Beim Durchgehen durch das kleine Bibliothekzimmer neben ihrer Schlafstube fand sie einen mächtigen Band auf dem Tische liegen, den sie vorher nicht gesehen. Auf ihre Frage berichtete Ramo, daß Doktor Ruß den Band heut' Nachmittag, als Dolores ausgegangen war, selbst heraufgebracht und, da er sie nicht antraf, hier niedergelegt und mit Zeichen versehen hatte. Er, Ramo, sei indes abgerufen worden und als er nach ein paar Minuten wieder zurückgekehrt sei, um dem Herrn Doktor die Thür zu öffnen, habe er Doktor Ruß oben nicht mehr angetroffen.
»Ich hab's im ganzen nicht gern, wenn jemand sich in meinen Zimmern aufhält, während ich ausgegangen bin,« meinte Dolores, sich setzend, »doch das soll kein Tadel für dich sein, lieber Ramo.«
»Ich weiß, meine Herrin ist gütig,« murmelte der erprobte Diener beschämt. »Und wenn mich Tereza nicht für einen Moment in den Korridor gerufen hätte, wäre Herr Doktor auch nicht allein hier zurückgeblieben.«
»O, ich meine ja nicht, daß Doktor Ruß oder jemand anderes hier etwas Unrechtes thun würde,« erwiderte Dolores lächelnd über die Auffassung Ramos. »Mir ist nur der Gedanke fatal, daß ich meine Zimmer nicht immer für mich allein habe.«
»Sehr wohl,« erwiderte Ramo, dessen Fehler langsames Begreifen nicht war, und ging mit einem unterthänigen »Gute Nacht!«
Dolores schlug den gebrachten Band auf – es war eine alte Meriansche Chronik, von welcher Doktor Ruß ihr gesprochen und die er aus der großen Bibliothek hervorgesucht hatte. Trotzdem sie für diese Litteratur großes Interesse hatte, las sie heut' dennoch nicht jene naiven und schlichten Berichte »kurioser Begebenheiten« vergangener Jahrhunderte, sondern blätterte zerstreut in den Kupferstichen und Holzschnitten, welche verschwenderisch die Chronik zierten. Darüber wurde sie müde, und als sie sich erheben wollte, um schlafen zu gehen, da überkam es sie mit solcher Mattigkeit, daß sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte und die Augen schloß. Da hatte sie das angenehme, wohlige Gefühl, langsam und leise zu schweben, gelehnt in einen festen, sicheren Arm, und als sie wieder festen Boden unter sich spürte und mit Anstrengung versuchte, die Augen zu öffnen, da sah sie sich oder glaubte sich vor dem Bilde der Ahnfrau drinnen zu sehen im Saal, trotzdem sie keinen Fuß gerührt hatte, hinein zu gehen. Und die Ahnfrau trat aus dem Rahmen heraus und an ihre Seite.
»Ich habe seinen Arm berührt, daß die Kugel dich nicht traf,« hörte sie die sanfte, traurige Stimme sagen.
»Wer? Wessen Arm?« wollte Dolores sagen, aber sie fühlte, daß sie ihre Zunge nicht regen konnte. Und die Ahnfrau legte die weißen, schlanken Hände auf ihr Haupt.
»Es ist nicht an uns, anzuklagen und zu richten. Denke daran, daß die Gefahr noch nicht vorüber ist,« schien sie zu sagen.
Und wieder war es Dolores, als schwebte, schwebte, schwebte sie, und käme wieder hinab auf die Erde – da fuhr sie empor mit einem Schrei.
»Die Herrin hat schon geträumt,« sagte Tereza mit einem Lächeln auf den schwarzen Zügen, indem sie aus der Thür, in der sie gestanden, näher trat.
»Geträumt?!« wiederholte Dolores schlafbefangen.
»Nur kurz, nur ganz kurz,« meinte die alte Negerin beruhigend. »Du gingst hinein in den Saal, Herrin, und kamst sehr bald wieder zurück, und sankst in deinen Stuhl und träumtest. Soll ich dich nicht lieber zu Bett bringen?«
»Ja,« sagte Dolores. »Also ich war im Saale drinnen?«
***
Der andere Tag kam, und mit ihm kamen die von Lolo Falkner so heiß ersehnten Husaren und brachten neues, frisches Leben mit einem Schlage wieder in die grüne Waldeinsamkeit des Falkenhofs und von Monrepos. Freilich, mit der träumerischen Ruhe, die über den Schlössern schwebte und webte, war's wieder für Wochen vorüber, denn Sporenklirren, Säbelrasseln, Wiehern, Stampfen und Trompetensignale verscheuchten die Stille des thaufrischen Morgens, der Sommermittagsschwüle und der warmen Abende, und der Mond, der sein Licht so gern aufsaugen ließ von den goldbronzefarbenen Haarmassen auf Dolores' Haupt und von ihren weißen Kleidern, die sich so weich um ihre schöne Gestalt schmiegten – der es funkeln, flimmern und gleißen ließ in dem Staubsprühregen der Fontänen und geheimnisvoll durch das dichte Laubwerk und über die stillen dunkeln Wasser des Hexenloches huschen ließ – dieses selbe Licht versilberte jetzt noch die Tressen, Schnüre und Waffen der Husarenoffiziere, wenn sie abends auf der Terrasse saßen und auf die köstlichen Pfirsiche, welche die Spaliere des Falkenhofs lieferten, kalten Sekt gossen und diese köstlichste und einfachste aller Bowlen behaglich schlürften. Denn das Wetter befürwortete diese langen, herrlichen Abende auf der Terrasse sehr – es war ein ideales, warmes, sonniges Erntewetter, und das Plus an Hitze milderte ein gelegentlicher kurzer, aber erquickender Gewitterregen stets zur richtigen Zeit. Natürlich waren von den im Falkenhof einquartierten Herren zwei Drittel passionierte Jäger. Sie hatten zum Teil sogar ihre Hühnerhunde mitgebracht und, kaum waren sie aus dem Dienste gekommen und vom Pferde gestiegen, benutzten sie sogleich die gegebene Erlaubnis und gingen auf die Hühnerjagd. Die Jagd auf Hasen sollte zwar erst eröffnet werden, doch die Waldungen des Falkenhofs boten auch ein reich bestelltes Revier für Rehe und Hirsche, und so wurde das Reich der Freiin Dolores für die gewaltigen Nimrode im Husarenattila ein Paradies, das einst verlassen zu müssen sie heut' schon mit tiefstem Bedauern erfüllte.
Gewaltiger noch wurde die Aufregung und Jagdleidenschaft, als die Herren eines Abends die Nachricht mitbrachten, daß ein Steinadler mit gewaltiger Flugspannung im Falkenhofer Revier gesehen worden sei. Ein Förster meldete gleichzeitig, daß der Gewaltige schon Raubzüge auf Rehkitzen und junge Feldhühner mit Erfolg ausgeführt habe. Nun wurde dieser höhere Sport zur Notwendigkeit, doch die List und Wachsamkeit dieses verflogenen königlichen Vogels trotzte beharrlich der Geschicklichkeit und sicheren Hand seiner Verfolger.
Mit den Husaren war auch Keppler wieder in Monrepos angekommen und hatte sich alsbald auch im Falkenhof gemeldet.
»Da bin ich schon wieder,« hatte er gesagt, »ich, der ich kaum früher Zeit hatte, um die Aufträge der Fürsten dieser Welt anzunehmen, ich bin freiwillig hier, um das rosige Kindergesichtchen einer Lolo Falkner zu vollenden. Nein, Fräulein Dolores, Sie müssen mich nicht tadelnd ansehen, denn was können Sie für den Geschmack Alfred Falkners? Nichts, obgleich ich ihm einen besseren zugetraut hätte; oder wollen Sie's leugnen, daß die Baronin Lolo hübsch, aber oberflächlich und unbedeutend ist? Ja, wenn's noch die Großherzogin Alexandra wäre –!«
»Warum sind Sie denn gekommen?« fragte Dolores abweisend.
Keppler sah sie an und lächelte trüb.
»Warum? Es zog mich her – ich hatte keine Ruhe daheim, keine Ruhe auf der beabsichtigten Studienreise. Und die Leute hier sind ein schöner Völkerschlag – ich kann auch hier Studien machen.«
»Lolo wird wenig oder gar keine Zeit für Sie haben,« sagte Dolores ernsthaft.
»Wahrscheinlich nicht, denn sie ist fast noch ein Kind, das gern mit Puppen spielt. Und die Husaren leuchten so schön in ihren roten Röcken, während ich einen grauen Sommeranzug trage und nicht einmal mehr den Frack, wie in jener Zeit, da ich Ihre Durchlaucht, die Prinzeß Eleonore von Nordland malte. Falkner wollte es so.«
»Natürlich. Wenn Sie aber wissen, daß Lolo Ihnen nicht sitzen wird –«
»In der Ahnengalerie des Falkenhofs fehlt noch Ihr Bild, Fräulein Dolores, und ich bin ehrgeizig genug, dieses Porträt malen zu wollen. Was sagen Sie dazu, daß ich unter die Streber gegangen bin, unter die Bewerber um solchen Preis?«
Was sollte sie dazu sagen? Sie konnte die Bescheidenheit, die Demut des größten Porträtmalers nur bewundern und fand sie rührend – aber sie hätte doch verstehen müssen, daß diese Demut in der Liebe ihren Ursprung hatte.
»Sie haben mich schon einmal gemalt –« wandte sie ein.
»Als Satanella, ja. Aber dies Bild ist mein, es erinnert mich an die Zeit, da Sie den Purpurmantel wahrer Künstlergröße