Es war nun alles vorüber. Der Oberförster lag in der kühlen Erde, und seines Kindes Hand legte die ersten Veilchen auf den frischen Hügel. Sie kniete nieder an dem Grabe und breitete ihre Arme darüber aus, als wollte sie es umarmen, und endlich löste sich ihr starrer Schmerz, eine heiße Tränenflut stürzte ihr aus den Augen.
Es war schon spät, als die alte Dore kam, sie abzuholen.
»Kommen Sie heim, Kindchen,« sagte sie, »es tut nicht gut, wenn der Frühlings-Abendtau auf einen fällt, der taugt nur für Pflanzen!«
Rose erhob sich von den Knien, und ehe sie ging, strich sie noch einmal mit der Hand über das Grab, als ob der Tote drunten dies Zeichen ihrer Liebe fühlen könnte.
An der Kirchhofstür blieb sie stehen und sah zurück; es dämmerte schon stark, und ein feiner Nebel senkte sich wie ein Schleier auf die Gräber des Gottesackers am Waldessaum.
»Tot,« sagte sie mit zuckendem Munde, »tot, und ich, ich bin verwaist und allein!« Es war eine böse Nacht für die Heiderose, unruhig warf sie sich auf den Kissen umher, und fieberhafte Träume verfolgten sie.
»Das kommt vom Abendtau,« murmelte die alte Dore, die am Bett ihrer jungen Herrin wachte und oft liebevoll die brennend heißen Hände drückte und die goldroten Löckchen von Roses Stirn strich.
Gegen Morgen wurde sie ruhiger, und ein erquickender Schlaf stärkte die abgespannten, erregten Nerven. Als sie erwachte, schien die Sonne hell in ihr Stübchen, und schnell war sie angekleidet und hinausgeeilt in den taufrischen, grünen Wald, dessen leises Rauschen ihr so vertraut und lieb war.
Langsam schritt sie dahin auf dem schmalen Waldweg, frei wehte die Frühlingsluft um ihre Stirn, und mit durstigen Zügen sog sie den würzigen Tannenhauch ein. Die Welt lag da wie in Gold getaucht, so ruhig, so friedlich wie eine Verheißung – leise, unmerklich fast wich der verzweifelnde Schmerz aus Roses jungem Herzen, und an seiner Stelle kehrte die sanfte, tiefe und wahre Trauer in ihr ein, die nicht mit dem schwarzen Gewand wieder ausgezogen wird, sondern unvergessen dem Menschen bleibt.
Ruhiger geworden, trat Rose aus dem Wald hinaus und schritt nun querfeldein, die blauen Veilchen pflückend, die ihr zu Füßen überall sproßten, und nach kurzer Wanderung gelangte sie an eine lange Lindenallee, an deren Ende ihr die freundlichen weißen Mauern des Hochfeldener Herrenhauses entgegenblinkten. Herr und Frau von Hochfelden saßen in der Gartenhalle, zurückgeschobenes Frühstücksgerät zeigte, daß sie den schönen Morgen dazu benutzt hatten, den Kaffee im Freien zu nehmen. Der Hausherr eilte Rose entgegen, als er ihrer ansichtig wurde, und seine Frau reichte ihr schon von weitem die Hand zum Gruße entgegen, – sie war durch eine Lähmung seit Jahren an ihren Rollstuhl gefesselt.
»Willkommen, Heideröslein,« rief sie freundlich, »tausendmal willkommen. Ich hatte dich erwartet, denn ich kann ja nicht zu dir kommen! Armes, armes Kind!«
»Ich war im Wald,« sagte Rose, »und die frische Luft hat mir wohlgetan! Gottlob, daß es Frühling ist, im Winter wär's schwerer zu tragen gewesen. Es tat mir so wohl und wehe zugleich, die Wege zu gehen, die ich so oft mit dem Vater gewandert bin. Bald werden Fremde sie gehen,« setzte sie leise hinzu.
»Das ist der Lauf der Welt,« sagte Hochfelden in tröstendem Ton. »Diese Fremden sollen dich nicht sehr belästigen, Rose,« rief Frau von Hochfelden herzlich, »höre unseren Plan: Wir wollen dich bei uns haben, Kind, du sollst ganz zu uns übersiedeln. Wir wollen schon dafür sorgen, daß das Heideröslein wieder blüht wie früher.«
»Ja, schlag ein,« rief Hochfelden freundlichen Blicks, »wir bieten dir gern unser Haus als Heimat, und daß wir deine besten Freunde sind, davon bist du überzeugt, nicht wahr?«
Rose war blaß geworden. Sie lehnte, mit den Händen das Gesicht bedeckend, an dem Gitter der Gartenhalle. Ein schwerer Kampf war's, aber sie bedachte sich nicht lange.
»Ich weiß,« sagte sie langsam und fest, »ich weiß, daß ihr meine Freunde seid, und danke euch von ganzem Herzen für eure Güte – aber ich kann sie nicht annehmen. Ich bin arm, mein Vater hat mir nichts hinterlassen, das mich in die Lage setzen könnte, zu leben, wie es mir beliebt! Ich muß mir folglich mein Brot verdienen.«
»Rose, wenn du bei uns bist, brauchst du durchaus keine Sorgen zu haben, und –«
»Aber ich würde müßig gehen, und das will ich nicht,« erwiderte Rose ruhig und fest, »mein Vater pflegte stets zu sagen, daß er Müßiggänger wie die Sünde hasse, und er hatte recht. Eure Güte würde mir wie ein Almosen vorkommen, und – ich, ich bin zu stolz, um das anzunehmen.«
»Aber was willst du tun, Rose? Überlege es wohl, du bist ein verwöhntes Kind!«
»Nein, das bin ich nicht,« entgegnete das junge Mädchen ernst, »verwöhnt durch Liebe bin ich wohl, aber nicht in dem Sinne, in dem ein verwöhntes Kind betrachtet wird. Ich kam heute zu euch, um zu fragen, ob ihr mich für fähig haltet, die Stelle einer Gesellschafterin und Vorleserin in fremdem Hause auszufüllen. Antwortet mir ohne Rückhalt, ich bitte darum.«
Sie sah fast flehend auf die zarte Dame herab, die sie voll Teilnahme betrachtete.
»Ja,« sagte Frau von Hochfelden nach einer Pause, »ja, ich denke, das könntest du schon, du sprichst zwei Sprachen mit Gewandtheit, und dein Vortrag ist angenehm. Doch bedenke, daß es nicht leicht ist für ein junges, lebhaftes Mädchen, wie du es bist, sich freundlich in jede Laune einer Dame zu finden. Das Brot der Dienstbarkeit ist ein sehr hartes, doppelt hart aber für die, welche stolz sind.«
»Ich werde es nicht mehr sein, wenn ich's nicht mehr sein darf,« erwiderte Rose so zuversichtlich, daß Hochfelden vor sich hinmurmelte: »Kleiner Eisenkopf – die setzt durch, was sie sich vornimmt.«
Rose hatte diese Worte verstanden. »Ich hoffe, du beurteilst mich richtig,« sagte sie mit leisem Lächeln.
»Nun wohl,« meinte Frau von Hochfelden, »gesetzt also, du wirst dies harte Brot ertragen mit der Kraft, welche Gott denen verleiht, die es mit dem ›feindlichen Leben‹ aufnehmen müssen. Für dich gibt es aber noch andere Bedenken. Erstens bist du sehr jung –«
»Dieser Fehler bessert sich mit jedem Tage,« fiel Rose ein.
»Dann bist du wirklich zu – zu hübsch für eine solche Stellung. Der Schutz, den der Mensch sich selbst gewährt, ist zwar der beste, und von Leuten, die nur tugendhaft bleiben, wenn sie ständig überwacht werden, halte ich nicht viel, aber dennoch –«
»Vater nannte mich nicht umsonst ›Heideröslein‹. Ich habe meine Dornen und kann stechen.«
»Endlich, liebe Rose, ist das schwerste Hindernis für dich dein Titel. Wer wird sich eine Baronesse ins Haus nehmen! Man knüpft daran gleich die Vorstellung einer anmaßenden Person, man möchte ihr besondere Rücksicht gönnen, und man will doch nicht, man fühlt sich neben der Gesellschafterin beengt und gezwungen, besonders, wenn man selbst dem Adel nicht angehört, und ist dies der Fall, so ist die arme Standesgenossin, die man bezahlt, stets eine Art von Vorwurf, ein Stein des Anstoßes – ich kenne das aus Erfahrung.«
»Ich habe auch daran gedacht,« erwiderte Rose, »ich kann aber in einem fremden Hause die ›Baronesse‹ ablegen und einen einfachen bürgerlichen Namen annehmen. Habe ich nun eure Bedenken alle beseitigt?«
»Du hast sie nur bekämpft, liebes Kind! Aber wir sind nicht überzeugt.«
»Und wenn ich,« setzte Hochfelden hinzu, »wenn ich nun, als der von deinem Vater für dich ernannte Vormund, Einspruch einlege?«
»Das wirst du nicht, ich weiß es,« sagte Rose freundlich, »denn ich will ja nur im Sinne meines Vaters handeln. Wäre ich ein einfaches, bürgerliches Mädchen, so müßte ich eben hinaus in die Welt, um meine Schwingen zu versuchen, während ich jetzt freiwillig tue, was mich eben dieser Stolz, den ihr