IV
Er hätte zum Essen keinen Wein trinken sollen, oder vielleicht etwas weniger. Er konnte sich nicht erinnern, damals an der Mosel nach dem Mittagessen einen derartigen Bleikopf gehabt zu haben. Aber da war auch das Wetter ganz anders. Und er noch nicht so dick wie heute. Als er sich langsam setzte, mußte er aufstoßen und hatte wieder den Geschmack von Rufus' eingelegtem Gemüse und seiner Sardellenbrühe im Mund. Eines Tages erwürge ich ihn, dachte er und löste die Schnur an der Akte, oder ich ertränke ihn in seinem eigenen Rotwein. Das würde der schlimmere Tod sein. Nur wenig zufriedener begann er zu lesen:
Der Apostel Geschichte
C.XXVI./C.XXVII./C.XXVIII.
C.XXVI.
30VND da er das gesagt / stund der König auff vnd der Landpfleger / vnd Bernice / vnd die mit jnen sassen / 31vnd entwichen beseits / redeten mit einander/ vnd sprachen / Dieser Mensch hat nichts gethan / das des Todes oder der bande werd sey. 32Agryppas aber sprach zu Festo / Dieser Mensch hette künden losgegeben werden / wenn er sich nicht auff den Keiser beruffen hette.
XXVII.
DA ES ABER BESCHLOSSEN WAR / DAS WIR IN
Welschland schiffen solten / vbergaben sie
Paulum vnd etliche ander Gefangene / dem Vnter-
heubtman / mit namen Julio / von der Keiserschen
schar. 2Da wir aber in ein Adramitisch schiff trat- ten / das wir an Asian hin schiffen solten / fuhren wir von lande...
Er konnte seine Stirnfalten spüren. Diese Paselacken hatten recht, ein eigenartiger Text. Da sollten sich andere durchwühlen. Sachverständige, Gutachter, Juristen, auf dem Forum wimmelte es doch von denen. Er betastete die kahle Stelle oben am Kopf, wo er früher einmal einen Haarwirbel gehabt hatte. Hatte sie sich vergrößert? Und konnte man oben am Kopf, er vermied das Wort Glatze auch nur zu denken, konnte man da oben auch Falten bekommen? Jedenfalls juckte es ihn dort nicht mehr so impertinent wie an anderen Stellen, wo sein Haarwuchs noch dicht war. Diese jähen Anfälle, ein spitzkleiner Punkt über einem Ohr begann urplötzlich so wild zu jucken, daß alle Versuche, sich zu beherrschen, sich nur dieses eine Mal nicht zu kratzen, vergeblich waren. Mit ineinander gekrallten Händen in seinem Schoß hatte er schon dagesessen und es durchhalten wollen, die Fingernägel in die Innenseite der anderen Hand gepreßt und versucht, den Schmerz der sich in die dünnhäutigen Gelenkfalten grabenden Nägel immer noch intensiver zu halten, als dieses Rasen in einem Punkt seiner Kopfhaut. Es war ihm nie gelungen. Immer hatte es ihm die ineinander verkrallten Hände wieder auseinander gerissen, die Linke, oder die Rechte – nein, es war fast immer die Linke, fuhr hoch und begann das erlösende, bald jedoch schmerzende Kratzen, das er nie unterdrücken konnte. Es war immer nur ein kurzer Moment, Folter, Erlösung, neuer, erträglicherer, schnell wieder abklingender Kleinschmerz und dann die Begutachtung dessen, was unter den Fingernägeln mitgebracht wurde – kleine Haut- und Schorfpartikel, Resultate früherer Attacken. Die Schorfe oft gelblich transparent, nicht immer schwarzrot wie von richtigem Blut. Er hatte vergessen, seit wann ihn das plagte. Allemal seit Jahren, nicht erst seit ein paar Monaten. Seit bestimmte Körperhaare sich nicht mehr mit der ihnen einmal vorgegebenen Länge begnügten, sondern absurd und häßlich in die Länge wucherten. Seit die Frau den Sohn genommen und wieder zu ihrer Familie in die Berge der Eifel gegangen war. Seit er zum ersten Mal mit dem Küchenmesser in der Hand sein Apartment nach eben diesem Küchenmesser abgesucht hatte. Seit es bei ihm mit den Zähnen angefangen hatte. Seit ... Er seufzte - wo war er stehengeblieben?
DA ES ABER BESCHLOSSEN WAR / DAS WIR IN
Welschland schiffen solten / vbergaben sie
Paulum vnd etliche ander Gefangene / dem Vnter-
heubtman / mit namen Julio / von der Keiserschen
schar. 2Da wir aber in ein Adramitisch schiff trat- ten / das wir an Asian hin schiffen solten / fuhren wir von lande / Vnd war mit vns Aristarchus aus Macedonia von Thessalonich / 3vnd kamen des anderen tages zu Sidon. Vnd Julius hielt sich freundlich gegen Paulum / erleubet jm zu seinen guten Freunden zu gehen / vnd seiner pflegen.
4VND von dannen stiessen wir ab / vnd schifften vnter Cypern hin / darumb das vns die winde ent- gegen waren / 5vnd schifften auff dem meer fur Cilicia vnd Pamphylia vber / vnd kamen gen Myra in Lycia / 6Vnd da selbs fand der Vnterheubtman ein schiff von Alexandria / das schiffet in Welsch- land / vnd lud vns drauff. 7Da wir aber langsam schifften / vnd in viel tagen kaum gegen Gnidum kamen (Den der wind wehrete vns) schifften wir vnter Creta hin / nach der stad Salmone / 8vnd zogen kaum fur vber / da kamen wir an eine Stete / die heisset Gutfurt / da bey war nahe die stad Lasea. DA nu viel zeit vergangen war / vnd nu mehr fehrlich war zu schiffen / darumb / das auch die Fasten schon fur vber war / Vermanet sie Paulus /...
Schon wieder dieser Paulus, ein Prominenter vermutlich, die Hauptfigur dieses Fahrtberichts? Und was waren das für Fasten, welcher Gott verlangte sie? Und zu welcher Jahreszeit? Welchen Monats, Tages? Der alte Ovid könnte das wissen, Tullius mußte ihn nur in einem seiner seltener werdenden, klaren Momente abpassen. Vielleicht hätte man hier einen zeitlichen Anhaltspunkt und könnte datieren. Nach dem Ende irgendwelcher Fastentage an der Insel Kreta. Erst mal weiter.
... / Vermanet sie Paulus /
10vnd sprach zu jnen / Lieben menner / Jch sehe / das die schiffart wil mit beleidigung vnd grossen schaden ergehen / nicht alein der last vnd des schiffes / sondern auch vnsers Lebens. 11Aber der Vnterheubtman gleubet dem Schiffherrn vnd dem Schiffman mehr / denn dem das Paulus saget. 12Vnd da die Anfurt vngelegen war zu wintern / bestunden jr das mehrer teil auff dem Rat / von dannen zu faren / ob sie kündten komen gen Phe- nica zu wintern / welches ist eine Anfurt an Creta / gegen dem wind Sudwest vnd Nordwest. 13Da aber der Sudwind webd / vnd sie meineten / sie hetten nu jr furnemen / erhuben sie sich gen Asson / vnd fuhren an Creta hin...
Und so weiter, und so weiter. Er lehnte sich zurück, gähnte. Wenn er sich auf seiner Reise von Trier hierher nach Ostia wegen jedes Häufchens Hühnerscheiße auf derart endlose Quasseleien eingelassen hätte, marschierte er heute noch bei Lyon und ließe sich vom Mistral die Haare von den Eiern pusten. Oder hockte in dieser Paßherberge am Cenis. Wo die Steine nicht ganz so hart waren wie das Brot. Und erst die Weinpreise ... Ja was glauben Sie denn, was das kostet, ihn hier heraufbringen zu lassen? Die Maultiertreiber von Susa mußten Millionäre sein.
Sollten ihm die Studierten diesen verdammten Text erklären. Nach einigem Gähnen und Kopfkratzen konnte er jedoch der Versuchung nicht widerstehen, sich wenigstens noch das Ende der Rolle anzusehen.
41Vnd da wir furen an einen Ort / der auff beiden seiten Meer hatte / sties sich das schiff an / vnd das forder teil bleib feste stehen vnbeweglich / Aber das hinder teil zubrach / von der gewalt der wellen. 42DJe Kriegsknechte aber hatten einen rat / die Gefangenen zu tödten / das nicht jemand / so er ausschwümme entflöhe. 43Aber der Vnterheubt- man wolte Paulum erhalten / vnd weret jrem fur- nemen / Vnd hies die da schwimmen kündten / sich zu erst in das Meer lassen vnd entgehen an das Land / 44Die andern aber etliche auff den bretern / etliche auff dem / das vom schiffe war. Vnd also geschach es / das sie alle erhalten / zu lande kamen.
XXVIII.
VND DA WIR AUSKAMEN / ERFUREN WIR / DAS
die Jnsulen Melite hies. 2Die leutlin aber er- zeigeten vns nicht geringe freundschafft / Zünde- ten ein fewr an / vnd namen vns alle auff / vmb des Regens / der vber vns komen war / vnd vmb der kelte willen.
Immerhin - an Bord war also Militär, Soldaten und Gefangene, von denen offensichtlich einer aus