»Haroldchen, Haroldchen!« mahnte Elk Duncan vorwurfsvoll, »wenn Du es so weiter treibst, mein Junge, dann wirst Du noch Gummi kauen und das Geld für die Kollekte im Kindergottesdienst fürs Kino vergeuden. Nimm doch Rücksicht auf uns! Der junge Eugen hier ist noch rein wie ein Stallbursch, und ich habe stets in den besten Kreisen der Schankhalter und mit den höchst damenhaften Straßengängerinnen verkehrt. Weißt Du, was Hochwürden Dein Vater tun würde, wenn er Dich so fluchen hörte? Er würde Dir das Zigarettengeld kürzen, mein Sohn!«
»Verdammt nochmal! Elk!« sagte Harold rauhpautzig und grinste. »Zur Hölle!!« brüllte er, so laut er konnte. Und aus den Fenstern des ganzen Dormitoriums erschallten lautes Geheul, beifälliges Lachen, ironische Aufmunterungen, wütende Rufe »Zur Hölle!« und »Hört auf damit!«, was Harold Gay sehr wohlgefiel.
Die verstreute Familie versammelte sich zu Weihnachten. Eine Ahnung von bevorstehenden Trennungen, von Verlust und Tod brachte sie zusammen. Der Chirurg in Baltimore hatte keine Hoffnungen gemacht. Was er gesagt hatte, klang wie eine Todesbürgschaft.
»Wie lang hat er denn wohl noch zu leben?« hatte Helene gefragt.
Der Arzt zuckte die Achseln.
»Ich habe nicht die geringste Idee. Ihr Vater ist ein Wunder. Wissen Sie, daß das ganze Hospital ihn bestaunt? Sämtliche Chirurgen im Bau haben sich den Fall angesehn. Wie lange er noch mitmacht, kann niemand sagen. Es geht über meine Erfahrung. Als Ihr Vater hier nach der Operation wegging, dachte ich, ihn nie wiederzusehen. Ich zweifelte daran, ob er den Winter überstehen könne. Und jetzt ist er wieder da. Und es kann sein, daß er noch öfters zurückkommen wird.«
»Glauben Sie, daß die Radiumbehandlung was nützt? Können Sie ihm überhaupt helfen?«
»Ich kann ihm Erleichterung verschaffen. Ich kann sogar das Fortwuchern der Krankheit eine Zeitlang aufhalten. Darüber hinaus vermag ich nichts. Aber seine Lebenskraft ist ungeheuer und völlig unberechenbar. Er ist wie ein hinfälliges Torgitter, das gerade noch an einer Angel hängt … aber immerhin: noch hängt.«
So hatte sie ihn heimgebracht. Der Schatten seines Todes hing über ihnen wie ein Damoklesschwert. Auf Panthertatzen schlich die Angst umher. Helene lebte in einem Dauerzustand unterdrückter Hysterie: täglich einmal kam es zu Ausbrüchen, entweder in Elizas Küche in Dixieland oder in ihrem eignen Heim. Hugo Barton hatte ein Haus gekauft; sie hatten sich eingerichtet.
»Du wirst keinen Frieden haben, solang Du mit Deiner Familie zusammen steckst. Sonst fehlt Dir nichts«, erklärte er.
Sie war andauernd krank, belagerte die Ärzte, holte sich Rat, ließ sich behandeln. Manchmal ging sie auf ein paar Tage ins Krankenhaus. Ihr Leiden manifestierte sich auf vielerlei Weise: manchmal als rasende Ohrenschmerzen, manchmal als völlige nervöse Erschöpfung, manchmal in Zusammenbrüchen, in denen sie abwechselnd in Lach- und Weinkrämpfe verfiel. Ihr Zustand war zu einem Teil von Gants Siechtum beherrscht, zum andern entsprang er aus ihrer morbiden Verzweiflung darüber, daß sie keine Kinder bekam. Zeitweise ergab sie sich dem heimlichen Trunk: sie nippte, um sich aufzuplustern, betrank sich aber nie. Sie trank übles Zeug. Es kam ihr lediglich auf die alkoholische Wirkung an, und so genügten ihr Flüssigkeiten, wie sie unter Titeln wie »Medikament«, »Tonikum«, »Extrakt«, »Essenz« und so weiter beim Apotheker zu haben sind. Fast bewußt hatte sie ihren Geschmack für anständige, trinkbare Stoffe ruiniert. Die gefälligen Schildchen auf den Arzneiflaschen halfen ihr, unbezichtigt dem wüsten, häßlichen Hunger ihres Bluts zu frönen. Natürlich gestand sie das nicht ein. Leben fand seinen Ausdruck in einer Reihe von Täuschungen, die sie um die Symbole ihrer Gehässigkeit, ihrer Zuneigung und ihrer Sorge aufrichtete. Sie brandmarkte stets alle möglichen Ursachen, bekannte niemals den wahren Grund.
Wenn sie nicht tatsächlich bettlägerig war, hielt sie sich nie länger als ein paar Stunden von ihrem Vater fern. Sein Tod warf seinen Schatten voraus, sie alle schauderten vor Entsetzen. Das Drohende, Rätselhafte, Unverständliche, das über ihnen hing, nahm ihnen den Mut und die Haltung. Sie überantworteten sich jenem gemeinen und entwürdigenden Egoismus, der trübselig und stumpfsinnig über den Tod andrer hinwegsieht, aber im Tod am eignen Fleisch und Blut einen Widerspruch gegen alle Naturgesetze zu erkennen glaubt. Es war schwer für sie, sich Gants Tod vorzustellen; viel eher hätten sie sich Gottes Tod vorstellen können, denn Gant war eine faßbarere Wirklichkeit als Gott, er erschien unsterblicher als Gott, er war Gott.
Das Zwielicht des Grauens, in das ihre Leben geglitten waren, entsetzte Eugen und machte ihn rasend. Wenn er Post von zu Haus gelesen hatte, tobte er und schlug mit den Fäusten an die harten Gipswände des Dormitoriums, bis ihm die Knöchel bluteten. Sie haben ihm den Mut genommen, dachte er. Sie haben einen winselnden Feigling aus ihm gemacht. Wenn ich mal sterbe, dann wird so keine verdammte Familie um mich rumlungern und mich beschnüffeln und mir die Angst mit dem Atem ins Gesicht blasen! Schweinerei das! Dieses Herumhocken und Glotzen, bis einem Menschen die Luft ausgeht. Ihm mit herzhaftem Lächeln vorerzählen, wie gut er aussähe, und hinter seinem Rücken die besorgte Fratze schneiden! Widerlich! widerlich! widerlich! so ein Tod! Können wir denn nie allein sein, allein hausen, allein leben, allein denken? Ha! Ich werde es schaffen! Allein, ganz allein, weit weg von allem, allein im herunterrauschenden Regen.
Er stürzte rüber ins Arbeitszimmer. Elk Duncan saß über einem juristischen Werk, ein bunter Vogel, den das Gesetz, eine große Schlange, in Hypnose hielt.
»Sollen wir wie Ratten verrecken?« fragte Eugen. »In Erdlöchern ersticken, was?«
»Verdammt!« sagte Elk Duncan und verschanzte sich hinter dem dicken Kalbslederband. »Ja, so ists recht! Bleib ruhig! Du bist Napoleon Bonaparte, und ich bin Dein alter Spießgeselle Oliver Cromwell! Harold! Zu Hilfe! Der Eugen hat seinen Wärter erschlagen und ist aus der Irrenanstalt ausgebrochen!«
»He!« gellte Harold Gay und schleuderte ein dickes Buch zu Boden. »Eugen! Was weißt Du in punkto Geschichte? Wer hat die Magna Charta unterzeichnet?«
»Sie wurde nicht unterzeichnet«, erklärte Eugen. »Der König konnte nicht schreiben, so nahmen sie halt ein Mimeogramm auf.«
»Stimmt!« brüllte Harold Gay. »Und wer war Ethelred der Unredliche?«
»Sohn Kynewulfs des Albernen, aus seiner Ehe mit Undine der Ungewaschnen«, sagte Eugen.
»Und seitens seines Onkels Jasper war er mit Paul dem Pockennarbigen und Genoveva der Unangenehmen verwandt«, ergänzte Elk Duncan.
»Durch eine päpstliche Bulle vom Jahre 903 wurde er exkommuniziert, ließ sich aber nicht einschüchtern …«, sagte Eugen.
»… sondern rief statt dessen die Geistlichkeit seines Landes zusammen und ließ den Erzbischof von Canterbury – Doktor Gay war sein Name – zum Papst wählen. So kam es zu einem großen Schisma der Kirche«, ergänzte Elk Duncan.
»Wie gewöhnlich jedoch stand Gott auf der Seite der meisten Kanonen«, fuhr Eugen fort. »Später wanderte die Familie nach Kalifornien aus, wo sie 1849 auf den großen Goldfeldern ihr Vermögen erwusch.«
»Hört auf! Hört auf! Da kann ich nicht mit!« gellte Harald Gay und sprang plötzlich auf. »Hopp! Los! Wer geht mit ins Pic?« Das »Pic« – Kurzform für Moving-»Pic«ture-Theatre – war die einzige ständige Unterhaltung, die das Dorf Pulpit Hill gewährte. Dieses Kino füllte sich allabendlich mit lärmenden Studentenrudeln, die durch die mit Erdnußschalen bestreuten Gänge stampften, allerlei Unfug, besonders mit den Freshmen, trieben und sich nebenbei auch an dem armseligen Flickertanz der Puppen, den ein abgespielter Filmstreifen auf die Leinwand warf, mit Radau und lauten Zurufen ergötzten. Eine langweilige, aber fleißige Dame, namens Myrtle, hämmerte auf einem abgenutzten Klavier herum; wenn sie einmal fünf Minuten Pause machte, johlte die ganze Bande und verlangte ironisch: »Musik! Myrtle! Musik!«
In dieser merkwürdigen Atmosphäre gedieh und entwickelte Eugen sich aufs erstaunlichste. Er stand außerhalb der allgemeinen Eifersucht. Es war allzu