»Hören wir auf! Hören wir bitte auf damit!« bat Eugen müde und verzagt. »Niemand von uns kann sich ändern. Nichts wird besser dadurch. Es wird immer dasselbe sein hier im Haus. Wir haben uns schon tausendmal die gleichen Vorwürfe gemacht, und es hat nichts genutzt. Also hören wir auf damit! Mama, bitte, geh jetzt zu Bett! Laß uns schlafen und vergessen!« Er ging zu ihr und küßte sie. Er schämte sich sehr, als er sie küßte.
»Also, Gutnacht, Sohn«, sagte Eliza langsam und ernst. »Knips das Licht aus und leg Dich aufs Ohr. Gute Nachtruhe ist wichtig; Du sollst auf Deine Gesundheit achtgeben.«
Sie küßte ihn und ging, ohne Ben eines Blicks zu würdigen. Er sah sie nicht an. Sie waren schwer und bitterlich verzankt.
Einen Augenblick später, nachdem sie gegangen war, sagte Ben ganz ohne Ärger:
»Ich hab nichts vom Leben gehabt. Ich hab versagt. Ich bin hier geblieben, bis ich erledigt war. Meine Lunge geht drauf. Sie nehmen mich nicht mal zu den Soldaten. Ich tauge nicht genug, um von den Deutschen totgeschossen zu werden. Ich hab nie zu was getaugt. O Du mein Gott!!« stöhnte er leidenschaftlich. »Worum dreht sich alles? Kannst Du es mir sagen? Kannst Du es herausfinden, Eugen? Ist das Leben denn wirklich so, oder treibt jemand einen wüsten Scherz mit uns? Vielleicht träumen wir das alles, glaubst Du das?«
»Ja«, sagte Eugen. »Ich glaube, daß wir es träumen. Aber ich wünschte, wir würden erweckt.« Er schwieg. Er saß am Bettrand über seinen dürren, nackten Leib gebeugt. Er brütete vor sich hin. »Vielleicht«, sagte er langsam, »gibt es nichts, gibt es niemanden, zum Erwecken.«
»Zur Hölle mit dem ganzen Kram«, sagte Ben. »Ich wollt', es wär rum!«
Eugen kehrte nach Pulpit Hill zurück, fiebernd vor Kriegsbegeisterung. Die Universität war in einen Truppenübungsplatz verwandelt. Taugliche junge Männer über achtzehn wurden zu Offiziersausbildungskursen zugelassen. Aber er war noch nicht achtzehn. Sein achtzehnter Geburtstag war erst in vierzehn Tagen. Vergebens flehte er die Musterungskommission um Toleranz an. Was machten die zwei Wochen aus? Könnte er eintreten, sobald sein Geburtstag war? Nein, das könnte er nicht. Was könnte er denn tun? Sie sagten ihm, er solle auf die nächste Einziehung warten. Wie lange würde das dauern? Zwei Monate, höchstens drei, dann ganz sicher. Die Hoffnung lebte wieder auf. Er brannte vor Ungeduld. Alles war noch nicht verloren.
Zu Weihnachten, wenn alles glückte, würde er in Khaki stecken. Und im Frühling, wenn Gott gnädig war, konnte er all der stolzen Vorrechte teilhaft werden, als da sind: Kleiderläuse, Grabendreck. Senfgas, verspritztes Hirn, zerfetzte Lunge, zerrißnes Eingeweide und Wundbrand. Über den Rand der Erde hin hörte er den glorreichen Tritt, der Marschbataillone, den wilden, süßen Klang der Hörner. Mildlächelnd vor zartsinniger Selbstliebe sah er sich schneidig die Adlerabzeichen eines Obersten auf den Achselstücken tragen. Er sah sich als den Kampfflieger Gant, den Falken des Himmels, der mit seinen neunzehn Jahren schon 63 Hunnen abgeschossen hatte. Er sah sich die Champs Elysées hinaufspazieren, die Schläfen hübsch angegraut, der linke Arm eine Prothese aus feinstem Kork, und die verführerische Witwe eines Maréchal de France ging ihm zur Seite. Zum erstenmal lernte er den romantischen Reiz des Verstümmeltseins so richtig schätzen. Die unverwundbaren Helden seiner Kindheit kamen ihm nun albern vor – gerade gut genug zur Bildreklame für Zahnpasten und Modellkragen. Er sehnte sich nach jener köstlichen Auszeichnung, nach jenem Glanz des Gelebt- und Gelittenhabens, der nur durch ein Holzbein oder eine rekonstruierte Nase oder eine Kugelnarbe an der Schläfe erreicht werden kann.
Derweilen aß er wie ein Drescher und trank gallonenweis Wasser, um an Körpergewicht zuzunehmen. Er wog sich täglich zehn- bis zwölfmal. Er bemühte sich sogar, regelmäßig Leibesübungen zu machen, Armschwingen, Rumpfbeugen und so weiter.
Und er sprach über seine Probleme mit den Professoren. Allen Ernstes rang er mit seiner Seele, allen Ernstes drückte er sich in den befeuernden Schlagworten des Kreuzzugs aus. Die Professoren fragten, ob denn nicht im Augenblick sein Platz hier wäre. Ob ihn sein Gewissen so unbedingt triebe, daß er einfach kämpfen müsse. Ja, dann würden sie es allerdings verstehn. Ob er aber auch die weiteren Belange im Auge habe.
»Ist nicht hier«, sagte der Dekan der Fakultät überrednerisch, »Ihr Grabenabschnitt? Ist nicht hier auf dem Kampus Ihre vorderste Kampfstellung? Ist es nicht hier, daß Sie in Angriffsbereitschaft stehn? Ach, ich weiß es von mir selbst«, bemerkte er mit dem Lächeln des stillen Schmerzes, »es wäre leichter ins Feld zu ziehn. Ich habe diesen Widerstreit der Pflichten durchgekämpft. Wir sind jetzt alle unter Waffen. Wir sind mobilgemacht für die Wahrheit. Und jeder muß sein Bißchen tun, und zwar dort, wo er die gerechte Sache am besten fördern kann.«
»Ja«, sägte Eugen mit bleicher, gequälter Miene, »ich weiß, ich weiß. Aber oh, Herr Professor, wenn ich an diese mörderischen Bestien denke, wenn ich mir vergegenwärtige, wie sie alles bedroht haben, was uns heilig und teuer ist, wenn ich an das arme, geschändete Belgien denke, und dann an meine eigne Mutter, an meine eigne Schwester …« Er wandte sich ab, die Fäuste geballt, wahnsinnig in sich selbst verliebt.
»Ja, ja«, sagte der Dekan liebenswürdig, »für Jungen mit einem solchen Geist ist es nicht leicht.«
»Oh, es ist schwer!« rief Eugen leidenschaftlich aus, »ich kann nur sagen, es ist furchtbar schwer.«
»Wir müssen durchhalten«, sagte der Dekan ruhig. »Wir müssen uns in Geduld erhärten, uns im Feuer bewähren. Die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel.«
Tiefbewegt standen sie ein Weilchen nebeneinander, aufgeplustert in der strahlenden Schönheit ihrer Heldenherzen.
Eugen war Redakteur der Universitätszeitung. Da aber der verantwortliche Herausgeber eingezogen war, fiel ihm die ganze Publikationsarbeit zu. Alles war bei den Soldaten. Mit Ausnahme von ein paar Dutzend Freshmen, frech wie Ratten, ein paar Vaterlandskrüppeln und ihm selber – schien es – war jedermann Soldat. All seine Kommilitonen aus der Bruderschaft, all seine Kurskameraden, soweit sie noch nicht schon vorher eingezogen worden waren, und viele junge Männer, die früher nie daran dachten, auf die Universität zu gehn, waren Soldat. Pap Reinhart, George Graves, Julius Arthur, die kurze, irgendwie erfolglose Karrieren auf andern Hochschulen hinter sich hatten, und eine Schar junger Altamonter, die in ihrem Leben keinen Kampus gesehn hatten, waren nun in die Studentenarmee eingetreten.
Während der ersten Tage, als infolge der Betriebsumstellung alles drunter und drüber ging, war Eugen viel mit diesen Studenten-Soldaten zusammen. Dann, als das Räderwerk der Drillmaschine wie geschmiert ging und die ganze Universität in eine Kaserne verwandelt war, stand er auf einmal einsam und vereinzelt da.
Er hielt durch. Er trug die Fackel. Er tat sein Bißchen. Er war Herausgeber, Berichterstatter, Kritiker und Faktotum an der Zeitung. Er schrieb die Nachrichten. Er schrieb die Leitartikel. Er schleuderte Flammenblitze. Seine Worte zündeten. Er predigte den Kreuzzug. Er war besessen vom Mordgeist.
Er ging und kam, wann es ihm paßte. Wenn die Baracken nachts im Dunkel lagen, schlenderte er auf dem Kampus herum, geringschätzig lachend, wenn die Wachen ihn mit ihren Taschenlaternen stellten und »Entschuldigung« murmelten. Er wohnte im Dorf, zusammen mit dem hühnerbrüstigen, hohlwangigen Heston, einem langen Kadaver von einem Mediziner. Drei- oder viermal die Woche fuhr er nach Exeter, wo er in der kleinen Druckerei den guten, warmen Geruch von Stahl und Druckerschwärze eintrank. Später bummelte er herum, aß zu Nacht im griechischen Restaurant, flirtete ein bißchen und nahm um zehn Uhr, wenn die Kleinstadt bereits im tiefen, totenähnlichen Schlaf lag, das letzte Verbindungsauto durch die verdunkelte Gegend nach Pulpit Hill. Er saß neben dem Chauffeur Soak Young, einem versoffnen, alten Walroß, der wie der Teufel fuhr.
Der Oktober kam kalt und regnerisch. Es roch nach aufgeweichter Erde und vermoderndem Laub. Trübselig, traurig, unaufhörlich tropfte es von den Bäumen. Sein achtzehnter Geburtstag kam: bebend vor Spannung dachte er an die nächste Musterung.
Er bekam zwei Briefe zum Wiegenfest: einen matten, kranken von seinem Vater und einen seitenlangen von Eliza, sachlich, praktisch, stumpf, in ihrer typischen Ausdrucksart, die immer den Nagel auf den Kopf traf. So:
»… Daisy war hier mit ihrem ganzen Stamm. Reiste vorgestern