Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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erst die Sache wieder überlegt …«, gestand sie mit verständnisinnigem Kopfnicken.

      »Ach!« Er fauchte und riß an seinem Halskragen. »In Gottes Namen, ich bitte Dich!«

      Sie schwieg.

      »Also, ich wünsche, daß Du brav bist und fleißig studierst. Und gib auf Dein Geld acht! Gut und genug zu essen und warme Kleider, das brauchst Du. Aber verschwenden darfst Du nicht! Die Krankheit Deines Vaters hat einen Haufen Geld gekostet. Und das Geld geht überhaupt an allen Ecken und Enden hinaus, und nichts kommt ein. Niemand weiß, wo der nächste Dollar herkommt. Also Du mußt sparsam sein.«

      Sie schwieg, sie hatte ihr Sprüchlein aufgesagt. Sie war ihm so nah gekommen, wie sie konnte, und nun plötzlich stand sie sprachlos da, ausgeschlossen, ausgesperrt aus dem bittren Geheimnis seines Lebens.

      »Es ist mir schrecklich, daß Du weggehst, Sohn«, sagte sie ganz still aus einer tiefen, unergründlichen Traurigkeit.

      Gequält reckte er die Arme.

      »Und was macht es schon aus! O Gott! Was macht es aus!«

      Elizas Augen standen voll Tränen. Es tat ihr wirklich weh. Sie griff nach seiner Hand und hielt sie.

      »Versuch es, glücklich zu sein, Sohn!« weinte sie. »Versuch es, ein bißchen glücklicher zu sein. Armes Kind! Armes Kind! Kein Mensch hat Dich je gekannt. Eh Du geboren wurdest …« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war schmerzbeklommen, tränenerstickt. Dann räusperte sie sich und wiederholte leise: »Eh Du geboren wurdest …«

      XXXII

      Es war sein zweites Studienjahr. Als er nach Pulpit Hill zurückkehrte, hatte sich dort alles nüchtern und säuberlich auf Krieg eingestellt. Die Universität war still und traurig; es waren weniger Studenten da, und sie waren jünger, denn die älteren waren fast alle eingezogen. Die Studenten lebten in einem Zustand wilder, jedoch unterdrückter Ruhlosigkeit. Sie scherten sich nichts um Kurse, Karriere, Erfolg. Das triumphante Nun des Kriegs hatte sie erschüttert. Was für einen Sinn hatte das Morgen? Was für einen Sinn hatte es, auf das Morgen zu arbeiten? Vom erschütternden Radau der großen Kanonen waren alle feingesponnenen Lebenspläne zerrissen; das Ende aller Arbeit, die einem weitgesteckten Ziele galt, wurde mit wilder, mit heimlicher Freude begrüßt. Das Erziehungs- und Bildungsgeschäft wurde nur halbherzig betrieben, mit einem zerstreuten, geistesabwesenden Blick. Sie saßen in den Klassen, die Augen ungenau auf ein Buch gerichtet, die Ohren aber scharf gespannt auf irgendeinen Alarm, der von draußen kommen könnte.

      Eugen fing das Jahr sehr ernst an, als Zimmergenosse eines jungen Mannes, der Primus in der höheren Schule in Altamont gewesen war. Er hieß Bob Sterling. Er war neunzehn Jahre alt, der Sohn einer Witwe. Er war mittelgroß, immer nett und sauber angezogen; es war nichts Auffälliges an ihm. Aus diesem Grunde konnte er sichs leisten, gutmütig und ein wenig spießerhaft über alles Auffällige zu lachen. Er hatte einen tadellosen Verstand: hell, wach, beflissen und ohne eine Spur von Originellem oder Erfinderischem. Für alles gab es bei ihm eine festgesetzte Zeit. Ein Teil seiner Stunden war der Vorbereitung des Lehrstoffs gewidmet: er ging jede Aufgabe dreimal durch und murmelte sie schnell vor sich hin. Pünktlich jeden Montag schickte er seine Wäsche zur Waschanstalt. Wenn er in lustige Gesellschaft geriet, lachte er herzhaft mit den anderen und war vergnügt; stets aber war er zeitbedacht. Er sah auf die Uhr, erklärte: »Na, das ist zwar alles recht schön, aber die Arbeit bleibt dabei ungetan«, und ging.

      Jedermann sagte, daß Bob Sterling eine glänzende Zukunft habe. Gutmütig-ernst ermahnte er Eugen wegen seiner Gewohnheiten. Er solle nicht seine Kleider überall herumliegen lassen. Er solle seine schmutzigen Hemden und Untersachen rechtzeitig zur Wäscherei schicken. Er solle sich zu festgesetzten Stunden auf seine Kurse vorbereiten. Er solle mit einer regelmäßigen Zeiteinteilung leben.

      Sie wohnten in einem Privatquartier am Rande des Kampus, einem großen, hellen Zimmer, dessen Wände Bob Sterling mit Universitätswimpeln drapiert hatte.

      Bob Sterling war herzleidend. Wenn er die Treppe gestiegen war, dann kam er nach Luft schnappend oben an. Eugen machte ihm die Tür auf. Bob Sterlings angenehmes, mit fahlen Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht war dann totenbleich. Seine Lippen bebten und waren blau.

      »Was ist los, Bob? Ist Dir schwach?« fragte Eugen.

      »Komm mal her!« sagte Bob Sterling grinsend. »Leg mal Dein Ohr auf meine Brust!« Er nahm Eugens Kopf und drückte ihn an sein Herz. Die große Pumpe ging langsam und unregelmäßig, mit einem zischenden Geräusch, als ob Luft entwiche.

      »Guter Gott!« rief Eugen aus.

      »Gelt, da hörst Du's!« sagte Bob Sterling und fing an zu lachen. Er ging ins Zimmer und rieb sich die trocknen Hände schnell aneinander.

      Er wurde krank und konnte nicht ins Kolleg gehn. Er wurde ins Universitätskrankenhaus überführt, wo er ein paar Wochen lang lag, allem Anschein nach nicht sehr krank, aber ständig mit blauen Lippen, langsamem Puls und Untertemperatur. Dagegen ließ sich nichts tun.

      Seine Mutter kam und nahm ihn mit nach Hause. Eugen schrieb ihm regelmäßig, zweimal in der Woche und erhielt als Antwort kurze, fröhliche Botschaften. Dann eines Tages starb Bob Sterling.

      Zwei Wochen später erschien die Witwe, um die Sachen ihres Jungen zu holen. Stillschweigend packte sie die Kleider ein, die nun niemand mehr tragen würde. Sie war eine stämmige Frau von vierzig Jahren. Eugen nahm die Universitätswimpel von den Wänden und faltete sie zusammen. Sie legte sie oben in den Handkoffer und schickte sich an wegzugehn.

      »Da ist noch einer«, sagte Eugen.

      Sie brach plötzlich in Tränen aus und ergriff seine Hand.

      »Er war so tapfer«, sagte sie. »Diese verlornen Tage – ach, ich meinte ja nicht – Ihre Briefe haben ihn so glücklich gemacht.«

      Nun ist sie allein, dachte Eugen.

      Ich kann da nicht wohnen bleiben, dachte er. Wir haben zusammen gehaust. Hier. Überall hier ist er gewesen. Dagewesen. Ich würde ihn immer sehn, wie er oben auf dem Treppenabsatz stand und nach Luft schnappte mit blauen Lippen. Oder ihn seine Aufgaben murmeln hören. Und nachts wäre das andre Bett leer. Ich werde fortan allein hausen.

      Aber er zog für den Rest der Studienzeit in eines der offiziellen Dormitorien. Er hatte zwei Zimmergenossen. Der eine war ein junger Altamonter, L. K. Duncan, nicht bei seinem Vornamen Lawrence, sondern stets nach seinen Initialen »Elk« genannt. Der andre, Harold Gay, war der Sohn eines episkopalianischen Pastors. Beide waren älter als Eugen: Elk Duncan war vierundzwanzig, Harold Gay zweiundzwanzig. Sie hatten zwei kleine Zimmer zusammen, deren eines sie als »Study« benutzten. Es ist fraglich, ob je drei so ausgefallne Burschen zusammen in zwei so kleinen Buden gehaust haben.

      Elk Duncan war der Sohn eines Altamonter Staatsanwalts, eines kleinen Politikers aus der demokratischen Partei, der in den Affären der County eine Rolle spielte. Elk Duncan war zwei Meter lang und unglaublich dünn und schmal. Er hatte bereits eine leichte Glatze über der hohen, vorgebauten Stirn. Er hatte große, blasse Stielaugen. Von der Augenhöhe abwärts bis zum Kinn war sein Gesicht zurückfliehend. Seine Schultern waren ein wenig rund und sehr schmal. Sein Körper hatte die Symmetrie eines Bleistifts. Er zog sich stets sehr stutzerhaft an, in knappsitzenden Anzügen aus blauem Flanell, mit hohen Stehkragen, dicken Seidenkrawatten und bunten seidnen Taschentüchern. Er war Jurist und ging auf die Law School, verbrachte jedoch einen guten Teil seiner Zeit damit, dem Studium aus dem Wege zu gehen.

      Jüngere Studenten, besonders die Freshmen, versammelten sich nach den Mahlzeiten um ihn und bewunderten ihn mit halboffnen Mündern. Sie lebten von seinen Worten wie von Manna und verlangten hungrig nach mehr, je wilder seine Fabeln wurden. Elk Duncans Lebenseinstellung glich sehr der eines Ausrufers vor einer Schaubude auf dem Jahrmarkt; sie war schwatzhaft, gönnerisch und zynisch.

      Harold Gay war eine gute Seele von einem Kind. Er trug eine Brille; sonst war nichts helles in seinem trübgrauen, doofen Gesicht. Er war gutmütig und häßlich, ohne die geringste Spur von irgendeiner Distinktion. Vier Fünftel aller Daseinsphänomene erschienen ihm von jeher so rätselhaft, daß er den Versuch, sie zu begreifen, längst aufgegeben hatte. Er verbarg