»Gib Du auf ihn acht«, sagte Julius. »Bring ihn in eine Torhalle, so daß ihn keins von seinen Angehörigen sieht. Ich hol das Auto.«
Van Yeats stemmte ihn vorsichtig gegen eine Mauer. Julius Arthur rannte schnell in die Church Street. Einen Augenblick später stoppte er sein Auto am Rinnstein. Eugen hatte eine übermächtige Neigung, sich achtlos an der nächstbesten Stütze anzuhalten. Er hängte sich mit den Armen auf die Schultern der beiden und brach zusammen. Sie zwängten ihn zwischen sich auf den Vordersitz. Irgendwo läuteten die Christglocken.
»Ding-dong!« sagte Eugen, sehr heiter. »Ding-dong! Weinnacht!«
Die beiden brüllten vor Lachen.
Das Haus war noch leer, als sie vorfuhren. Sie zwängten ihn aus dem Wagen und schleiften ihn über die Terrasse. Es tat ihm verdammt leid, daß ihr Zusammensein schon aufhören sollte.
»Wo ist Dein Zimmer, Eugen?« fragte Julius Arthur schwerschnaufend, als sie ihn in der Diele hatten.
»Das ist so gut wie ein andres«, sagte Van Yeats.
Die Tür zu dem Schlafraum vornheraus, gegenüber dem Speisezimmer, stand offen. Sie nahmen ihn hinein und legten ihn aufs Bett.
»Ziehn wir ihm die Schuh aus!« sagte Julius.
Er wollte ihnen sagen, sie möchten ihn ausziehn, ihn unter die Bettdecke stecken und die Tür zumachen, damit die Familie nichts merken solle, aber er hatte die Gewalt über seine Zunge verloren. Nachdem sie ihn eins Weile grinsend angesehn hatten, gingen sie hinaus, ohne die Tür zu schließen.
Er lag auf dem Bett, außerstand sich zu bewegen. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber sein Hirn arbeitete sehr klar. Er wußte, daß er aufstehn, die Tür zuriegeln und sich ausziehn solle … und war wie gelähmt.
Alsbald kamen die Gants heim. Nur Eliza war noch über Einkäufen bedächtig erwägend in der Stadt. Es war nach elf Uhr. Gant, seine Tochter und seine zwei Söhne kamen ins Zimmer und starrten ihn an. Als sie ihn anredeten, lallte er hilflos.
»Sprich doch! Sprich!« gellte Lukas, fiel über ihn her und rüttelte ihn so heftig, daß er fast erstickte. »Bist Du stumm, Idiot!«
Ich werde daran denken, dachte Eugen.
»Hast Du keinen Stolz? Hast Du keine Ehre? Ist es so weit mit Dir gekommen?« brüllte der entrüstete Seemann dramatisch los, während er im Zimmer auf und ab stolzierte.
Glaubt er vielleicht, er wäre ein Höllenkerl, oder was? dachte Eugen. Er konnte zwar keine Worte mehr bilden, aber er brachte Laute hervor, mit denen er den Tonfall der Moralpredigt nachäffte. »Tuh-tuh-tuh-tuh-tuh-tuh? Tuh-tuh-tuh-tuh-tuh-tuh-tuh?!« machte er. Er produzierte auf diese Art ein ulkiges, rhythmisch genaues Mimikry. Helene, die ihm gerade den Hemdkragen aufknöpfte, platzte lautlachend heraus. Ben grinste flüchtig unter der tief gefurchten Stirnrune.
Hast Du kein Dies? Hast Du kein Das? Hast Du kein Dies? Hast Du kein Das? … der Rhythmus lullte ihn. Bedaure sehr, gnädige Frau, unser Vorrat an Ehre ist heute ausgegangen, aber wir haben eine frische Sendung Selbstachtung, wirklich prima Ware, auf Lager.
»Hör auf!« knurrte Ben. »Es ist ja niemand gestorben.«
»Hol heißes Wasser, er muß das Zeug aus dem Magen kriegen«, ordnete Gant sachlich an. Er schien auf einmal nicht mehr alt. In seinem abgezehrten Schatten erwachte das Leben auf einen wunderbaren Augenblick, er strahlte vor Gesundheit und Tatkraft.
»Spar Dein Feuerwerk!« sagte Helene im Hinausgehn zu Lukas. »Und macht die Tür zu. Gebt acht, wenn sich's irgend machen läßt, daß Mama nichts merkt.«
Ein großer moralischer Anlaß das, dachte Eugen. Ihm wurde allmählich übel.
Helene kehrte mit einem dampfenden Wasserkessel und einer Sodaschachtel zurück. Mitleidslos flößte Gant seinem Sohn die Lösung ein, bis er erbrach. Als die Sache im besten Gang war, erschien Eliza. Er hob seinen Kopf von der Schüssel und sah ihr weißes Gesicht in der Tür, ihre matten braunen Augen, die immer so scharf funkelten, wenn etwas ihren Argwohn erweckte.
»Ei, ach, was ist?« fragte Eliza.
Natürlich wußte sie, was es war.
»Was sagt Ihr?« sagte Eliza, ehe noch jemand etwas gesagt hatte. Eugen grinste sie matt an. Trotz der Übelkeit und seines Kummers belustigte es ihn ungemein, daß sie sich in so putziger Weise dumm stellte. Alle lachten über sie, als sie wie immer in solchen Fällen blinde Unschuld sichtlich vortäuschend dastand.
»Ach Du lieber Herrgott! Da ist sie!« sagte Helene. »Wir hatten gehofft, Du würdest nicht heimkommen, bis die Sache vorüber wäre. Na, komm mal näher und sieh Dir Dein Baby an!« Sie stützte Eugens Kopf mit der Hand auf.
»Gehts besser jetzt, Sohn?« fragte Gant gütig.
»Ja, besser«, murmelte er, freudig überrascht, daß er die Sprache nicht auf immer verloren habe.
»Na also! Da siehst Du's!« erklärte Helene. »Das beweist doch, daß wir alle gleich sind in dieser Beziehung. Es steckt uns im Blut.«
»Dieser furchtbare Fluch!« klagte Eliza. »Ich hatte gehofft, daß wenigstens einer meiner Söhne davon verschont bliebe.« Sie brach in Tränen aus. »Das Gottesgericht ist über uns hereingebrochen! Die Sünden der Väter werden gerächt!«
»Um Himmels willen!« schrie Helene ärgerlich auf. »Hör auf! Er wird nicht dran sterben. Es wird ihm eine Lehre sein.«
Gant biß sich die dünnen Lippen. Er leckte seinen Daumen mit der großen, alten Gebärde.
»Du weißt doch, daß ich dran schuld bin«, sagte er. »Wenn sich eines von Euch ein Bein bricht, ist's auch mein Fehler.«
»Eines ist sicher«, sagte Eliza, »aus meiner Familie stammt diese Anlage nicht. Du kannst sagen, was Du willst, im Hause seines Großvaters, des alten Majors Pentland, wurde nicht ein Tropfen getrunken.«
»Verdamm den Major Pentland«, sagte Gant. »Wenn Du Dich auf ihn verlassen hättest, hättest Du Hunger gelitten.«
Ganz gewiß aber Durst, dachte Eugen.
»Vergiß drauf«, sagte Helene. »Es ist Weihnachten. Laßt uns einmal im Jahr in Frieden leben.«
Sie gingen hinaus. Eugen versuchte, sie sich in jene zuckersüße Versöhnungslaune eingelullt vorzustellen, die oft auf ähnliche Szenen folgte, jene zahme Stimmung, die verheerender für ihn war als wüster, offner Krach.
Alles in ihm und um ihn schwamm gräßlich im Finstern. Bald aber glitt er in die Grube eines gepeinigten Schlafs.
Die Familie war übereingekommen, ihm geflissentlich zu vergeben. Aufdringlich-vorsichtig, die Gemüter von Weihnachten und Barmherzigkeit erfüllt, beschwiegen sie seine Missetat. Ben betrachtete ihn mit ganz natürlichem Stirnrunzeln, Helene kitzelte ihn in die Rippen und grinste wie sonst; Eliza und Lukas gehabten sich hold, sorgsam und still vor ihm. Die ganze Verzeihlichkeit dröhnte ihm laut in den Ohren.
Im Lauf des Vormittags forderte ihn sein Vater zu einem Spaziergang auf. Gant war verlegen und kopfhängerisch; die Rolle des milden Ermahners, die Eliza und Helene ihm aufgebürdet hatten, bedrückte ihn offensichtlich sehr. Kein Zweiter tat es Gant gleich, wenn es galt, im großen Wauwaustil loszulegen, aber niemand war weniger als er geeignet, die Lebenspfade licht und leis mit Zartsinnsblüten zu bestreuen. Sein Zorn und seine Schmählust waren heftig, unmittelbar und jach, aber, aber für die Aufgabe, mit der er nun betraut worden war, hatte er keine Donnerkeile im Köcher. Er schätzte sie nicht, er kam sich mitschuldig vor, so wie ein Stadtrichter, der den Saufkumpan von gestern nacht heut früh wegen Trunkenheit zur Rechenschaft ziehen soll. Und außerdem: – wie wär's, wenn seine bacchantische Ader auf den Sohn übergegangen wäre?
Sie gingen stillschweigend über den Stadtplatz, an dem eisberingten Brunnenbecken vorbei. Gant hatte sich bereits mehrere Male verlegen geräuspert.
»Sohn«, sagte er schließlich, »ich hoffe, Du läßt Dir den Vorfall von gestern nacht zur Warnung dienen. Es wäre entsetzlich, wenn die Trunksucht Macht über Dich bekäme. Ich will Dir wahrhaftig keine Vorwürfe