Eugen arbeitete einen Monat lang auf dem Flugfeld.
Schließlich hungerte ihn wieder nach Schiffen und Gesichtern. Er gab seine Arbeit auf und lebte von seinem Lohn eine Woche in Saus und Braus in Norfolk und an den Badestränden Virginiens. Fast wieder ohne einen Pfennig, das wilde Kaleidoskop von tausend Straßen und Millionen Lichtern, die grelle Verwirrung und den gellenden Lärm des Karnevals im Kopf, kehrte er auf der Suche nach Arbeit nach Newport News zurück. Er war in Begleitung eines andern Burschen aus Altamont, den er an einem Badestrand aufgelesen hatte. Dieser junge Mann, der ebenfalls das Sparen nicht gelernt hatte und als Kriegsarbeiter abenteuerte, hieß Sinker Jordan und war drei Jahre älter als Eugen. Er war ein hübscher, verwegner Bursch, klein von Gestalt; er hinkte infolge eines Beinschadens, den er als Junge bei einem Fußballspiel davongetragen hatte. Von Charakter war er schwach und flatterhaft; er haßte jede Anstrengung; Ausdauer bewies er nur, wenn es galt, sein Pech zu verfluchen.
Die beiden Jungen hatten zusammen ein paar Dollars. Sie machten gemeinsame Kasse und kauften sich, wildoptimistisch, bei einem Pfandverleiher die nötigsten Zimmermannswerkzeuge: Hammer, Handsäge und T-förmige Reißwinkel. Sie reisten fünfzehn oder zwanzig Kilometer landeinwärts nach einem traurigen Regierungscamp unter den Föhren Virginiens, das vor Hitze fast verging. Sie wurden zurückgewiesen und kehrten niedergeschlagen und finster nach der Stadt zurück, die sie morgens so hoffnungsfroh und heiter verlassen hatten. Noch ehe die Sonne unterging, hatten sie sich Arbeit auf den Shipbuildingyards beschafft, aber drei Minuten nachdem sie sich zur Einstellung gemeldet hatten, waren sie auch schon wieder entlassen. Sie mußten nämlich in einer Werkstatt voller Hobelspäne und stillsurrenden Treibriemen dem schmunzelnden Werkmeister gestehn, daß sie von der höchstspezialisierten Zimmermannsarbeit beim Schiffsbau keinen blauen Dunst hatten. Sie hätten ruhig hinzufügen können, daß sie von anderer Zimmermannsarbeit ebensowenig wußten.
Nun hatten sie keinen Pfennig mehr. Als sie wieder auf der Straße waren, schmiß Sinker Jordan die fatalen Werkzeuge auf das Pflaster und fluchte wüst über die törichte Anschaffung, die sie nun zum Hungerleiden verdammte. Eugen hob die Werkzeuge auf und brachte sie zu dem unentwegten jüdischen Onkel, der sie ihm wieder abnahm. Er gab ihm nur ein paar Dollar weniger dafür, als sie ihm am Morgen dafür bezahlt hatten.
Eugen stand in aller Herrgottsfrüh auf; nach vergeblichen Versuchen, den üppig schlafenden Sinker zu wecken, lief er in der Grelle bei den Lagerschuppen und Ladedocks herum, dort, wo die Munition nach Frankreich verstaut und abtransportiert wurde. Nachdem er den ganzen Morgen gesucht hatte, fand er schließlich für sich und Sinker Arbeit. Der sie ihm gab, war der Oberlademeister Mister Finch, ein geschwollner, kleinlicher Tyrann. Mister Finch war ein nervöser, häßlicher Mann mit großen, groben Kiefern, um die die gespannten Muskeln ständig zuckten; er hatte stechende Augen und trug eine Brille.
Eugen wurde eingestellt als »Checker«, d. h. Kontrolleur. Er mußte die Transporte und Ladearbeiten überwachen, die von den »Stevedores«, d. h. den Stauern, ausgeführt wurden, und darüber das »Tally«, d. h. die Kontrolliste, führen. Die Stevedores waren Neger.
Am nächsten Morgen um sieben ging er an die Arbeit. Sinker erschien erst zwei Tage später, nachdem sein letztes Kleingeld verzehrt war. Eugen schraubte seinen Stolz herunter und lieh sich ein paar Dollars von einem der anderen Checkers. Davon lebten er und Sinker kärglich bis zur nächsten Lohnauszahlung, die schon nach ein paar Tagen war. Das Geld, das sie bekamen, schlüpfte schnell durch ihre achtlosen Finger. Bald hatten sie nur noch ein paar Münzen, und der nächste Zahltag war erst in zwei Wochen. Sinker würfelte mit den Checkers hinter der großen Festung aus Hafersäcken auf dem Pier, verlor, gewann, stand ohne einen Cent auf und verfluchte Gott. Eugen kniete neben den Checkers, den letzten halben Dollar auf dem Handteller, ohne auf Sinkers bittern Vorwurf zu hören. Er hatte noch nie Würfel geworfen, und natürlich gewann er. Acht Dollar und fünfzig Cent. Er erhob sich hochgemut von den erstaunten Spielratzen und lud Sinker zum Dinner im besten Hotel ein.
Zwei Tage später ging er wieder hinter die Burg aus Hafersäcken; spielte um seinen letzten Dollar und verlor.
Er fing an, Hunger zu leiden, einen trübseligen Tag nach dem andern. Die grelle Sonne brannte auf die Ladedämme, es war unmenschlich heiß. Schiffe und Güterzüge liefen aus und ein; Munition und Fourage für die Soldaten. Die Luft staubte. Er machte lange »Tallies«, wenn die Stevedores mit ihren Ladekarren an ihm vorüberschwärmten. Sinker Jordan bettelte und erborgte kleine Summen von den andern Checkers und lebte von Mineralwasser und Käse aus dem kleinen Kramladen gegenüber der Ladestation. Eugen konnte nicht betteln und borgen gehn. Teilweise war es Stolz, mehr aber noch hemmte ihn die mächtig brütende Untathaftigkeit seines Temperaments, die zusehends die Herrschaft über seinen Willen zum Handeln gewann. Er konnte einfach nicht davon sprechen. Jeden Tag nahm er sich vor: »Heute werde ich zu einem von ihnen davon reden. Ich werde sagen, daß ich essen muß und kein Geld habe.« Aber als er es versuchte, konnte er einfach nicht davon sprechen.
Da sie tüchtig arbeiteten und mehr Arbeit zu bewältigen war, mußten sie nachts Überstunden machen. Diese Überstunden wurden fünfzig Prozent besser bezahlt als die Tagesarbeit. Eugen hätte sich sonst gern das Geld verdient, aber nun, taumelnd vor Erschöpfung, war ihm der Ruf zur Arbeit entsetzlich. Mehrere Tage schon war er nicht mehr nach der finstren Bude heimgegangen, in der er mit Sinker Jordan zusammen hauste. Nach Feierabend suchte er sich eine Oase in der Riesenburg aus Hafersäcken und schlief den Schlaf des Erschöpften. Das Rattern der Krane und Winden, das Rumpeln der Karren, das Sirenentuten ferner Dampfer, die oben am Strom verankert waren, klangen wie eine verworrne Symphonie in seinen Ohren.
Er lag da, und die Welt verdämmerte in seinem Bewußtsein. Und der Krieg erreichte seinen leidenschaftlichsten, blutigsten Höhepunkt in diesem furchtbaren Monat. Er lag da wie ein Gespenst seiner selbst und dachte mit Schmerz und Kummer an all die Millionen Städte und Gesichter, die er nicht gekannt hatte. Er war das Atom, um das sich alles frühere Leben gedreht hatte, Cäsar war für ihn gestorben und ein namenloses Weib in Babylon, und irgendwo hier, auf diesem wunderbaren, sterbenden Fleisch, auf diesem Myriadenhirn ruhte die Spur ihres Geistes.
Und er dachte an die fremden, verlornen Gesichter, die er gebannt hatte, an die einsamen Gestalten seiner Angehörigen, jede ans Chaos verdammt, jede mit Ketten an ein Schicksal von Verlust und Untergang geschmiedet: – Gant, ein gefallner Titan, auf unendliche Sichten Vergangenheit zurückstarrend, gleichgültig gegen die Welt, die ihn umgab, – Eliza, wie eine Ameise mit Vermögenszuwachs beschäftigt. – Helene, kinderlos, weglos, eine große Woge, die sich an wüstem Felsenstrand bricht, – und schließlich an Ben, das Gespenst, den Fremdling, der in diesem Augenblick in einer andern Stadt umherschlich, die tausend Gassen des Lebens auf- und abging und keine Türen fand.
Am nächsten Tag auf dem Pier wurde es Eugen schwächer und schwächer in den Knochen. Er saß spreizbeinig auf einem Thron aus gerundeten Hafersäcken, es schwamm ihm vor den Augen, als er das Einladen der Säcke überwachte und das Tally mit zitternden Zeichen auf das große Blatt schrieb. Er bewegte jedes Glied mit äußerster Vorsicht, er hob es auf und legte es an seinen Platz zurück, als wäre es ein völlig von ihm getrennter Gegenstand.
Als Feierabend war, wurden sie zur Nachtarbeit bestellt. Eugen, taumelig vor Schwäche, hörte die weithin schallende Stimme des Oberlademeisters.
Die Stunde des Nachtessens fiel auf dem Pier wie eine plötzliche Stille. Es kamen, matter werdend, Geräusche aus den Lagerschuppen. Eugen hörte die trampelnden Tritte der Arbeiter am Ausgang, das Schwappen des Wassers an einen großen Schiffsrumpf, ein paar Laute von der Brücke.
Er kletterte auf die Burg aus Hafersäcken, bis er die höchste Zinne erreicht hatte. Die Welt verebbte aus seinem schwindenden Bewußtsein. Nachher, wenn ich mich ausgeruht habe, werde ich runterklettern und wieder arbeiten. Es ist ein heißer Tag gewesen. Ich bin müd.
Als er versuchte, die Glieder zu bewegen, konnte er es nicht mehr. Sein Wille war geknebelt, er war hilflos wie ein Mensch im Käfig, er kämpfte vergebens gegen sein bleiernes Fleisch. Er dachte nach, ruhig und klar dachte er nach, erleichtert und still erfreut: