Leben ist kälter als der Tod. Callum M. Conan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Callum M. Conan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741835629
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der Teil in seiner Erinnerung, wie es dazu gekommen war, aber er wusste, dass die letzten Monate bewusste Entscheidungen waren. So war ihm auch klar, dass er das hier nicht einfach so beenden konnte, zumal ihn die zahlreichen Fragen quälten. Alles musste irgendwie einen Sinn ergeben, so war es früher immer gewesen. Wenn nicht, so hatte es ihn über elend lange Zeiträume gequält. Warum war das alles im letzten Jahr ausgeschaltet? Warum begannen erst jetzt die Gesichter der Menschen, die er auf dem Gewissen hatte, ihn zu verfolgen? Er wusste es nicht und genau das machte ihm zu schaffen. Zumindest waren die letzten Stunden nicht völlig ohne Fortschritt geblieben. Fox nahm das ramponierte Handy des Amerikaners aus der Tasche. Die Anzeige leuchtete, also schien es noch funktionsfähig zu sein. Viele Informationen würde es allerdings nicht über seinen verstorbenen Besitzer preisgeben, bei dieser Generation der Ericsson-Modelle war es noch lediglich um das Telefonieren gegangen, das heute übliche Smartphone-Zubehör suchte man vergeblich.

      Fox öffnete das Menü. Einstellungen. Wecker. Kontaktliste. Letzte Anrufe. Was er gesucht hatte: Ihn interessierte, mit wem der Mann gesprochen hatte, bevor er selbst ihn so abrupt unterbrochen hatte. Die Anzeige blinkte rot. Fox erkannte, dass der Akku zur Neige ging. Schnell öffnete er die Liste der letzten Anrufe. An oberster Stelle stand eine einfache Nummer, kein Kontakteintrag. Fox nahm sein iPhone heraus und photographierte die Nummer. Er ging die Liste weiter nach unten durch. Nach der letztgewählten Nummer stand mehrfach der Name einer Frau: Marcy. Fox suchte gar nicht erst nach weiteren Informationen. Als die Anzeige bereits nur noch schwach leuchtete und kaum noch etwas zu erkennen war, erreichte er das Ende der Liste. Ein Name stand da, der ihn zusammenfahren ließ. Die Nummer war vor über einer Woche gewählt worden. Er versuchte noch, den Kontakt zu öffnen, um etwaige gespeicherte Zusatzinformationen zu lesen, aber der Akku gab den Geist auf, die Anzeige wurde schwarz. Fox atmete hörbar aus. Nach einem kurzen Moment steckte er das Handy wieder in seine Jacketttasche. Es war dieser Name, der seinen Puls beschleunigte. Der Name, mit dem er nicht nur eine schlechte Erinnerung verband, der ihm aber einen Satz des Mannes ins Gedächtnis rief, der ihn zusammenfahren ließ: „Sie dürfen leben, so wie ich es darf – aber Sie werden es in Schande tun.“ Der Name des Mannes war William St.John-Smith.

      4

      Daten sammeln

      

       Zehn Monate zuvor:

      Die silberne Mercedes-Benz-Limousine schob sich langsam in der langen Autoschlange weiter vorwärts. Dass die schweizerischen Grenzbeamten ausgerechnet am heutigen Tag ihre Kontrollen verschärft hatten, besserte Ronald Freuds ohnehin nur mäßige Laune nicht gerade. In einer knappen halben Stunde wollte er in Rorschach sein und nach derzeitigem Stand würde er das definitiv nicht schaffen. Natürlich hätte er mit seinem Dienstausweis die ganze Sache ein bisschen beschleunigen können, aber an den etlichen Autos und Lastkraftwagen gab es einfach kein Vorbeikommen. Ungeduldig trommelte er mit den Fingerspitzen auf den Türrahmen. Nicht einmal dazu waren die Schweizer also zu gebrauchen. Vermutlich war der Grund für den endlosen Stau nicht einmal eine Verschärfung der Kontrollen, sondern einfach nur ein dämlicher Beamter, der vergessen hatte, die richtige Spur für den Verkehrsfluss zu öffnen. Warum nur mussten die Eidgenossen auch diesen Firlefanz veranstalten? Der einzige mitteleuropäische Binnenstaat, der sich nicht an der Europäischen Union beteiligte spielte immer wieder die Karte der Unabhängigkeit und nervte damit den Rest der Welt. Zumindest hatte es keine größeren Probleme bei der Nutzung des Würth-Gebäudes in Rorschach gegeben, wenigstens das war eine positive Sache.

      Vom wolkenverhangenen Himmel rieselten einige wenige Schneeflocken, die auf dem Boden sofort schmolzen. Angewidert wandte sich Freud vom Fenster ab und seinem Fahrer zu.

      -„Na, geht es wohl heute noch weiter?“

      -„Das kann ich Ihnen nicht versprechen. Wir hätten die B33 nehmen sollen, hier in der City gibt’s häufiger so einen Stau.“

      Freud musste sich zusammen reißen, um nicht aus der Haut zu fahren. Da maß sich sein Fahrer doch tatsächlich an, ihm einen Vorwurf zu machen, weil er vorgeschlagen hatte, durch die Stadt zu fahren. Natürlich wäre es vom ESS-Hauptquartier der schnellere Weg über die Bundesstraße gewesen, aber da er noch einen Kaffee in seinem bevorzugten Konstanzer Café trinken wollte, hatte er seinen Fahrer gebeten, den Umweg in Kauf zu nehmen. So standen sie nun in dieser elend langen Autoschlange, die sich durch die engen Straßen von Konstanz wand, bis sie sich nach der Zollstation inmitten eines dicht bebauten Wohnblocks plötzlich auflöste. Es hatte fast etwas von der Deutsch-Deutschen Grenze in Berlin zu Zeiten der DDR, nur dass man hier tatsächlich von einer Stadt in die andere fuhr – von Konstanz nach Kreuzlingen – und nicht eine künstlich geschaffene Barriere überquerte. Fehlt nur noch, dass sie eine Mauer bauen, dachte Freud angesäuert, während er eine Aktenmappe vom freien Platz neben sich nahm.

      Er war bislang nicht dazu gekommen, intensiver in diese Unterlagen zu schauen, aber wie es aussah, hatte Miss Maytree erstaunlich gute Arbeit geleistet. Es beruhigte ihn zu wissen, dass neben dem offiziellen Webauftritt und einigen Pressemeldungen kaum Informationen oder Gerüchte über den European Secret Service in der Öffentlichkeit existierten. Ein derartiges Ergebnis hatte er sich von der Recherche erhofft. Zumal es bekanntermaßen, und von Miss Maytree durch einige Beispiel-Berichte gestützt, bei ähnlichen Geheimdiensten ziemlich anders aussah.

      Freud blätterte durch die Seiten des Berichts. In der kurzen Zusammenfassung auf der zweiten Seite, die er gerade gelesen hatte, verwies Lisa Maytree auf einige wenige Blogeinträge, die sich allerdings eher neutral oder indirekt mit dem ESS beschäftigten, also zu vernachlässigen waren. Trotzdem wollte er sich anhand einiger Beispiele selbst einen Eindruck verschaffen.

       …auch die EU überwacht uns… ESS neuer Geheimdienst… Fuck the EU…

      

       …ebenso wie CIA, MI6 und ESS… Was ist ESS?... Neuer Geheimdienst in Europa…

      

       Wer ne Ahnung, was der ESS ist?... Der Englische Support Service?...

      

      So oder ähnlich lauteten alle Ausschnitte, die Maytree gefunden hatte. Wie er es sich gedacht hatte: zu vernachlässigen. Während darüber spekuliert wurde, welche Folterprogramme die CIA organisierte, welche Mordkommandos auf die Kappe des Mossad gingen oder wen die NSA oder das GCHQ alles abhörten, wurde der European Secret Service in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Ein Zeitungsartikel aus dem Gründungsjahr des ESS war von Miss Maytree allerdings besonders gekennzeichnet worden. Offenbar war der Autor zum damaligen Zeitpunkt nicht fest bei dem Verlag angestellt gewesen oder hatte sein Volontariat absolviert. Ausführliche Informationen über ihn hatte Maytree nicht hinzugefügt.

      Freud überflog den Artikel. Der Mann hatte offenbar eine besondere Gabe: Die Informationen waren erstaunlich gut recherchiert, auch wenn Freud zu der ein oder anderen Aussage keine Einschätzung abgeben konnte, weil er die Abläufe zum damaligen Zeitpunkt nicht gekannt hatte. Darüber hinaus machte es aber sogar ihm Spaß, die Zeilen zu lesen. Inhaltlich ging es vorwiegend um eine Einschätzung der Position dieses neuen Geheimdienstes, über den – Freud musste schmunzeln, als er die Anmerkung las – so gut wie nichts öffentlich bekannt war. Solange es dabei blieb, konnte er sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Durchaus eine nette Vorstellung. Und wenn sogar ein herausragend guter Journalist wie der Autor dieses Artikels bei seinen Recherchen keine kritischen Details über den ESS fand und lediglich in ein paar Zeilen auf die Risiken dieser „neuen“ Institution hinwies, so konnte die Wahrscheinlichkeit dafür als ziemlich hoch eingeschätzt werden.

      Colin Fox saß in einem Internetcafé an der Plaza de Castilla und zermarterte sich das Hirn. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte zu dem Amerikaner, den er heute im Ritz getötet hatte. Wieder einmal eine Leiche, die auf sein Konto ging und er wusste nicht einmal, warum er diesen Auftrag bekommen hatte. Die Gedanken an die Schuld, die er in den letzten Monaten auf sich geladen hatte, wurden allerdings mehr und mehr von etwas Anderem verdrängt: Einem absoluten Hass auf den Mann, der alles Schlechte in seinem Leben zu verantworten hatte. Dass er dabei übersah,