Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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die bekümmerte Eliza, »es gefällt mir nicht, daß Du so sprichst.«

      »Nun, dann werde ich anders sprechen«, erklärte Eugen. »Ich hatte den Einwand erwartet. Wir hören nicht gern, was wir bereits wissen. Und wir nennen die Dinge nicht gern beim Namen, obschon wir willig genug sind, einander mit bösen Namen zu belegen. Wir nennen Gemeinheit Edelmut, und Haß nennen wir Ehre. Die Methode, Dich zum Helden zu machen, besteht darin, daß Du mich als Schuft anprangerst Natürlich gestehst Du das nicht ein, aber es ist trotzdem so. Also, Lukas, reden wir nicht von den Weibern, den weißen und den schwarzen, die Du kennst oder nicht kennst, denn das verschafft Dir Unbehagen. Statt dessen darfst Du fortfahren, Gott den Allmächtigen zu spielen, und ich werde Deine Ratschläge anhören wie ein kleiner Bub im Kindergottesdienst. Aber offengestanden, ich ziehe es vor, die zehn Gebote zu lesen, wo alles viel kürzer und besser steht.«

      »Sohn«, sagte Eliza mit der Miene der Altbetrübten, die ihre Hoffnungen gescheitert sieht, »Sohn«, sagte sie, »wir sollen versuchen, miteinander auszukommen.«

      »Nein«, sagte Eugen. »Allein. Wir sollen versuchen allein auszukommen. Allein zu stehn. Allein. Allein. Ich habe hier siebzehn Jahre Lehrzeit durchgemacht, aber nun geht sie zu Ende. Ich weiß nun, daß ich fliehen werde. Ich weiß, daß ich keines großen Verbrechens schuldig bin, und ich habe keine Angst mehr vor Dir.«

      »Aber Junge!« sagte Eliza, »wir haben alles für Dich getan, was in unsrer Macht stand. Welches Verbrechen sollen wir Dir denn zur Last gelegt haben?«

      »Daß ich Eure Luft atme, Euer Essen esse, unter Eurem Dach wohne, daß ich Dein Leben und Dem Blut in meinen Adern habe, und daß ich Eure Opfer und Eure Entbehrungen annehme und für das alles nicht dankbar bin.«

      »Wir sollten uns für alles erkenntlich zeigen«, erklärte Lukas einsichtsvoll. »Mancher junge Kerl gäbe ein Auge dafür, wenn ihm die Gelegenheit geboten würde, die Dir geboten wird.»

      »Mir ist nichts geboten worden«, erklärte Eugen heiser vor Leidenschaft. »Nichts! Ich will nicht länger wie ein Gebeugter in diesem Haus herumlaufen. Die Gelegenheiten, die mir zuteil geworden sind, habe ich mir selbst geschaffen. Allein, ganz ohne Euch, ja, sogar gegen Euren Widerstand. Ihr habt mich auf die Universität geschickt, als Euch einfach nichts anders übrig blieb, denn die Leute hier im Städtchen hätten es für eine himmelschreiende Schande gehalten, wenn Ihr es nicht getan hättet. Ihr habt mich geschickt, nachdem mich die Leonards drei Jahre lang wie Marktschreier gepriesen hatten, und dann noch habt Ihr mich ein Jahr zu früh geschickt – ehe ich sechzehn Jahr alt war –, und zwar mit einer Schachtel belegter Brote, zwei Anzügen und der Anweisung, ein braver Bub zu sein.«

      »Einiges Geld hast Du auch gekriegt«, sagte Lukas. »Vergiß das nicht.«

      »Wenn es mir entfallen wäre, dann wäre ich wahrhaftig der einzige in der Familie, der es je vergessen hätte«, antwortete Eugen. »Denn das Geld steckt ja hinter allem, nicht wahr? Mein Verbrechen neulich abends war nicht, daß ich betrunken war, sondern daß ich betrunken war, ohne eignes Geld dafür zu haben. Falls ich von eigenem Geld studierte und nichts taugte, dann würdet Ihr nicht aufzumucken wagen – nachdem ich aber von Euerm Geld auf die Universität geh und was leiste, müßt Ihr mir dauernd Euere Güte und meine Nichtswürdigkeit vorhalten.«

      »Aber Sohn«, versuchte Eliza diplomatisch einzulenken, »kein Mensch hat doch ein Wort über Deine Leistungen auf der Universität gesagt. Wir sind sehr stolz auf Dich!«

      »Stolz braucht Ihr nicht zu sein«, sagte er mürrisch. »Ich hab 'ne Menge Zeit vertrödelt und einiges Geld vergeudet. Aber ich hab was dafür gehabt, und zwar mehr als die meisten dafür haben. Ich habe für meinen Lohn soviel Arbeit geleistet, als Ihr verdient. Ich habe Euch einen anständigen Gegenwert für Euer Geld geliefert. Ich danke Euch für nichts.«

      »Was war das? Was war das?« fragte Eliza scharf.

      »Ich sagte, daß ich Euch für nichts danke, aber ich nehme es zurück.«

      »Das klingt besser«, sagte Lukas.

      »Ja, ich habe für sehr vieles zu danken«, sagte Eugen. »Ich sage Dank für jedes schmutzige Gelüst und jeden dreckigen Hunger, der ins verseuchte Blut meiner edlen Vorfahren kroch. Ich sage Dank für alle skrofulösen Zeichen, die mich je befallen können. Ich sage Dank für die Liebe und die Barmherzigkeit, die mich am Tage vor meiner Geburt überm Waschzuber knetete. Ich sage Dank für die Bauernschlampe, die meine Pflegerin war und den schmutzigen Verband über meinem Nabel schwären ließ. Ich sage Dank für jeden Puff und Fluch, den ich in meiner Kindheit von Euch empfing, für jede muffige Zelle, die mir als Schlafkammer angewiesen wurde, für die zehn Millionen Stunden Grausamkeit und Gleichgültigkeit und für die dreißig Minuten billiger Ratschläge.«

      »Unnatürlicher!« zischte Eliza. »Unnatürlicher Sohn! Du wirst bestraft werden, so wahr ein Gott im Himmel ist.«

      »Oh, dort ist einer, sicher ist einer dort«, rief Eugen. »Denn ich bin ja schon gestraft worden. Bei Gott! Ich werde den Rest meiner Tage brauchen, um mein Herz wiederzufinden, um die Wunden auszuheilen und die Narben zu verschmerzen, die mir zugefügt wurden, als ich ein Kind war. Das erste, was ich tat, als ich aus der Wiege kam, war, daß ich nach der Tür krabbelte, und alles was ich seitdem getan habe, war ein Versuch zu entfliehn. Und nun schließlich bin ich von Euch allen frei, auch wenn Ihr mich noch ein paar Jahre festhalten könnt, und sofern ich nicht frei bin, so bin ich doch wenigstens in meinen eignen Kerker gesperrt. Aber ich werde es schaffen, daß Schönheit und Ordnung in mein wirres Leben kommt. Ich werde einen Weg ins Draußen finden, selbst wenn es mich zwanzig Jahre kostet – und zwar allein.«

      »Allein?« fragte Eliza mit dem alten Argwohn. »Wohin willst Du denn gehn?«

      »Ach!« sagte er. »Du hast nicht aufgepaßt, nicht wahr? Ich bin schon gegangen.«

      XXXIII

      Während der paar Ferientage, die noch blieben, hielt sich Eugen fast ganz dem Haus fern, erschien nur für kurze, brummige Mahlzeiten und spät abends zum Schlafengehn. Er wartete auf seine Abreise wie ein Sträfling auf seine Entlassung. Die gefühlsseligen Vorspiegelungen – nasse Bahnsteigaugen und plötzliche, hektische Wärmeausstrahlungen beim Schrillen der Lokomotivsirene – rührten ihn diesmal nicht. Er hatte herausgefunden, daß die Tränendrüsen nicht viel anders als die Schweißdrüsen der Haut auf gewisse Reizungen reagieren und schon beim bloßen Anblick eines Eisenbahnzugs leicht zu einer salzigen Absonderung bewegt werden können. So hatte er die etwas kühle Haltung eines Weltmanns, der beim Antritt einer kleinen Wochenendreise gelassen unter der lautlärmenden Menge auf ein Fährboot wartet

      Er machte jenes Wort wahr, mit dem er seine Lage als Student erklärt hatte: als die eines Angestellten, der für den ausgeworfnen Lohn die entsprechende Gegenleistung bietet. Diese Auffassung bestimmte und bestätigte sein Verhalten und schützte ihn einigermaßen vor seiner eignen Sentimentalität. In jenem Frühjahr tat er sein Erstaunlichstes und beteiligte sich an allen möglichen studentischen Veranstaltungen und Unternehmungen, jede Auszeichnung teilte er gewissenhaft seiner Familie mit. Mehr als einmal kam sein Name in die Altamonter Zeitungen. Gant hob die Ausschnitte auf; stolz las er sie vor, sooft sich eine Gelegenheit bot.

      Eugen bekam zwei kurze, unbeholfne Briefe von Ben, der nun in jener Tabakstadt, 150 Kilometer von Pulpit Hill entfernt, seine Stelle angetreten hatte. Zu Ostern fuhr Eugen hin zu Besuch; er wohnte bei Ben auf der Bude. Das nie irrende Geschick hatte den Stillen wiederum in die offnen Arme einer grauhaarigen Witwe geführt. Sie war noch nicht fünfzig, ein hübsches, albernes Weibsbild. Wie mit einem angebeteten Kind trieb sie allerlei Kurzweil und Schabernack mit Ben. Sie nannte ihn gahlernd ihren »alten Lockenkopf«, worauf er sein gewohntes: »Ach Du mein Gott! Nun hör Dir das an, bitte!« zu seinem Schöpfer emporzuschicken pflegte. Sie war in eine närrisch-kindische Verspieltheit zurückgefallen; manchmal ging sie ganz plötzlich auf den »alten Lockenkopf« los, gickste ihn mit steifen Fingern in die Rippen, schlüpfte hurtig hinweg und rief triumphierend aus: »Hah! Diesmal hab ich Dich aber erwischt!« In jener Stadt roch es stets und ständig nach rohem Tabak. Es stach einem beißend-beizig in die Nase. Den Fremden, der von der Bahn kam, warf es fast um. Die Ortsbürger aber sagten: »Nein, nein, es riecht überhaupt nicht.« Und nach einem Tag merkte der Fremde nichts mehr