Aber – anders als jene erste in der Tabakstadt – nannte sie ihn nie »Sohn«.
»Arme Butterfly, es brach ihr das Herz, oh
Arme Butterfly, denn sie liebte ihn so-o-o …«
Miss Irene Mallard wechselte die Nadel an dem kleinen Grammophon und legte die andre Seite der abgespielten Schallplatte auf. Als die gravitätische, nachdrücklich-rhythmische Melodie von »Katinka« erklang, stand sie da: aufrecht, lächelnd, schlank und schön. Die langen, lieblichen Hände wie Flügel erhoben, wartete sie auf seine Umarmung. Sie lehrte ihn tanzen. Laura James hatte wundervoll getanzt; es hatte ihn wahnsinnig gemacht, sie beim Tanze in den Armen eines jungen Mannes zu sehn. Und nun bewegte er sich steif und täppisch, zählte ein-zwei-drei-vier, schwankte schwerfällig auf dem linken Fuß. Irene Mallard schwebte, fast körperlos wie eine Rauchsäule, unterm Druck seines unbeholfen steuernden Arms. Gewichtlos wie ein Vogel war ihre Linke auf seine knochige rechte Schulter gesetzt; die kühlen Finger ihrer Rechten lagen auf dem heißen Handteller seiner Linken, die auf- und abging, als sägte er die Luft.
Sie hatte dichtes, eichenholzfarbnes Haar, in der Mitte gescheitelt. Ihre Haut war perlenblaß und von durchsichtiger Feinheit. Ihr Kinn war lang, voll und sinnlich – sie war ein reiner präraffaelitischer Typ. Sie hielt sich wunderbar aufrecht, war sehr graziös; aber in ihrem ganzen Wesen war etwas Zerbrechliches und Müdes. Ihre schönen Augen hatten die Farbe von Veilchen; sie waren ein wenig traurig und voll von langsamer Verwunderung und Zärtlichkeit. Sie war wie eine Luinimadonna, himmlisch und irdisch, heilig und verführerisch zugleich. Er hielt sie in ehrfurchtsvoller Vorsicht umfangen, wie einer, der nicht zu nahe zu kommen wagt aus Angst, ein geweihtes Bild zu zerbrechen. Ihr köstliches, feines Parfüm flüsterte ihm etwas Verstohlnes, etwas von heidnischer Heiligkeit zu. Er hatte Angst, sie zu berühren, und seine heiße, nervöse Hand schwitzte ihre kühlen Finger feucht.
Manchmal hustete sie leis, lächelte, hielt ein zerknülltes, kleines blaugerändertes Taschentuch an den Mund.
Sie war nicht wegen ihrer eignen Gesundheit ins Gebirg gekommen, sondern wegen ihrer Mutter, die an Asthma litt und herzkrank war. Die Mutter war fünfundsechzig; sie trug verschossene, altmodische Kleider und machte die ewig trübselige Miene alter Leute, die ständig krank sind. Sie waren aus Florida. Irene Mallard war eine tüchtige Geschäftskraft; sie bekleidete den Oberbuchhalterposten in einer Altamonter Bank. Jeden Abend rief der Bankpräsident Randolph Gudger bei ihr an. Irene Mallard legte die Hand auf die Schallmuschel des Telephonhörers, lächelte Eugen ironisch an und verdrehte die Augen. Manchmal fuhr Randolph Gudger in seinem Auto vor, um sie zu einer Spazierfahrt einzuladen. Eugen zog sich mürrisch zurück, bis der reiche Mann wieder abgezogen war. Der Bankier sah ihm mit bittern Blicken nach.
»Er macht mir dauernd Heiratsanträge«, sagte Irene Mallard. »Was soll ich nur tun?«
»Er ist alt genug, um Dein Großpapa zu sein«, sagte Eugen. »Hat 'ne Glatze, falsche Zähne und wer weiß, was sonst alles nicht stimmt.«
»Aber er ist reich, Eugen«, sagte Irene Mallard. »Das muß auch in Betracht gezogen werden.«
»Los, dann los! Vorwärts geheiratet! Heirate ihn und verkauf Dich!« rief er wütend. Und mit dramatischem Pathos sagte er: »Dieser Greis!« Randolph Gudger war fünfundvierzig Jahre alt.
Und so tanzten sie im Wintergarten, im grauen Zwielicht, das schmerzlich schön war wie das Licht unter der See, in dem sein Ich schwamm, ein Meerwesen, verloren und der Verbannung eingedenk. Und im Tanz gab sie, die er nicht zu berühren wagte, sich ihm körperlich hin, flüsterte ihm leis ins Ohr, preßte die schlanken Finger seiner heißen Hand. Ja, sie, die er nicht anrühren wollte, lag wie eine Garbe in seinem gewinkelten Arm, in tausendfach wandelbaren Formen des Trosts und Entzückens schön: Heilmittel und Gnadenzeichen der Welt, Zuflucht vor dem einen verlornen Gesicht unter allen Gesichtern, Linderung für jene Wunde, die Laura hieß. Der große Maskenzug von Stolz und Schmerz und Tod zog an seiner Schau vorbei durch die Dämmerung und berührte seinen Kummer mit einer einsamen Freude. Er hatte verloren und hatte seinen Verlust tragen gelernt; die ganze Pilgerfahrt über die Erde war Verlust; ein Augenblick des Zusammenhängens, ein Augenblick der Trennung, das Winken von tausend phantomischen Schatten und der hohe, leidenschaftslose Kummer der Sterne.
Es war dunkel. Irene Mallard nahm ihn bei der Hand und führte ihn nebenan auf die Terrasse.
»Setz Dich einen Augenblick hierher zu mir, Eugen, ich möchte mit Dir sprechen.« Gehorsam nahm er neben ihr auf der Sitzschaukel Platz; er ahnte, wovon sie reden würde.
»Ich hab Dich in diesen letzten Tagen ein bißchen überwacht, Eugen«, sagte Irene Mallard. »Ich weiß, was Du treibst.«
»Was meinst Du?« fragte er heiser. Sein Puls schlug heftig.
»Das weißt Du ganz genau«, sagte Irene Mallard streng. »Nun hör mal, Eugen. Du bist ein viel zu feiner Kerl, um Dich an so ein Frauenzimmer zu hängen. Jeder Mensch sieht doch, zu was für einer Sorte sie zählt. Meine Mutter hat mir auch davon gesprochen. So eine Person kann einen Jungen wie Dich ruinieren. Du mußt aufhören damit.«
»Wie hast Du es erfahren?« murmelte er. Er war verschüchtert und beschämt. Sie nahm seine zitternde Hand und hielt sie mit ihren kühlen Fingern, bis er ruhiger wurde. Aber er rückte nicht näher zu ihr; er hielt Abstand aus Angst vor ihrer Schönheit. Ganz wie Laura James schien sie ihm zu hoch für körperliche Leidenschaft, er fürchtete sich vor ihrem Fleisch; aber vorm Fleisch der sogenannten Miss Brown war ihm nicht im geringsten bange. Nun war er dieser Person müde und wußte nicht, wie er sie bezahlen sollte; sie hatte alle seine Medaillen.
Durch den ganzen Spätsommer ging er mit Irene Mallard. Nachts bummelten sie auf kühlen Straßen im Rauschen des angewelkten Laubs. Sie gingen zusammen auf das Hoteldach tanzen. Später kam Pap Reinhart zu ihnen an den kleinen Tisch; er war scheu und gütig und linkisch und roch nach seinem Reitpferd. Sie saßen und tranken. Pap war in den letzten Jahren, nachdem er Leonards Schule verlassen hatte, auf eine Militärakademie gegangen und hatte sich bemüht, seinem komisch verrenkten Hals eine gerade Haltung beizubringen. Aber er blieb immer derselbe: ein drollig-trockner, gutmütiger Spötter. Eugen sah ihm gern in das gute, scheue Gesicht und dachte an die verlornen Jahre, an die verlornen Gesichter. Und ein Kummer befiel sein Herz um all das, was nicht wiederkommen würde.
Der August endete. Der September kam. Die Luft war voll von schwirrenden Zugvögelschwingen, die Welt voll von Abschied. Die Trommel schlug zum Streite, und junge Männer zogen ins Feld. Ben war abermals in der Musterung zurückgewiesen worden. Er dachte daran, sich in anderen Städten sein Brot zu verdienen. Lukas hatte eine Anstellung in einer Munitionsfabrik in Dayton in Ohio aufgegeben und war in die Marine eingetreten. Er erschien zu einem kurzen Heimaturlaub, ehe er zu einem Ausbildungskurs nach Newport in Rhode-Island ging. Die Straßen brüllten vor Lachen, wenn er mit seinem vulgären Schritt angesegelt kam, in flappenden Hosen, mit grinsendem Gesicht, die dicken, widerspenstigen Locken unter der Matrosenmütze hervorquellend: ganz der »Blaue Junge«, wie er im Witzblatt steht.
»Lukas!« schrie Mister Fawcett, der Landauktionär, und zog ihn am Ärmel von der Straße in Woods große Drogerie. »Bei Gott, Sohn, Du hast Dein Bestes getan! Ich lade Dich auf 'nen Trunk ein. Was möchtest Du?«
»Ein Glas Coca-Cola«, sagte Lukas. »Ihr Wohl, Colonel!« Er hob das frostbeschlagne Glas mit einer heftig zitternden Hand, stand nervös vor der grinsenden Bargesellschaft. »V-v-vor v-v-vierzig Jahren«, sagte er heiser, »würde ich dieses Ansinnen abgelehnt haben, aber nun, bei Go-go-gott!, ka-ka-kann ich's nicht.«
Die Krankheit hatte Gant mit verstärkter Heftigkeit angefallen. Sein Gesicht war hager und gelb. Er tatterte vor Schwäche. Es war beschlossen, daß er wieder nach Baltimore müsse. Helene sollte ihn begleiten.
»Hör mal«, versuchte Eliza ihn zu überreden, »warum gibst Du nicht Deinen Betrieb auf, um Dich auf den Rest Deiner Tage zur Ruhe zu setzen? Du bist nicht mehr gesund genug, um Dein Geschäft richtig zu verstehn. Ich an Deiner Stelle würde mich zurückziehn. Das Geschäftshaus könnten wir jederzeit für zwanzigtausend Dollar verkaufen. Wenn ich so viel