit mörderischer Geilheit, wüster, verschwenderischer, verderblicher Ausschweifung.
Durch die heißen Straßen der Stadt trieb das Gesindel der Nation, trieben Gauner, Rohlinge, Vagabunden: – Revolverhelden aus Chicago, finstre Nigger aus Texas, verkommne Brüder aus dem Verbrecherviertel New Yorks, bleiche Juden mit weichen Händen aus den Läden der großen Stadt, Schweden aus dem Mittelwesten, Iren aus Neuengland, Gebirgler aus Tennessee und Nordkarolina, – und Huren in Rudeln und Horden, Huren aus allen Ecken und Enden des Landes, Huren, für die der Krieg die große, fette Gans war, die den ganzen Tag goldne Eier legt. Es gab kein Glauben, kein Denken an die Zukunft. Es gab nichts als das triumphante Nun. Über den Augenblick hinaus gab es kein Leben.
Junge Farmer aus Georgia kamen abends von ihrer Arbeit auf den Ladedocks, den Schiffswerften, den Camps und warfen sich in ihren Pfauenstaat: am Rinnstein standen sie, hart und braun und hager im Gesicht, mit großen, groben, schwieligen Händen, in braunen Schuhen zu 18 Dollar, Anzügen zu 80 Dollar, blau-und-rot gestreiften Seidenhemden zu 8 Dollar. Sie waren Zimmerleute, Maurer, Arbeitsaufseher, oder sie behaupteten, sie wären es, und sie verdienten 10, 12, 14, 18 Dollar am Tag.
Sie arbeiteten nicht ständig, sie gingen von Camp zu Camp, schafften einen Monat und faulenzten üppig eine Woche lang, die kurze, gekaufte Liebe der Mädchen genießend, die sie an einem Badestrand oder in einem Bordell kennen lernten.
Mordskerle von Negern, Bullen mit Gorillaarmen und Panthertatzen, verdienten 60 Dollar die Woche und gaben das Geld an einem einzigen Abend runstroter Lust für ein Mulattenmädchen aus.
Und stiller, nüchterner, besonnener bewegten sich in diesem Trubel die älteren, sparsameren Handwerker, die wirklichen Zimmerleute, die wirklichen Maurer, die wirklichen Mechaniker: – gerissene, protestantische Iren aus Nord-Karolina, Fischer von der Küste Virginiens, schlaue Farmer aus dem Mittelwesten. Sie waren gekommen, um zu verdienen, zu sparen, um am Krieg Geld zu machen.
Überall in diesem schwärmenden Gedräng glänzten Uniformen. Matrosen, braun, zäh und sauber, in flappendem Blau und makellosem Weiß, wimmelten auf den Straßen. Marinesoldaten, arrogant zu zweit, schritten vorüber, steif wie Ladestöcke, im Pomp der Waffenröcke, prangend die V-förmigen Dienstgradabzeichen auf den Rockärmeln, leuchtend die bunten Streifen der Hosennaht. Kommandeure, grau und grimmig, harthändige Deckoffiziere und elegante junge Seekadetten, frisch von der Universität, und etwas Blondes in Tüll an der Seite, gingen vorüber an den roten Mützenquasten französischer Matelots und an den englischen Blaujacken mit dem seekundigen, schiffschwankenden Gang.
Durch diese Menge schob Eugen; tags in Schweiß gebadet, nachts im ranzigen, scharfen Geruch seiner verschwitzten Kleider. Das verklebte Haar hing ihm in die Augen, wand sich in Spirallocken durch die Löcher seines alten, grünen Filzhuts, stand in dichten Zotteln um seinen schmutzigen Nacken. Sein Hunger nach Reisen – jener Hunger, der die Amerikaner, die eine nomadische Rasse sind, umtreibt – war halbgestillt hier im Mahlstrom des Kriegs.
Er verlor sich in der Menge. Er rechnete nicht mehr mit Tagen, und sein kleiner Geldvorrat schmolz. Aus einem billigen Hotel, das nachts vom Radau der Hurerei laut war, zog er in eine kleine knallheiße, nach Tannenholz und Dachpappe riechende Kammer in einem Lodginghouse. Nach dem Lodginghouse bezog er eine Schlafstatt im Asyl des Christlichen Vereins Junger Männer, wo er Nacht für Nacht erschien, seine fünfzig Cent Bettgebühr berappte und in einem Saal zusammen mit vierzig schnarchenden Matrosen übernachtete. Schließlich, als sein Geld alle war, pennte er, bis man ihn herausschmiß, in einem billigen Speiselokal, das die ganze Nacht offen stand; dann unter der Fähre von Portsmouth und über dem schwappenden Wasser auf den morschen Bohlen eines Landungsstegs.
Abends trieb er sich unter den Negern herum und belauschte sie bei ihren wortreichen Liebesanträgen; er ging den Matrosen nach, die Church Street hinunter, dorthin, wo es Weiber gibt. Er strich umher mit seiner jungen Raubtierlust, sein dünner Knabenkörper stank nach getrocknetem Schweiß, seine Augen brannten in der Dunkelheit.
Er hatte Hunger. Sein Geld war alle. Aber es war ein Hunger und Durst in ihm, der nicht mit Speise und Trank gestillt werden konnte. Über seinem verwirrten Hirn schwebte der Schatten von Laura James. Ihr Schatten schwebte über der Stadt, über allem Leben. Er hatte ihn hierhergelockt. Sein Herz war geschwollen vor Scham und Stolz; er wollte sie nicht aufsuchen.
Er war von der Vorstellung besessen, daß er ihr in der Menge begegnen würde. Hier würde sie die Straße entlang kommen, dort gleich um die Ecke biegen. Er würde sie nicht ansprechen. Er würde stolz und gleichgültig vorübergehn. Er würde sie nicht sehn. Aber sie sollte ihn sehn. Sie sollte ihn in irgendeinem heroischen Moment sehn, wenn er gerade in der Liebe und der Achtung, die ihm schöne Frauen darbrachten, schwelgte. Sie sollte ihn ansprechen; er würde sie nicht ansprechen. Sie würde betroffen sein, sie würde betreten sein, sie würde ihn um Liebe und Barmherzigkeit anflehn. So, unsauber, ungekämmt, in Lumpen, Hunger und Wahnsinn gekleidet, sah er sich als schön, siegreich und heldisch. Er war irre vor Besessenheit. Täglich ein Dutzend Mal bildete er sich ein. daß er Laura auf der Straße sähe. Das Herz sank ihm in die Hosen, er wußte nicht, was er tun oder sagen solle, ob er stehnbleiben oder davonlaufen solle. Stundenlang brütete er über ihrer Adresse im Telephonverzeichnis. Er saß vor dem Apparat, zitternd vor Aufregung, gebannt von dem Gedanken, daß er mittels der furchtbaren Magie dieses Instruments binnen einer halben Minute ihre Stimme hören könne.
Er suchte ihr Heim auf. Sie wohnte in einem alten Holzhaus, weitab vom Zentrum der Stadt. Vorsichtig stelzte er in der Nachbarschaft herum, hielt sich aber immer einen Block vom Haus entfernt. Er beobachtete es versteckt von allen Seiten, mit verstohlnen Augen, mit heiß zum Hals schlagendem Herzen, – nie aber ging er vorm Haus vorüber, nie direkt auf es zu.
Er war verkommen und dreckig. Seine Schuhe waren durchgelaufen, seine verhornten Fußsohlen traten das heiße Pflaster. Er stank.
Schließlich suchte er Arbeit. Arbeit gab es ungeheuer viel, aber die hohen Löhne, von denen er gehört hatte, gab es selten. Er konnte nicht behaupten, daß er Zimmermann oder Maurer sei. Er war ein heruntergekommener Bursch, weiter nichts, und sah danach aus. Er ging zum Navy Yard in Portsmouth, zur Naval Base in Norfolk, zum Bush Terminal; überall war Arbeit zu haben, sehr viel Arbeit zu haben: Schwerarbeit für vier Dollar am Tag. Er hätte sie gern genommen; es stellte sich aber heraus, daß er seinen ersten Lohn erst nach vierzehn Tagen haben konnte, weil der Lohn für die erste Woche einbehalten würde, um ihn gegen Erkrankung, Aufruhr, Abschub oder Unfall zu versichern. Und er konnte sich unmöglich vierzehn Tage halten.
Er ging zum Juden und versetzte die Uhr, die ihm Eliza zum Geburtstag geschenkt hatte. Er bekam fünf Dollar. Dann setzte er mit dem Schiff wieder nach Newport News über und fuhr mit der Trambahn die Küste hinauf nach Hampton. Er hatte in Norfolk die Nachricht aufgeschnappt, daß in Hampton auf dem Flugfeld Arbeit sei, und zwar so, daß die Arbeiter dort auf Kosten der Firma im Lager verpflegt und beherbergt würden.
Eine kleine Baracke am diesseitigen Ende einer langen Brücke, die zum Flugfeld hinüber führte, diente als Annahmestelle. Eugen wurde als Arbeiter eingetragen. Die Wache durchsuchte die Kleider und sein Handgepäck. Dann schleppte er sich über die Brücke, stieß Schritt für Schritt den Handkoffer, in dem seine schmutzigen Sachen unordentlich verstaut waren, mit dem Knie vor sich her.
Diese Monate, von Hunger und Entsetzen voll, können hier nur kurz und andeutungsweise behandelt werden. Kaum etwas von Eugens Erlebnissen und von den Menschen, die er damals kannte, wird hier erzählt, denn die Ereignisse jener Zeitspanne