»Wieviel Bände?«
»Ach, das kann ich nicht sagen. Aber die Bibliothek ist ein schöner, stattlicher Bau.«
»Über hunderttausend Bände sicher. Vielleicht über 'ne halbe Million. Nein, das wäre wohl zuviel. Wieviel Bücher kann man auf einmal ausleihen?«
Der große Schatten seines Hungers überfiel sie; er fraß sie auf mit Fragen.
»Wie sind denn die Mädchen? Blond oder brünett?«
»Na wie? Wir haben Blonde und Braune; die Dunklen überwiegen, scheint mir.« Sie sah ihn an, grinste durchs Dunkel.
»Hübsch, was?«
»Na, das kann ich nicht beurteilen, da müssen Sie Ihre eignen Schlüsse ziehn. Sie wissen ja, ich gehöre dazu.« Sie sah ihn spröd-unzüchtig an, stellte sich ihm zur Besichtigung dar. Dann sagte sie neckisch-vorwurfsvoll lachend: »Sie scheinen mir ein loser Bube zu sein, Eugen!«
Fieberhaft zündete er eine neue Zigarette an.
»Ich würde alles um 'ne Zigarette geben«, murmelte die sogenannte Miss Brown. »Glauben Sie, ich könnte hier eine rauchen?« Sie sah sich um.
»Warum nicht?« sagte er ungeduldig. »Kein Mensch sieht Sie. Es ist stockfinster. Und außerdem, was macht es denn aus?«
Die Erregung spielte in kleinen elektrischen Schauern über sein Rückgrat.
»Ja, ich werd's wagen«, flüsterte sie. »Haben Sie 'ne Zigarette?«
Er gab ihr sein Paket. Sie stand auf, um aus seinen hohlen Händen Feuer zu nehmen. Sie lehnte ihren schweren Körper gegen seinen, verzog das Gesicht und schloß die Augen, als sie die Zigarette an die Flamme brachte. Sie hielt seine Hände, in denen das Zündholz zitterte, fest. Sie hielt sie noch ein wenig länger fest, als nötig war.
»Wie wär's, wenn Ihre Mutter uns nun ertappte?« sagte die sogenannte Miss Brown mit einem schlauen Lächeln.
»Sie wird uns nicht sehn. Und außerdem«, bemerkte er großherzig, »warum sollten denn Frauen nicht rauchen? Ganz so wie Männer. Es ist doch nichts dabei.«
»Ja«, sagte die sogenannte Miss Brown. »Man sollte nicht engherzig denken in solchen Dingen.«
Er aber grinste im Dunkeln, weil die Person sich mit der Zigarette zu erkennen gegeben hatte. Unter den provinziellen Umständen war es ein untrügliches Zeichen für Liederlichkeit.
Dann, als er sie, wieder auf dem Geländer sitzend, mit den Händen abtastete, gab sie sich ganz passiv seiner Umarmung hin.
»Eugen, aber Eugen«, sagte sie leis, scherzhaft-vorwurfsvoll.
»Welches ist Ihr Zimmer?« fragte er.
Sie sagte es ihm.
Später dann erschien Eliza plötzlich und lautlos auf der Terrasse.
»Wer ist da? Wer ist da?« fragte sie und spähte argwöhnisch in die Finsternis. »Eugen? Ist Eugen da? Haben Sie Eugen gesehn?« Sie wußte sehr wohl, daß er da saß.
»Ja, ich bin hier«, sagte er. »Was ist?«
»Ach so, wer ist denn da bei Dir, he?«
»Miss Brown ist bei mir.«
Miss Brown sagte: »Kommen Sie doch, Mistress Gant, und setzen Sie sich ein bißchen zu uns! Sie müssen müd und erhitzt sein.«
»Ach so!« sagte Eliza, »Sie sind's, Miss Brown. Ich hätte Sie so im Dunkeln nicht erkannt!« Sie knipste das trübe Terrassenlicht an. »Es ist ja stockfinster hier draußen. Jemand könnte auf den Terrassenstufen fallen und ein Bein brechen.« Sie wurde gesprächig. »Ich will Ihnen was sagen, man atmet auf an der frischen Luft. Ich könnte alles liegen und stehn lassen, wünscht ich, und mein Leben ein bißchen genießen.«
Sie setzte ihr liebenswertes Selbstgespräch eine halbe Stunde lang fort, ohne auch nur einen Augenblick ihre forschenden Augen von den beiden Halbdunkeln Gestalten wegzuheben. Dann zog sie sich linkisch und zaudernd wieder ins Haus zurück.
»Sohn!« sagte sie besorgt beim Weggehn. »Es ist spät. Du solltest schlafen, Wir sollten alle längst im Bett stecken.«
Die sogenannte Miss Brown pflichtete ihr verbindlichst bei und erhob sich:
»Ja, ich wenigstens bin müde. Ich geh schlafen. Gute Nacht!«
Eugen saß still auf dem Geländer, rauchte und horchte. Das Haus ging schlafen. Er ging in die Küche und fand Eliza, die sich gerade in ihre kleine Zelle zurückziehn wollte.
»Sohn!« sagte sie leis, nachdem sie mehrere Male vorwurfsvoll den Kopf geschüttelt hatte, »ich will Dir was sagen. Das gefällt mir nicht. Es sieht nicht nach rechten Dingen aus, wenn Du nachts allein mit dieser Frau auf der Terrasse sitzt. Sie ist alt genug, um Deine Mutter zu sein.«
»Sie ist Dein Gast, nicht meiner«, sagte er störrisch. »Ich hab sie nicht ins Haus gebracht.«
Eliza war verletzt. »Eine Sache ist sicher, das wirst Du bemerkt haben: ich verkehre nicht mit den Leuten. Ich trage meinen Kopf so hoch wie irgend jemand.« Sie lächelte herb.
»Na ja, gute Nacht, Mama«, sagte er beschämt und betroffen. »Laß uns die Hausgäste auf ein Weilchen vergessen. Was macht es schon viel aus?«
»Sei brav, Junge«, mahnte Eliza scheu. »Ich möchte, daß Du brav bleibst, Sohn.«
Er war schuldbewußt; Reue und Zerknirschung rissen an ihm. Er war, wie immer, bitter berührt von der wahrhaft kindlichen Unschuld, der anständigen Festigkeit, die ihrem Leben zu Grunde lag.
»Mach Dir keine Gedanken!« sagte er und wandte sich jäh ab. »Es ist nicht Dein Fehler, wenn ich es nicht bin. Ich werde Dir keine Vorwürfe machen. Gutnacht!«
Das Licht in der Küche ging aus. Er hörte, wie die Tür von Elizas Kammer leise ins Schloß schnappte. Ein kühler Luftzug wehte durchs Haus. Langsam, pochenden Herzens, stieg er die Treppe hinauf.
Aber auf der dunklen Treppe, wo der dicke Teppichläufer den Laut seiner Tritte erstickte, prallte er unversehens auf eine Frau. An dem Magnoliengeruch erkannte er, daß es Mistress Selborne war. Sie hielten einander einen Augenblick bei den Armen, mit angehaltnem Atem. Ein paar Strähnen ihres blonden Haars streiften sein Gesicht.
»Pst!« wisperte sie.
So standen sie da, Brust an Brust, das einzige Mal, daß sie einander berührten. Und, jedes in seinem dunklen Wissen um das Leben des andern bestätigt, trennten sie sich, um sich fortan mit ruhigen Augen, die nichts verrieten, vor der Welt zu begegnen.
Er tastete vorsichtig den dunklen Gang entlang, bis er an die Zimmertür der sogenannten Miss Brown kam. Die Tür war angelehnt. Er ging hinein.
Sie nahm alle die Medaillen, die er in Leonards Schule gewonnen hatte: Die eine im Diskussionswettbewerb, die andre für Deklamation und die bronzene für William Shakespeare. W. S. 1616-19. Für einen Dukaten ward's getan!
Er hatte kein Geld, um ihr es zu geben. Sie verlangte nicht viel. Jedesmal eine Silbermünze oder zwei. Es wäre ihr, so erklärte sie, nicht ums Geld zu tun. Es wäre wegen des Prinzips. Er erkannte ihren Standpunkt als richtig an.
»Wenn ich Geld wollte, würde ich mich nicht mit Dir abgeben. Ich kriege täglich Anträge. Der reiche, alte Tyson stellt mir nach, seit ich hier bin. Er bot mir zehn Dollar, wenn ich mit ihm ins Auto ginge. Dein Geld brauch ich wahrhaftig nicht. Aber Du mußt mir etwas geben dafür, es ist mir gleich, wie wenig es ist. Ich käme mir sonst unanständig vor; ich habe zuviel Selbstachtung. Ich bin keine von den kleinen Gelegenheitsschneppen, wie sie hier zu Dutzenden herumlaufen.«
So gab er, statt Geldes, die Medaillen zum Pfand.
»Wenn Du sie nicht einlöst«, sagte die sogenannte Miss Brown, »werde ich sie meinem Sohn geben, wenn ich nach Hause komme.«
»Hast Du'nen Sohn?«
»Ja. Er ist achtzehn. Beinah so groß wie Du und doppelt so breit. Die Mädchen sind wie verrückt hinter ihm her.«
Er