Das Leben verglomm aus seinen müden Augen. Er lag halb ohnmächtig auf den Säcken ausgereckt. Er dachte: Hafersäcke, Hafer, Pferde.
So fand ihn der Junge Checker, der ihm am Anfang einmal Geld geliehen hatte. Der Checker beugte sich über ihn, hielt ihm mit der einen Hand den Kopf hoch und flößte ihm mit der andern aus einer Flasche starken, scharfen Branntwein ein. Als Eugen sich ein bißchen erholt hatte, half ihm der Checker von der Haferburg herunter und ging langsam mit ihm über die hölzerne Plattform des Piers.
Sie gingen über die Straße in einen kleinen Kramladen. Der Checker bestellte eine Flasche Milch, eine Schachtel Salzkeks und einen großen Block Käse. Als Eugen aß, liefen ihm die Tränen über das schmutzige Gesicht. Er konnte sie nicht zurückhalten; er weinte vor Hunger und Schwäche.
Der Checker stand über ihm und sah ihn mit gütig, besorgten Blicken an. Er war ein junger Mann mit einem großen, vierkantigen Kinn und einem kleinen Tellergesicht, er trug gelehrtenhafte Augengläser und rauchte nachdenklich eine Pfeife.
»Warum hast Du mir nichts gesagt? Ich hätte Dir Geld gegeben«, sagte er.
»Ich – weiß – nicht«, sagte Eugen zwischen zwei Bissen Käse. »Konnte nicht.«
Von den fünf Dollar, die ihm der Checker lieh, lebten er und Sinker Jordan bis zum Zahltag. Dann, nachdem sie vier Pfund Beefsteak zu Nacht gegessen hatten, reiste Sinker Jordan nach Altamont ab, um eine ältere Erbschaft zu genießen, die ihm ein paar Tage zuvor, an seinem einundzwanzigsten Geburtstag, rechtsgültig zuteil geworden war.
Eugen blieb.
Mister Finch, der Oberlademeister, mit den häßlichen Schlitzaugen und dem liebenswürdigen Heimtückerlächeln trat an Eugen heran.
»Ich hab da 'ne Arbeit für Sie, Gant«, sagte er. »Doppelte Bezahlung. Sie sollen auch mal ans leichtverdiente Geld ran, drum möchte ich Ihnen das zuschanzen.«
»Ja. Worum handelt es sich?« sagte Eugen.
»Das Schiff da wird mit großem Stoff beladen. Es fährt sofort raus auf den Strom und wird dort vollgepackt. Sie werden heut abend mit einem kleinen Schleppboot abgeholt«, erklärte er.
Der Checker mit dem Tellergesicht, dem Eugen strahlend von seinem Auftrag berichtete, sagte:
»Ich bin auch aufgefordert worden; ich sagte, ich wolle nicht.«
»Warum?« fragte Eugen.
»Ich bin nicht so versessen aufs Geld. Sie laden das Schiff mit T. N. T. und Nitroglyzerin. Die Nigger spielen Baseball mit den Kisten. Wenn eine hinfällt, können sie Deine Reste in einem Pappschächtelchen heimschicken.«
»Das gehört alles zu einer guten Tagesarbeit!« sagte Eugen dramatisch.
Das war Gefahr, Krieg. Er war entschlossen, seine Haut für den Sieg der Demokratie zu Markte zu tragen. Er war begeistert.
Als der große Frachtdampfer vom Pier wegglitt, stand er spreizbeinig am Bug. Kühne Adlerblicke schossen aus seinen Augen. Durch seine dünnen Schuhsohlen brannten die eisernen Deckplanken; so daß er Blasen an den Füßen bekam. Das machte ihm gar nichts. Er war Kapitän.
Der Frachter ging seewärts drunten in den Roads vor Anker. Die großen, flachen Ladebarken wurden von Schleppern angebracht. Den ganzen Tag über in der siedenden Hitze wurde die Ladung ans den schaukelnden Barken hinüber auf den Frachter getragen und verstaut. Als es Abend wurde, hatte der Frachter Tiefgang. Er war bis oben vollgepackt mit Granaten, Pulver und Sprengstoff; auf den heißen Deckplanken lagerten 1200 Tonnen Feldartillerie.
Eugen stand mit eiferheißen, abschätzenden Augen bei den Geschützen, schrieb Nummern, Gegenstände, Stücke auf. Er hatte Autorität. Von Zeit zu Zeit schob er sich eine Handvoll Stücktabak in den Mund und kaute ihn mit Genuß. Er spuckte brutzelnde Priemklumpen auf das heiße Deck. Donnerwetter, dachte er, das ist Männerarbeit. Hebt – hoch! Ihr schwarzen Teufel! Da ist ein Krieg an! Er spuckte.
Das Schleppboot kam abends und holte ihn ab. Er saß abseits von den Stevedores und versuchte sich einzureden, daß das Boot für ihn allein gekommen wäre. Die Lichter zwinkerten die lange Küste Virginiens hinauf. Er spuckte ins strudelnde Wasser.
Wenn die Züge und Ladekarren aus- und einrollten, hoben die Stevedores die hölzerne Bindungsbrücke hoch, die sich vom Pier auf die Lastdampfer spannte. Schritt für Schritt, rhythmisch in Ruck und Halt, strängten die Arbeitsgruppen an den Tauen und sangen unter der Leitung ihres Führers ihr Lied von Liebe und Arbeit:
»Jelly Roll! – – – He!!! – – – Je-e-elly Roll!«
Hünenkerle von Negern. Jeder von ihnen hielt ein Weib aus. Sie machten 50 bis 60 Dollar die Woche.
Ein- oder zweimal noch im Spätsommer fuhr Eugen nach Norfolk. Er versuchte es nicht länger, Laura James zu sehn. Sie schien fern und verloren. Aber er suchte den Seemann Lukas auf.
Er hatte den ganzen Sommer nicht heimgeschrieben. Nun fand er einen Brief in Gants gotischer Kratzschrift, einen kranken, matten Brief aus sorgenvoller Ferne. O verloren! Eliza, in der Plackerei der Geschäfte und des Sommerbetriebs, hatte ein paar praktische Winke dazu geschrieben. Spar Dein Geld. Iß vernünftig. Sei ein guter Bub. Der Bub war abgemagert zu einer Stange ans brauner Haut und großen Knochen. Er hatte während des Sommers über dreißig Pfund verloren. Er war zwei Meter lang und wog 115 Pfund.
Der Seemann erschrak über das abgezehrte Gestell und erging sich großzügig in anmaßenden Vorwürfen:
»Warum ha-ha-hast Du mich nicht wissen lassen, wo Du stecktest? Idiot! Ich hätt Dir doch Geld geschickt. Um Go-go-gottes willen! Komm, gehn wir essen!« Woraufhin sie aßen.
Der Sommer fuhr dahin. Als der September kam, gab Eugen seine Arbeit auf, lebte zwei Tage üppig in Norfolk und trat dann die Heimreise an. In Richmond hatte er umzusteigen. Während der dreistündigen Wartezeit zwischen den Zügen änderte er plötzlich seinen Plan und ging in ein gutes Hotel.
Er war stolz auf seinen Sieg. Er hatte 130 Dollar in der Tasche, schwerverdientes Geld. Er war alleingestanden, hatte Schmerz und Hunger erfahren, hatte überlebt. Der alte Hunger nach Reisen fraß ihm am Herzen. Er war begeistert vom Glanz des heimlichen Lebens. Die Angst vor den Menschen – Mißtrauen und Haß auf das Herdendasein, Entsetzen vor den Stricken, die ihn furchtbar an die Sippe der Erdgebundnen fesselten – beschwor wieder die große Utopie seiner Einsamkeit herauf. Oh, allein sein, wie diesmal, in fremde Städte reisen, fremde Leute kennenlernen und weiterfahren, eh sie einen kannten, … als seine eigne Legende über die Erde wandern, … es schien ihm, es gäbe auf der Welt kein besseres Los.
An seine Angehörigen dachte er fast mit Haß. Mein Gott! werde ich nie frei sein? dachte er. Was hab ich getan, um diese Sklaverei zu verdienen? Angenommen, ich wär in China oder in Afrika oder am Südpol, … ich würde immer Angst haben, Papa stürbe, derweil ich weg bin. Er verrenkte den Hals, als er sich Gants Tod vorstellte. Ei, das würden sie mir schön unter die Nase reiben, wenn er stürbe, ohne daß ich dabei wäre. Da treibst Du Dich in China herum, würden sie sagen, und hier liegt Dein Vater auf dem Totenbett, unnatürlicher Sohn! Verflucht sollen sie sein, alle miteinander! Was habe ich denn dort zu suchen? Kann er vielleicht nicht allein sterben? Allein! O Gott! gibt es keine Freiheit mehr auf Erden?
Jäh entsetzt sah er ein, daß solche Freiheit eine langwierige Welt weit weg lag, daß sie nur durch ein Maß von Ausdauer und Mut erkauft werden könne, wie es wenige Menschen besitzen.
Er blieb ein paar Tage in Richmond, lebte üppig in dem glänzenden Hotel, aß von silbernen Platten im Grillroom, bummelte beglückt durch die breiten Straßen der alten, romantischen Stadt. Drei Tage lang bemühte er sich, eine Kellnerin aus einem Eiskrem und Konfitürenladen zu verführen; er lockte sie schließlich in eine mit Vorhängen abgeschlossene Nische in einem Chop-Suey-Restaurant, und alle seine Bemühungen waren für die Katz, denn die erlesene Mahlzeit, die er mit dem Chinesen eingehend besprochen hatte, erregte ihren Abscheu, weil ein mit Zwiebel bereitetes Gericht dabei war.
Ehe er heimfuhr, schrieb er einen langen Brief an Laura