»Sie sucht in seinem Gesicht zu lesen, was sie von der Sache denken darf und was nicht,« sagte sich Dolores und war froh, daß diese schrecklichen Augen nicht auf sie starrten – unausgesetzt starrten, ohne daß ihre Wimpern gezuckt hätten. Doch auch dem Doktor Ruß, der es anfangs nicht zu bemerken schien, wurde dies Anstarren zu viel.
»Es ist feucht, mein Liebling,« flötete er, sich plötzlich zu seiner Frau wendend. »Ich fürchte für deinen Rheumatismus. ›Refma‹ nennt unser guter Graf Schinga dieses Übel,« wandte er sich lächelnd an Dolores.
»Ich habe keinen Rheumatismus,« sagte Frau Ruß, ohne ihrem Blicke eine andere Richtung zu geben.
»Dennoch würde ich dir raten, hineinzugehen, damit du ihn nicht bekömmst,« schlug Doktor Ruß liebevollen Tones vor, und da seine Frau noch zögerte, sagte er etwas scharf: »Nun, meine Teure?«
Da begann sie gehorsam ihren Strickstrumpf zusammenzurollen, ohne die Augen von ihm abzuwenden, doch ehe sie noch fertig damit war, erscholl unten eine helle, frische Stimme. Es war Lolo Falkner.
»Salem aleikum!« rief sie, die Treppen hinaufspringend. »Ich komme, mir eine Tasse Thee und ein Butterbrot ausbitten, Dolores, denn ich habe einen Mordshunger. Wir haben heut' früher diniert, weil unsere Herren von der Artillerie abrücken mußten – na, die vertragen schweres Geschütz vom alten Rheinwein! Dann, wie sie weg waren, habe ich geschlafen und nun bin ich hergelaufen, weil mir so furchtbar einsam war. Darf ich bleiben?«
»Aber ich bitte darum,« sagte Dolores, die vorher den beiden noch zuflüsterte: »Bitte, nichts von dem Schuß sagen!«
Lolo reichte ihr und Doktor Ruß die Hand, that, als ob sie die ihrer Schwiegermutter küßte, und setzte sich, den Hut fortwerfend.
»Wo ist denn dein Mann?« fragte Frau Ruß, welche nun ruhig sitzen blieb.
»Alfred? Ich weiß nicht – er wird wohl zu Hause sein,« meinte Lolo unbefangen.
»Ja, weiß er denn nicht, daß du hier bist?« inquirierte Frau Ruß weiter.
»I, keine Spur,« versicherte die junge Frau. »Woher soll er's denn wissen? Ich hab's ja niemand gesagt, als ich fortging.«
»Nun, dann brauchte dir ja nicht so furchtbar bange zu sein, wenn Alfred zu Hause war,« setzte Frau Ruß das Gespräch fort.
»Was? Mit Alfred allein bleiben? Schrecklicher Gedanke,« rief Lolo entsetzt. »Ein Ehepaar allein zusammen ist der Inbegriff der Langeweile, das mußt du ja aus doppelter Erfahrung selbst wissen, Mama!«
»Hm! Hm! Hm! Hm!« sang Doktor Ruß eine harpegierte Quart und kicherte lautlos in sich hinein, während über Dolores ein Zorngefühl kam, als müsse sie aufspringen und die kleine Freifrau gründlich beuteln.
»Ich finde, diese Erfahrung kommt für dich etwas früh,« entgegnete Frau Ruß schlagfertig, aber fliegenden Atems vor Erregung.
Lolo Falkner lachte.
»Er ist ja sonst ganz nett,« gab sie großmütig zu, und dann ihre langen Handschuhe zusammenballend und in die Luft werfend, sang sie aus voller Kehle: »Und morgen kommen die Husaren –! – Du, Dolores, morgen kommt auch dein alter Freund, der Kleckser, um mein Gesicht fertig zu pinseln – na, wie heißt er denn gleich?«
»Der Name Johannes Keppler ist von europäischem Ruf,« sagte Dolores finster und steif.
»Als ob mich das verpflichtete, jeden Anstreicher zu kennen,« lachte Lolo in unverändert guter Laune.
In diesem Moment bog Falkner um die Ecke und trat alsbald auf die Terrasse.
»Ah – da haben wir ja denselben Gedanken gehabt,« meinte Lolo gedehnt, als sie ihm zwei Finger zum Gruß reichte. »Du kommst doch auch, Dolores zu besuchen?«
»Auch das, wenn sie es gestattet,« erwiderte Falkner etwas scharf. »Aber ich kam eigentlich, dich zu holen –«
»Ja schöne Seelen finden sich
Zu Wasser und zu Lande«
trällerte Lolo.
»Es wäre in jedem Falle sehr freundlich gewesen, mich von deinem Ausgange zu unterrichten,« bemerkte Falkner.
»Na, da habt ihr die Standpauke,« rief Lolo mit komischer Resignation. »Ich hab's ja gleich gesagt, solch' ein Ehepaar ist eine schöne ›Stütze der Gesellschaft,‹ in Bezug auf interessante Konversation.«
»Ich höre eben, daß Keppler morgen kommt,« fiel Dolores schnell ein, um weitere Auseinandersetzungen der jungen Frau zu verhindern.
»Ja, er kommt,« sagte Falkner rauh, »aber ich fürchte, seine Zeit wird verloren sein, denn die Stunden, die mir verweigert sind, dürften ihm kaum gewährt werden.«
»Cela dépends,« warf Lolo lustig ein.
Falkner stand auf.
»Wir wollen nach Hause gehen,« sagte er, mühsam beherrscht.
Aber sie rührte sich nicht vom Flecke.
»Erst mein Abendbrot,« rief sie, mit ihren Handschuhen spielend.
Und sie blieb wirklich, bis Thee und kalte Küche serviert waren, dann erhob sie sich auf das Zeichen ihres Mannes.
»Wir haben nun gegessen und sind geworden satt,
Hätt's aber mehr gegeben, hätt's auch nichts geschad't«
deklamierte sie lustig.
Auf dem Heimwege sprachen sie kein Wort, und Lolo füllte den langen Weg damit aus, daß sie wie ein Gassenbube allerlei Gassenhauer pfiff. In Monrepos angelangt, öffnete Falkner ihr die Thür ihres Boudoirs.
»Du wirst nach all dem wohl dein Zimmer einem gemeinschaftlichen Zusammenbleiben, das so wenig Chic ist, vorziehen,« sagte er.
»Mach' kein so brummiges Gesicht,« erwiderte sie lächelnd statt einer Antwort, und als er, finster genug dareinschauend, ein paar Schritte zurücktrat, fügte sie hinzu: »Wer wird denn jedes Wort, das man sagt, auf die Goldwage legen! Man renommiert manchmal und meint es anders – und besser!«
»Soll das eine Entschuldigung sein für dein Benehmen?« fragte er, trat in das Zimmer und schloß die Thür hinter sich.
»Entschuldigung?« murmelte sie verwundert. »Ja, habe ich denn nötig, mich zu entschuldigen? Und bei dir?«
Falkner nahm die Thürklinke wieder in die Hand.
»O, wenn du es nicht fühlst und dessen nicht bedarfst, dann ist die Sache ja erledigt,« sagte er bitter. Aber im Gehen besann er sich, daß er mit dem kleinen blonden Geschöpfe dort eine Verantwortung übernommen hatte – eine Verantwortung, schwer und ernst wie selten eine. Er beherrschte sich also nochmals und trat nah an die junge Frau heran. »Lolo,« sagte er herzlich und freundlich, »Lolo, ist es denn dir nie eingefallen, daß du mich durch deine Vernachlässigung kränken und betrüben könntest? Ist dir in dem tollen Treiben dieser Woche niemals der Gedanke an mich gekommen?«
»Wieso denn?« fragte sie naiv zurück. »Du warst ja immerzu da!«
»Aber deinem Herzen so weit,« ergänzte er herzlich.
Sie sah ihn groß an und tippte mit dem Zeigefinger ihrer rosigen Rechten auf ihre Stirn, auf der das blonde Haar wie Federn so duftig und leicht lag.
»Du bist verrückt, mein Kind!«
sang sie leise.
Ihm stieg die Zornesröte siedend ins Antlitz, und ein heftiges, böses Wort drängte sich ihm auf die Lippen, aber er bezwang beides.
»Lolo, kannst du ein ernstes Wort nicht auch einmal ernst anhören? Habe ich denn schon ganz aufgehört, dir etwas zu sein?«
»Ach,