Leben ist kälter als der Tod. Callum M. Conan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Callum M. Conan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741835629
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gebracht? Richtig, es war der Gedanke an den gestrigen Abend gewesen. Dabei war der Auftrag letztendlich erfolgreich ausgeführt. Der Spanier war tot und mehr hatte er nicht zu erledigen gehabt. Ob er dafür einen oder zwei Schüsse gebraucht hatte, spielte schließlich keine Rolle. Aber etwas anderes war passiert. Etwas, das er nicht wirklich zuordnen konnte. Es war der Blick dieser jungen Frau gewesen. Natürlich kannte er sie. Sie hieß Lavinia. Und wie aus einem Lexikon-Artikel hätte er eine Reihe von Informationen über sie aufzählen können, die ihm sofort ins Bewusstsein kamen. Aber da war dieses Gefühl, das sich mit den Informationen verband. Er hatte dieses Ziehen am gestrigen Tag zweimal verspürt. Bei ihrem Anblick war es noch um einiges stärker gewesen, als wenige Stunden zuvor. Fox hatte allerdings keine Erklärung dafür. Wenn er sich die Informationen über sie vor Augen rief, kamen ihm zwangsläufig Wörter wie Liebe, Heimat, Leben in den Sinn, aber ihm fehlte ein kognitiver Zusammenhang. Nur dieses Ziehen lieferte den Hinweis, dass es etwas Besonderes war. Die Verbindung passte nicht in sein übliches Schema. Sie war keine Gefahr, aber auch keine Kontaktperson oder kein Auftraggeber. Fox wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Eine Erinnerung schoss ihm durch den Kopf. Krampfhaft versuchte er, sie festzuhalten. Es war eine Situation vor vielen Jahren. Er saß dieser jungen Frau gegenüber und sie lächelte. Ein Glücksgefühl kam in ihm auf. Dieses Lächeln... Die Erinnerung verflüchtigte sich und verband sich mit einer Idee, die gegen eine automatische Verdrängung durch sein Gehirn ankämpfte. Irgendwie schaffte er es, diesen Gedanken festzuhalten. Ich hatte ein Leben. Was hatte dieser Gedanke nur zu bedeuten? Fox versuchte, diese Idee weiterzuentwickeln, sie zu bearbeiten, ihr einen verständlichen Bezug zu geben. Ich hatte ein Leben. Es wollte ihm in diesem Moment nicht gelingen, aber die Idee hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Ich hatte ein Leben und ich war glücklich...

      

      Lavinia Lichtsteiner saß mit leerem Blick in einem Straßencafé am Boulevard Saint-Michel in der Nähe der Sorbonne und stocherte mit einer Gabel in ihrem Fruchtsalat.

      -„Komm schon, Lavi, du musst doch wenigstens etwas essen“, ermunterte sie eine blonde Frau, die ihr gegenüber saß. Ihr Name war Mareen Schuhmacher.

      Draußen schlenderten vergnügte Passanten über den Bürgersteig und genossen die letzten hellen Minuten an diesem ersten Weihnachtsfeiertag. Die Sonne zeigte noch einmal ihre volle Pracht und ließ die Mansarddächer der Häuser am Boulevard aufleuchten. Mareen Schuhmacher hatte ihre beste Freundin vor einer knappen Stunde vom Flughafen Charles de Gaulle abgeholt und war mit ihr in dieses Café nahe der Universität gefahren, an der sie derzeit studierte. Noch in der Nacht hatte Lavinias Anruf sie aus dem Schlaf gerissen und die verzweifelte Stimme ihrer besten Freundin von den Geschehnissen in Barcelona berichtet. Es war Mareens Vorschlag gewesen, diesen Zwischenstopp in Paris einzulegen und nicht direkt von Barcelona in ihre westfälische Heimat zurückzukehren. Die Polizeibeamten hatten Lavinia nach Registrierung ihrer Daten offenbar die Ausreise aus Spanien erlaubt, was man durchaus als Glücksfall bezeichnen konnte. Nicht auszudenken, wenn ihre beste Freundin neben den Strapazen der allgemeinen Umstände auch noch selbst in den Mittelpunkt der Ermittlungen gerückt wäre.

      Mareen fühlte sich hilflos, ja beinahe selbst verzweifelt, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie ihrer besten Freundin in dieser Situation helfen konnte. Dass sie allein durch ihre Anwesenheit eine große Hilfe für Lavinia war, kam ihr dabei nicht in den Sinn. Sie wollte etwas tun, was die Situation verbesserte, aber wie sollte sie das anstellen? Konnte in dieser Lage überhaupt jemand etwas tun?

      -„Er hat Àlex getötet“, murmelte Lavinia leise. „Er hat Alex getötet. Warum nur, Mareen? Wieso hat er das getan?“ Der Schock war ihr weiterhin anzumerken.

      Mareen schluckte. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Aus ihrer Sicht gab es nichts, dass diesen Umstand erträglicher machen konnte.

      „Er wollte mich heiraten. Àlex wollte mich wirklich heiraten.“

      Mareen rückte mit ihrem Stuhl neben ihre Freundin und nahm sie mitfühlend in den Arm.

      „Und ich habe nein gesagt...“ Lavinia begann zu schluchzen. „Verstehst du, was ich sage? Ich habe seinen Antrag abgelehnt. Ich habe ihn abgelehnt, weil ich Colin das nicht antun wollte. Ich wollte warten. Wegen ihm...“ Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Mareen schwieg und umarmte sie noch fester.

      Fox kehrte in der Dämmerung zu seinem Hotel in der Calle de Esparteros zurück. In den zurückliegenden Stunden war er weiter durch die spanische Hauptstadt geirrt und hatte den Gedanken verfolgt, der ihn so beschäftigte. Immer wieder kamen Erinnerungsfetzen aus seiner Vergangenheit zutage, mit denen er vorerst nichts anfangen konnte. Das Problem war einfach, den Erinnerungen einen Bezug im Gesamtzusammenhang zu geben. Er hatte keine Amnesie, denn wenn er darüber nachdachte, konnte er sich an jedes noch so kleine Detail aus seinem bisherigen Leben erinnern. Doch so sehr er auch versuchte, das Puzzle zusammenzuhalten, es wollte ihm nicht gelingen.

      Die Luft im Zimmer war stickig, also öffnete er das Fenster. Draußen wehte ein leichter Wind. Fox klappte seinen Koffer auf und entnahm ihm eine kleine Kosmetiktasche. Einen Moment überlegte er, dann zog er den Reißverschluss zur Seite und wählte zwei Dosen sowie eine Spritze aus den Gegenständen aus. Die Spritze und die Dose mit der durchsichtigen Flüssigkeit waren nur für Notfälle gedacht, er hatte sie bislang nie selbst benutzt. Fox fragte sich, wann wohl die nächste routinemäßige Untersuchung der ESS-Mediziner bei ihm anstand. Es sollte nicht mehr allzu lange dauern. Wenn er richtig gerechnet hatte, war es nächste Woche so weit. Also steckte er die Spritze wieder in die Kosmetiktasche.

      Der Flügelschlag einer Taube ließ ihn aufhorchen. Das Tier machte es sich gerade auf dem Fensterbrett vor seinem Zimmer gemütlich. Fox öffnete die zweite Dose mit den Tabletten. Er hatte in den letzten beiden Tagen keine der Kapseln genommen, was gegen die Vorschrift war, aber bislang war das nie zu einem Problem geworden. Was genau bewirkten die Tabletten eigentlich? Es war das erste Mal, dass Fox sich diese Frage stellte, seit er vor knapp einem Jahr begonnen hatte, sie regelmäßig zu schlucken. Im Grunde musste er sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte. Es war nie wichtig gewesen. Solange die zuständigen Mediziner beim ESS sich darum kümmerten und sie ihm verschrieben, war es ihm absolut gleichgültig. Es würde schon einen Sinn haben. Aber heute war alles anders. Hatten vielleicht die fehlenden Tabletten diese Unsicherheit bei ihm ausgelöst?

      Fox schüttete sich zwei der Kapseln auf die Handfläche. Was würde nun passieren, wenn er sie nahm? Wären all die Gedanken, die ihm seit gestern Abend gekommen waren, einfach so verschwunden? Konnte das sein? Er war überrascht, wie viele Fragen er sich stellen konnte. Das war ebenfalls etwas Neues. Und doch erinnerte er sich an Zeiten, in denen gerade das zu seinem täglichen Leben gehörte. Was war passiert? Das war die einzige Erinnerung, die ihm komplett fehlte. Wie war er so geworden, wie er heute war? Fox verschloss die Dose wieder und warf sie in seinen Koffer. Erst wenn er eine Antwort auf diese Frage hatte, würde er das Risiko eingehen, die Gedanken an sein früheres Leben wieder zu vergessen. Seine Pflicht konnte er auch ohne die Kapseln erfüllen. Wenn alles normal lief, würde er in dieser Woche ohnehin noch zu einer Untersuchung nach Rorschach reisen.

       11 Monate zuvor:

      Ronald Freud winkte seinen Vertrauten herein, als dieser vor seiner gläsernen Bürotür erschien. Constantin Fröhlich trat ein und setzte sich auf den Sessel vor Freuds Schreibtisch. Draußen rieselten kleine Flocken vom Himmel und tauchten die Konstanzer Landschaft in ein strahlendes Weiß. Die Fußwege am Seerhein wurden gerade von einem städtischen Trupp vom Schnee befreit. Während Freud seine Brille putzte, nahm Fröhlich ein einzelnes Blatt Papier aus einem Umschlag. Er legte es nicht sofort auf die Glasplatte vor ihm, sondern wartete auf den Ausgang ihres Gesprächs, das noch gar nicht begonnen hatte.

      -„Wie es aussieht, gehen wir in die nächste Phase“, bemerkte der Leiter des ESS, als er das Brillenputztuch zur Seite legte und das Gestell wieder aufsetzte. „Sie müssen nicht alle Einzelheiten kennen, aber die Abteilung Delta hat sehr gute Arbeit geleistet und eine Liste von Namen zusammengestellt, die uns das bringt, was wir wollten. Sie können damit also Ihr Programm in die operative Phase überführen umsetzen. Ich erwarte, dass alles nach Plan läuft und wir keine Probleme bekommen.