Von der Blechmusik mehrerer Kapellen geleitet, rückte man auf dem fremdartigen Begräbnisort ein. Alle Grabsteine lagen flach auf den Gräbern, ein Zeichen dafür, sagte man, daß der Tod alle Unterschiede ausgliche. Aber als die Hörner, Posaunen und Trompeten losschmetterten, drängte sich Eugen die alte Phantasie von den leichenzehrenden Gespenstern auf: die weißen, ernsten Grabplatten erschienen ihm wie die Tischtücher, auf denen die Guhlen speisen; er kam sich vor, als nähme er an einem obszönen Gastmahl teil. Der Frühling war wiedergekommen; auf der Erde lag hellfunkelndes Wassergesprüh, die Toten waren dabei, als Blumen und Blüten wiederzukehren. Ben ging durch die Straßen der Tabakstadt und sah wie eine Asphodele aus; – seltsam, ein Gespenst an diesem Ort zu finden! –; seine alte Seele schlich verdrossen an den billigen Backsteinbauten und den frischgetünchten Fassaden vorüber.
Der Stadtplatz lag hoch; in der Mitte stand das Amtsgericht; Autos waren in dichten Reihen geparkt; junge Männer lungerten in den Drogerien.
Wie wirklich das alles ist, dachte Eugen, ganz wie etwas, das wir immer kannten und nicht mehr anzusehn brauchen. Die Stadt würde dem Thomas von Aquino nicht seltsam vorgekommen sein, … wohl aber der Thomas von Aquino der Stadt.
Ben schlich einher, grüßte die Kaufleute mit ernsthaft gerunzelter Stirn, unterhielt sich mit ihnen über die Ladentheken: – ein Phantom, das unter praktischen Rundschädeln mit stiller, eintöniger Stimme um Anzeigen warb.
»Das ist mein kleiner Bruder, Mister Fulton!«
»Hallo, Sohn! Donnerkiesel, Ben, dahinten bei Euch im Gebirg scheinen aber die Langen zu wachsen. Na also, junger Mann, wenn Sie so sind wie der Ben da, dann werden wir hier Ihnen nicht auf die Hühneraugen treten. Wir halten mordsmäßig viel von ihm.«
Das kommt mir vor, als hielte man mordsmäßig viel von Baidur droben in Connecticut, dachte Eugen.
Ben lag im Bett, die Ellenbogen aufgestützt, rauchte.
»Ich bin erst drei Monate hier«, sagte er, »aber ich kenne schon all die führenden Geschäftsleute. Ich bin gern gesehen.« Er streifte den Bruder mit einem schnellen Blick, grinste; sein seltnes Eingeständnis hatte den Reiz der Schüchternheit. Aber seine Augen brannten wild vor Einsamkeit und Verzweiflung. Sehnte er sich ins Gebirg? Hatte er – Heimweh? Er rauchte.
»Da siehst Du's. Die Menschen denken gut von einem, sobald man von seinen Angehörigen weg ist. Zu Haus hat man keine Gelegenheit, Eugen. Sie machen einem das Leben unmöglich. Um Gottes willen, geh fort von zu Haus, wenn Du irgend kannst … Was ist denn los mit Dir, warum stierst Du mich so an?« fragte er scharf, als er merkte, daß Eugen ihn unverwandt anstarrte. Einen Augenblick später fuhr er fort: »Sie verderben einem alles.« Und dann unvermittelt: »Kannst Du das Mädchen denn nicht vergessen?«
»Nein«, sagte Eugen. Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Sie hat mich den ganzen Frühling heimgesucht.«
Er verrenkte den Hals mit einem wilden Schrei.
Mit dem Frühling nahm das Gesumm vom Krieg zu. Die älteren Studenten verschwanden und rückten stillschweigend ein; die jüngeren warteten gespannt auf den Tag. Ihnen brachte der Krieg keine Sorgen; er war ein Festzug, der sie – sie spürten es –, augenblicklich ins Licht des Ruhms heben konnte. Das Land floß von Milch und Honig. Sonderbare Gerüchte liefen um von einem Eldorado im Norden, im Industriegebiet an der Küste Virginiens. Ein paar von den Studenten hatten im letzten Jahre in den Sommermonaten dort gearbeitet. Sie erzählten von fürstlichen Löhnen; ein ungelernter Arbeiter konnte am Tag zwölf Dollar verdienen; man würde als Zimmermann eingestellt, wenn man mit Hammer, Säge und Reißwinkel ankam; niemand frage einen was.
Krieg heißt für junge Männer nicht Tod; er heißt Leben. Nie war die Erde so bunt wie in diesem Jahr. Der Krieg schien Erzgruben zu erschließen, von denen die Nation zuvor nichts geahnt hatte; Reichtum und Macht entfalteten sich maßlos, richteten sich unerhört auf. Und dieser imperiale Wohlstand, diese Schaustellung der Macht durch Menschen und Geld wandelte Eugen auf irgendeine Weise an wie lyrische Musik: Reichtum, Liebe und Ruhm machten ein symphonisches Geräusch; das Zeitalter der Mythen und Mirakel schien wiedergekommen; alles war möglich.
Er fuhr heim am Ende des Studienjahrs, gespannt wie eine Bogensehne. Er verkündete, daß er nach Virginien gehen wolle. Sie erhoben Einspruch, aber nicht laut genug, um ihn zurückzuhalten. Elizas Gedanken waren vollauf mit Bodenspekulationen und dem Sommerbetrieb der Pension beschäftigt. Gant starrte in die Finsternis. Helene lachte und schalt ihn; dann verstummte sie plötzlich und petzte sich geistesabwesend am Kinn:
»Kannst Du denn nicht ohne sie auskommen? Mich kannst Du nämlich nicht beschummeln, nein, Lieberchen, das bringst Du nicht fertig. Ich weiß ganz genau, warum es Dich dorthin zieht«, erklärte sie spaßend. »Sie ist 'ne verheiratete Frau jetzt, hat womöglich schon ein Baby; Du hast kein Recht, ihr nachzulaufen.«
Dann erklärte sie unvermittelt:
»Also laßt ihn ziehn, wenn er durchaus will! Mir kommt der Plan albern vor, er wird es schon selber herausfinden.«
Sein Vater gab ihm 25 Dollar. Das reichte für die Fahrkarte nach Norfolk und ließ ihm noch ein bißchen Geld übrig.
»Hör auf mich!« sagte Gant. »Du wirst in einer Woche wiederkommen. Diese Reise ist ein törichtes Abenteuer ins Blaue, weiter nichts.«
Eugen fuhr.
Er fuhr die ganze Nacht hindurch. Ihr entgegen. Er lag, die Arme aufgestützt, im Pullmanbett und starrte wie verhext auf die mondhelle, weite, romantische Landschaft mit ihren träumenden Wäldern hinaus.
Früh am Morgen kam er nach Richmond; er mußte umsteigen; hatte Zeit zwischen den Zügen. Er verließ den Bahnhof, ging den Hügel hinauf und sah das schöne, alte State House im jungen, reinen Frühlicht liegen. Er trank Kaffee in einem kleinen Restaurant in der Broad Street, zusammen mit jungen Männern, die an ihre Arbeit gingen. Der kurze, gelegentliche Kontakt mit ihrem Leben, gerade nun, nachdem er einsam und großartig durch die Nacht angekommen war, bezauberte ihn. Der Reiz des Alltäglich-Zufälligen erschloß sich. Die kleinen, tickenden Laute der erwachenden Stadt hörten sich seltsam an nach dem Geräusch des Schienendonners. Die Menschenstimmen an diesem fremden Ort schienen so seltsam vertraut. Die Stadt hatte eine magische Unwirklichkeit für ihn; sie hatte kein Dasein, außer dem, das er ihr verlieh; er fragte sich, wie sie bestanden habe, ehe er ankam, wie sie nach seiner Weiterreise bestehn würde. Er sah alle Menschen an, er verzehrte sie mit seinen Augen, die noch von den weiten Mondlichtmatten der Nacht, der kühlen, grünen Offenheit der Morgenlandschaft erfüllt waren. Die Menschen erschienen ihm wie merkwürdige Wesen in den Schaukäfigen zoologischer Gärten; er starrte sie an, um Spuren ihrer Stadt an ihnen zu entdecken, um an ihren Gliedern und Gesichtern den Ausdruck des besondren, eignen Kosmos zu erkennen. Und der große Hunger nach Reisen stieg in ihm auf: Oh, immer so wie jetzt in der Tagesfrühe in fremde Städte kommen, umherstreifen und unter den Leuten sitzen wie ein Unbekannter, ja, wie ein Gott in der Verbannung, eine ungeheure Schau des Erdenrunds in sich tragend.
Der Barkellner gähnte und drehte raschelnd die Seiten einer Morgenzeitung um: das war sonderbar.
Wagen ratterten vorbei; Kaufleute ließen die zeltnen Schutzdächer vor ihren Läden herunter; er ging fort von ihnen, als ihr Tag begann.
Eine Stunde später fuhr er wieder. Hundertzwanzig Kilometer weiter lagen das Meer und Laura. Sie schlief, unwissend daß die ruhlosen Räder ihn zu ihr brachten. Er sah auf den wasserblauen Himmel mit den weißen Wölkchen, auf das Marschland mit den Föhrenwäldern hinaus. Er kam nach Newport News, bestieg das Schiff, das ihn über die Roads nach Norfolk brachte.
Das heiße Virginien kochte unter dem glutblauen Himmelsofen, Aber in den Roads schaukelten die Schiffe in der frischen Brise von Krieg und Ruhm.
Vier Tage lang blieb Eugen in der Siedehitze der Stadt Norfolk. Das Geld ging ihm aus in diesen vier Tagen, und es ängstigte ihn nicht. Seine Pulse gingen schneller, er empfand die kühne Wollust der Einsamkeit, er freute sich, wenn er an die