D. Aelius Tullius war der älteste Sohn des Verwalters einer der Aquilaeischen Ziegeleien am oberen Tiber, einige zehn Meilen nördlich der Hauptstadt. Dieser sein Erzeuger war als Jugendlicher eher pro forma an den altadeligen Senator M. Aelius Aquila verkauft worden, um auf Besitzungen des Aristos an eine Berufsausbildung und dadurch eines Tages zu der für seinen Freikauf nötigen Summe zu kommen. Er war etwa Mitte zwanzig, als er eine zur Aquilaeischen Klientel gehörige, etwas ältere Freigelassene von ihm schwanger wurde. Allen war klar, daß die aus dem Rätischen stammende Frau es genau darauf angelegt hatte. Tatsächlich wurde mit der erwarteten Freilassung des Ziegeleiverwalters auch seine Ehe mit der inzwischen Hochschwangeren legalisiert. So rutschte der bald darauf geborene Tullius als Nachkomme Freigelassener in den Genuß des römischen Bürgerrechts.
Den rasch folgenden Geschwistern war er ein kleiner Tyrann und heranwachsend zeigte er bei guter Intelligenz nur ein geringes Interesse an formaler Bildung. Jedoch lernte er Lesen, Schreiben und Rechnen, ohne daß es jemanden besonders aufgefallen wäre. Nur seine Neigung, einer Gruppe von Gleichaltrigen und Jüngeren ein Anführer zu sein, der auch vor Gewaltanwendung zur Durchsetzung seines Willens nicht zurückschreckte, blieb vor allem denen länger in Erinnerung, die die Tränen ihrer Sprößlinge abzuwischen hatten.
Eher wortkarg, neigte Tullius auch Älteren oder Erwachsenen gegenüber nicht zu Liebedienerei und Schmeicheleien. Strafen nahm er mit dumpfem Trotz hin, ohne seine Schuld zu bemänteln oder um Milde zu betteln. Nach einem guten Speerwurf, einem gelungenen Bogenschuß zeigte er sich auf eine Art stolz, die den Anderen ärgerlich war, orthographische Fehler in Mauerinschriften korrigierte er dagegen beiläufig mit einem Stück Rötel aus seiner Beuteltasche, in die er niemanden, auch nicht seinen Geschwistern, jemals Einblick erlaubte. Unter den Kindern auf der Ziegelei kursierten sonderbare Gerüchte deswegen. Er stahl nicht und gab Fundsachen an ihre Besitzer zurück, wobei es allerdings vorkommen konnte, daß er bei einer solchen Gelegenheit um deren Überlassung bat. Auch bot er Bezahlung an, wenn er besonderen Gefallen an einem Gegenstand gefunden hatte, wobei es oft unklar blieb, was ihn daran so reizte. Bei einem guten Messer war das keine Frage, so etwas ist für einen Jungen immer von hohem Wert, aber was mochte es bei einer kleinen Bronzeschnalle von einem Pferdezaum sein, bei einem Streifen Leder?
Etwas Geld hatte er fast immer, auch da wußte niemand woher es kam. Manche seiner Altersgenossen waren schon hartherzige Händler, die es verstanden, ihre kleinen Profite aus allem zu schlagen, was durch ihre schmutzigen Hände ging, Gewinnanteile auf ausgeliehene Spielsteine zu berechnen und Schweigegelder für zu wahrende Geheimnisse ihrer Freunde zu verlangen. Tullius war ein verläßlicher Zeuge und Buchhalter für derlei Transaktionen, nicht wucherisch, auch nicht käuflich. Er war nicht sonderlich beliebt, jedoch kein Außenseiter, er schien mit der Zeit eher in die Breite als in die Höhe zu wachsen und hatte bald keine Schlägereien mehr, weil sich niemand mehr darauf einließ. Sein einziger engerer Freund Armanus, der Sohn eines der Ziegeleisklaven, war ihm mehr ein zu behütender Gefährte. Auch schätzte Tullius das warmherzige Miteinander in dessen Familie, in das er sich vor dem immerwährenden Keifen seiner durch die vielen Geburten ausgelaugten Mutter gerne flüchtete.
Die Aquilaeischen Ziegeleien hatten gut zu tun in den Jahren des späten Augustus, flußabwärts in Rom bauten sie, als ob ihnen das Geld niemals ausgehen würde. Unter den Tiberschiffern waren auffällig viele Judäer, kräftige Kerle mit seltsamer Sprache und seltsamen Frisuren, die gerne unter sich blieben. Ihr Latein klang wie eine Halskrankheit und an einem Tag in der Woche arbeiteten sie nicht. Dann machten sie nicht einmal Feuer, um sich das Essen zu wärmen, auch durften sie bei weitem nicht alles essen, was gut schmeckte. Sie waren keine Sklaven, schienen Tullius dennoch irgendwem zu gehören, einem der sie sich erwählt hatte vor langem. Ihre nicht unfreundlichen Erklärungsversuche für ihr Anderssein verstand er nicht recht, es ging um irgendein Gesetz ihres Tempels, aber der war offenbar sehr weit weg.
Als er seinem Vater kräftig genug schien, stellte der ihn an die Ziegelformen, wo er bis zu seinem siebzehnten Geburtstag blieb und, weder faul noch fleißig, den Tagessatz von zweihundertzwanzig Stück bald erfüllte. Er achtete darauf, ihn nicht zu überbieten, wurde dennoch bei seinen Kollegen nicht beliebter. Zeigte sich auch desinteressiert an kleineren Ämtern, Strichlisten zu führen oder Kollegen zu kontrollieren, obwohl es dafür einiges Geld gegeben hätte. Er wollte nicht seines Vaters Zuträger werden, doch half es ihm nicht; er blieb der Sohn des Verwalters.
Niemand war daher sonderlich erstaunt, als er sich zum Militär meldete, einigermaßen volljährig und im Besitz der Bürgerrechte, in die er eben noch rechtzeitig hinein geboren worden war. Er war dann zu einer der regulären Legionen im hintersten Gallien oder Germanien gekommen, mit zweihundertfünfundzwanzig Denaren Grundsold im Jahr, nicht gerechnet die Abzüge oder die Zulagen, für Sohlennägel zum Beispiel. Zwanzig Jahre Dienst bis zum Entlassungsgeld. Den Prätorianern, die immerhin siebenhundertfünfzig einsackten, war er nicht hoch genug gewachsen, der Patron hatte da schon im Vorfeld abgewinkt, und den höheren Sold hätten die Wucherpreise der Hauptstadt sowieso wieder aufgefressen. Wenigstens war er, dem Aquila sei Dank, der Alte hatte wirklich Beziehungen, nicht bei der Flotte gelandet, wo einer für deutlich geringeren Sold noch fünf Jahre länger zu dienen hatte. Und jeden Tag einen nassen Arsch. Unter griechischen Offizieren und auf Gewässern, von deren Farbe es hieß, daß sie nicht blau, sondern so grau sei wie das Blei der Wasserleitungen. Im Winter mit Eis bedeckt.
So kam es dann auch. Die Flüsse Mosel und Rhein strömten, wirbelten in stumpfem Graubraun, im alljährlichen Hochwasser lehmgelb, und das Meer im Norden konnte nur ein Verrückter oder ein friesischer Gott erschaffen haben – es atmete! Zweimal täglich verschwand es hinter den Horizont und kam doch immer wieder, als atmete es tief ein und aus.
Viele Jahre später, schon in Ostia, sollte er einen Reisebericht darüber lesen, der ihm Tränen in die Augen drückte, ihm ein Heimweh nach diesem verschissenen Land machte, nach diesen silberblonden, heftigen Weibern oder vielleicht auch nur nach seiner eigenen, längst vergangenen Jugend. Geschrieben hatte ihn der zweite Plinius, der jüngere.
»Nach Norden bekamen wir auch der Chauken Völkerschaften zu sehen. Dort setzt sich in endloser Ausdehnung der Ocean in Bewegung, den ewigen Streit der Natur in seinem Schoße bergend, und man zweifelt, ob man auf dem Lande ist oder auf Meeresboden. Da wohnen denn die bedauernswerten Menschen auf hohen Erdhügeln oder vielmehr von Menschenhand bis zur Höhe der höchsten Flut aufgetürmten Dämmen, auf die sie dann ihre Hütten gesetzt haben, wenn das Wasser alles bedeckt, Schiffenden ähnlich, wenn es gewichen ist, Schiffbrüchigen, und machen um ihre Katen her Jagd auf die mit der Meeresflut flüchtenden Fische. Ein Stück Vieh zu haben, sich von Milch zu nähren wie ihre Nachbarn, ja mit Tieren zu kämpfen, das Glück wird ihnen nicht zu Teil, denn da ist jeglicher Strauch verbannt. Von Schilf und Moorbinsen flechten sie Stricke, um Netze für den Fang der Fische zu wirken, und mit den Händen aufgefangenen Schlamm mehr am Wind als an der Sonne trocknend, kochen sie mit Erde ihre Speisen und wärmen den vom Nordwind starrenden Magen. Zu trinken haben sie nichts als im Vorhof in Gruben aufgefangenes Regenwasser. Und solch ein Volk mag noch, wenn es heut von den Römern besiegt wird, von Knechtschaft sprechen! Jawohl, es gibt Völker, die das Schicksal zu seiner Strafe verschont.«
Von zwei Sommerexpeditionen her kannte Tullius Friesland und wußte, das Plinius mit seinen Chauken, die wohl noch hinter dem Elbfluß lebten, eigentlich kein anderes Volk beschrieben hatte. An langen Marschtagen hatten die Friesenmädchen die geilsten Phantasien der Legionäre genährt, mit ihren wehenden Silbermähnen, ihrer sorglosen Kleidung. Ihre Augensprache war deutlich, diese dunklen Kerle machten sie unruhig, aber immer war es nur bei Blicken und heimlichen Gesten geblieben. Es mußte ein furchtbares Gesetz sein, das über ihrem Leben hing. Die Männer wurden erst wieder ruhiger, wenn sie sich das Leben an dieser Küste zu Winterzeiten ausmalten. Da blieb man lieber tief im Lande und nährte sich reichlich, schon die normale Truppenverpflegung schlug den Ziegeleifraß seiner frühen Jahre um Längen. Und man kaufte dazu, damit es nicht bei Brot und Speck, Linsen, Kohl und Erbsen, Käse und Wein blieb. An der Mosel machten sie Gepökeltes und Würste, Schwartenmagen und Schmortöpfe, die ihm, wie einem alten Köter, noch jetzt die Zähne naß machten, wenn er nur daran dachte. Fisch, Muscheln, an Feiertagen Austern, die Händler lieferten. Wann