Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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passen. Offensichtlich: er würde es nie zum Gouverneur bringen. Nicht einmal Politiker würde er werden, denn er sagte »so komische Sachen«. Er war nicht der Mann, der eine Klasse anführt, nicht der, der vor der Versammlung das Gebet spricht. Er war ein Mann für »kuriose« Unternehmungen. Nun ja, dachten die anderen wohlwollend, solche Leute muß es auch geben; man braucht auch sie; wir sind nicht alle für die gewichtigen Geschäfte geeignet.

      Er war glücklicher als je zuvor und ungehemmter. Seine Einsamkeit war vollkommener und freudiger. Er war dem Familienleben mit seinen dumpfen Bedrohungen entronnen: Das beseligte, gab Schwungkraft, machte freiheitstrunken. Et war allein gekommen, ohne Gefährten. Er hatte keinerlei Beziehungen oder Verbindungen; er hatte, selbst jetzt, nicht einmal einen Freund. Und dieses Isoliertsein sprach für ihn. Jeder kannte ihn vom Ansehn, jeder nannte ihn beim Vornamen und unterhielt sich gern mit ihm. Er war nicht unbeliebt. Er war ein glücklicher Enthusiast; voll von freimütigem Frohsinn. Eine große Zärtlichkeit, eine Liebe für die ganze wunderbare und unbesuchte Erde blendete seine Augen. Näher als je war er der brüderlichen Empfindung für alle und vor allem. Und dabei war er einsamer, als er je gewesen war … Es war ihm völlig gleichgültig, was man von seinem Auftreten hielt; eine göttliche Unbekümmertheit gegenüber allem Augenschein erfüllte ihn. Der Wein der Freude rollte in seinen Adern. Er kam die Kampuspfade heruntergestürmt, wilde Schreie in der Kehle, und sprang hoch, um sich einen Apfel vom Zweig zu reißen.

      Er fing an beizutreten. Er hatte nie zuvor irgendeiner Gruppe angehört; aber nun luden ihn alle ein. An der Zeitung und am Magazin, das die Studenten schrieben und herausgaben, hatte er sich mühelos einen Namen gemacht, und schon regnete es Auszeichnungen. Er wurde in »literarische«, »dramatische«, »theatralische«, »rhetorische«, »debattistische«, »journalistische« Bruderschaften aufgenommen, und im Frühling dann in eine »gesellschaftliche«. Begeistert trat er bei, mit fanatischer Freude unterzog er sich den gebräuchlichen Einweihungsriten und lief lahm und mit wunden Gliedern herum, erfreut wie ein Kind oder ein Barbar über die bunten Bänder im Knopfloch seines Rockaufschlags und seine mit Nadeln, Abzeichen, Symbolen und griechischen Lettern bepflasterte Weste.

      Aber es hatte Überwindung gekostet. Der Herbst war glanzlos und träge; der Schatten Lauras suchte ihn heim. Als er zu Weihnachten heimreiste, fand er die Berge schnöd und eng, die Stadt gemein und zusammengerückt vor der grimmigen Kargheit des Winters. Eine lächerliche, verzweifelte und verkrampfte Fröhlichkeit herrschte in der Familie.

      »Also!« sagte Eliza kummervoll und sah vom Herd auf, »nun wollen wir uns alle bemühn, glücklich zu sein und stille Weihnachten feiern. Man weiß ja nie! Man weiß ja nie!« Sie schüttelte den Kopf, konnte nicht weitersprechen. Tränen standen ihr in den Augen. »Es kann das letzte Mal sein, daß wir alle zusammen sind. Das alte Leiden, ach, das alte Leiden!« sagte sie heiser und sah Eugen an.

      »Was für ein altes Leiden?« fragte er ärgerlich. »Guter Gott, tu doch nicht so geheimnisvoll!«

      »Mein Herz!« flüsterte sie tapfer lächelnd. »Ich hab keinem Menschen was davon gesagt, aber vorige Woche, da war mir so, ich weiß nicht, als war ich schon gestorben.« Sie flüsterte dies in einem Ton, der das Schlimmste ahnen ließ.

      »O Du mein Gott!« stöhnte Eugen. »Du wirst noch lang leben, wenn wir andern mit Haut und Haaren verfault sind.«

      Helene lachte rauh, sah ihn an und stocherte ihn in die Rippen.

      »Ei, ei ei! Sie hat halt immer was Schlimmeres. Wenn Du eines Tages ohne Blinddarm zu ihr kommst, dann fehlt ihr sicher gleich der ganze Magen. Sie kann immer mit einem ärgeren Leiden aufwarten, der Trick versagt nie.«

      »Lacht nur über mich! Lacht nur!« sagte Eliza bitter hinter Tränen lächelnd. »Vielleicht werdet Ihr nicht mehr lang lachen können.«

      »Guter Himmel, aber Mama!« rief Helene gereizt aus. »Dir fehlt ja doch gar nichts. Papa ist der Kranke! Er braucht Pflege und Aufwartung. Bist Du Dir nicht klar darüber, daß er … stirbt! Und ich bin auch krank! Du wirst noch leben, wenn wir beide längst unterm Rasen sind.«

      »Man weiß ja nie!« sagte Eliza geheimnisvoll. »Man weiß ja nie, wer als erster dran glauben muß. Erst letzte Woche, da ist der alte Mister Cosgrave, ein blühender Mann in den besten Jahren …«

      »Seid Ihr schon wieder dabei?« schrie Eugen, irrlachend, sprang auf und stampfte in der Küche auf und ab in einem Anfall von Raserei.

      Sein Vater saß fast den ganzen Tag vorm offnen Kamin im Wohnzimmer und starrte mit leerem Blick ins Feuer. Miss Florry Mangle, die Krankenpflegerin, schenkte ihm den morschen Trost ihrer Schweigsamkeit. Die Arme über ihre Hängebrüste gefaltet saß sie im Schaukelstuhl und wippte auf und ab, auf und ab, dreißig Absatztapfen in der Minute.

      Manchmal sprach sie zu ihm von Krankheiten und vom Sterben. Gant war unheimlich gealtert und zusammengefallen. Die Anzüge schlotterten um sein spindeldürres Gestell. Sein Gesicht war wächsern und durchsichtig; die Nase sah wie ein großer Schnabel aus. Er machte einen sauberen, zerbrechlichen Eindruck; – der Krebs blüht in ihm – dachte Eugen – wie eine furchtbare, aber schöne Pflanze. Gant war sehr klar im Kopf, sein Verstand hatte nicht nachgelassen, aber er war traurig und alt. Er sprach sehr wenig, mit einer fast komischen Sanftmut; er hörte auf zuzuhören, sobald man ihm antwortete.

      »Wie ist's Dir gegangen, Sohn?« fragte er. »Kommst Du gut voran?«

      »Ja. Ich bin Reporter an der Universitätszeitung, nächstes Jahr werde ich wohl Redakteur werden. Ich bin zu verschiednen studentischen Organisationen gewählt worden …« Er fuhr begierig fort zu berichten, er war froh, daß er zu Einem von ihnen über sein Leben auf der Universität sprechen konnte. Aber als er aufsah, wurde er gewahr, daß sein Vater geistesabwesend und traurig ins Feuer starrte. Eugen hielt inne, verwirrt vor Schmerz und Bitterkeit.

      »Das ist gut«, sagte Gant, als er merkte, daß Eugen aufgehört hatte zu sprechen. »Halt Dich brav, Sohn. Wir sind stolz auf dich.«

      Ben kam zwei Tage vor Weihnachten heim. Er schlich im Haus umher wie ein allen wohlbekannter Schatten. Nach der Rückkehr von Baltimore hatte er Altamont verlassen. Drei Monate lang war er allein im Süden herumgewandert und hatte in den Kleinstädten bei den Kaufleuten um Annoncen geworben. Die Wäschereien pflegen ihre Kundschaft mit vorgedruckten, ausführlich rubrizierten Listen zu versorgen, in die die braven Hausfrauen lediglich die Zahl der Taschentücher, Unterhosen oder Bettlaken einzutragen brauchen. Rings um diese Listen bleiben abgeteilte Felder für Reklame. Dieser Reklamevertrieb ist organisiert. Ben hatte Annoncen für ihn geworben.

      Wie gut oder schlecht er bei diesem sonderbaren Geschäft gefahren war, sagte er nicht. Er war tadellos sauber und reinlich wie immer, aber seine Kleider waren fadenscheinig, und er sah sehr, sehr hager aus. Schließlich hatte er eine Anstellung an einer Zeitung in einer reichen Tabakstadt im Piedmont, der dem Gebirg in südlicher Richtung vorgelagerten Ebne, gefunden. Nach Weihnachten sollte er die Stelle antreten.

      Er war wie immer mit Geschenken heimgekehrt.

      Lukas kam von der Marineschule in Newport. Er traf am Weihnachtsabend ein. Sie hörten seinen dröhnenden Tenor bereits, als er noch draußen auf der Straße stand und Leuten Grüße zurief. Wie ein Windstoß kam er ins Haus hereingewirbelt. Alle begannen zu grinsen.

      »Ah! Also da sind wir! Der Admiral ist zurück! Papa! Na, wie gefällt Dir der Knabe? Ei bei Gott!« rief er aus, umarmte Gant und tätschelte ihn auf den Rücken, »ich dacht', ich käm' einen Kranken zu sehn, und da stehst Du und siehst aus wie Frühlingsblumen! Wie geht's, wie steht's?«

      »Ganz leidlich, mein Junge. Und dir?« fragte Gant, erfreut lächelnd.

      »Könnte gar nicht besser gehn, Colonel. Na, Eugen, wie geht's bei Dir, alter Pfadfinder?« sagte er, ohne Antwort zu erwarten.

      »Ei ei! Wenn das nicht der alte Glatzkopf ist!?« rief er aus und schüttelte Bens Hand wie einen Pumpenschwengel. »Ich wußte gar nicht, ob Du heimkämst.«

      »Mama! Altes Mädchen!« sagte er und umarmte sie. »Na, wie geht's denn, wie geht's denn? Gelt, immer noch mit allen sechs Zylindern! Fein!!!« gellte er, ehe überhaupt noch jemand Zeit gehabt hatte, ihm zu antworten.

      »Aber