DIE HAVARIE. Klaus J. Hennig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus J. Hennig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844239164
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die Aufsicht über das Tabularium, die Schreibstube und die Kasse der Centurie gab. Tullius gehörte nicht zu denen, die sich oben einschmeichelten, das sagten alle. Daß sie ihn nicht besonders leiden konnten, daß er ihnen auf die Nerven ging, sagten sie ihm nicht.

      Tullius konnte recht unangenehm werden, vor allem später, als Unteroffizier. Körpergröße: etwas unterdurchschnittliche fünfeinhalb Fuß, Haare: dunkel, Augen: dunkel, besondere Kennzeichen: Schnittnarbe vom linken Ohr zum Hals hinablaufend. Untersetzt, sehr muskulös. Bei normal erscheinenden Kopf- und Leibesproportionen unverhältnismäßig kurze Glied-maßen, kurze, breite Hände und Füße. Finger- und Zehennägel breiter als lang. Unter niedrigem, dichten Haaransatz eine gebuckelte Stirn, die in den Nasenrücken auslief, der im oberen Bereich breit, wie geschwollen wirkte. Die Augen eher Schnitte in dicklich vortretenden Beulen, engstehend, die Lider kaum sichtbar. Wimpern und Brauen fast haarlos, nicht gezupft, so gut wie nicht vorhanden. Wenn er sprach oder, selten, einmal lachte, sah man unter der kurzen Oberlippe das Gehege seiner Frontzähne, deren mittlere schief und versetzt standen, zu wenig Platz zu haben schienen, in dem massigen Gesicht ein eigentümlicher Effekt. Er schien es zu wissen, auch darunter zu leiden, denn er sprach gerne etwas aus dem Mundwinkel, so die schlimmere Seite seiner Zähne mit der Oberlippe verdeckt haltend. Wer ihn sich im Profil betrachtete, konnte auf den Gedanken kommen, daß er sich eher das Kinn als die Nase aufschrammte, liefe er einmal gegen eine Mauer. Die Ohren lagen ihm flach am Kopf an, bei Anstrengungen lief heftiger Schweiß unter ihnen hervor. Ihre Läppchen standen noch am weitesten ab, das linke war ein wenig eingeschnitten, wo ihn das auf seine Kehle gerichtete, eher linkisch geführte Messer getroffen hatte. Sein Hals war nur von vorn ein Stück weit zu erkennen, seitlich setzten die Schultern schon kurz unter den Ohren an. Aus diesem Grund war diese Schnittnarbe auch nicht besonders lang, er hatte die Messerwunde empfangen, als er sich nach dem Stein bückte, der dem anderen den Unterkiefer brach.

      Bei seinem Eintritt ins Militär hatten die Narbe und vor allem ihre wortkarge Erklärung einen eher günstigen Eindruck hinterlassen. Tullius hatte mit seiner Linken den Weg der Messerklinge angedeutet, sich dabei blitzschnell nach einem imaginären Stein gebückt und den mit der Rechten in einem Halbkreis vom Boden bis etwa in die Höhe einer menschlichen Kinnlade gerissen, sich dann wieder aufgerichtet und seine rechte Faust, mit dem Handrücken nach oben, langsam geöffnet. Sie sahen den Stein geradezu auf den Boden fallen, so tief hatte sie die unheimliche Geschwindigkeit des Gezeigten beeindruckt.

      »So ungefähr ist das gelaufen.«

      Mehr sagte er nicht dazu. Alles andere hatten sich seine neuen Kameraden selbst ausmalen müssen, mögliche Folgen und die Vorgeschichte erst recht. Unbehaglich war er ihnen, doch einer, den man trotz allem lieber im eigenen Zelt hatte, damit er aus dem heraus pißte, als ihn außen vor stehen zu wissen und ...

      Ein nennenswerter Krieg war ihm nicht vergönnt gewesen, Polizeiaktionen allenfalls, zu denen es genaugenommen keine Legionäre brauchte. Stadtwachen hätten das erledigen können, Auxiliare, Vigilanten, Feuerwehrleute. Seine Beinverletzung war ihm denn auch etwas peinlich. Einigen germanischen Strolchen hatten sie das gestohlene Rindvieh bald wieder abgejagt, nur ein junger Stier hatte nicht mit zurück über den Fluß gewollt und ihm sein Horn in den Schenkel gerammt. An die Spottnamen, die Frotzeleien deswegen erinnerte er sich nur ungern. Es ging auch bald wieder zu Ende damit, die losen Mäuler hatten schnell begriffen, wieso in ihrem täglichen Dienst auf einmal Gewaltmärsche, Nachtwachen und Latrinenputzen überwogen. Seine Dankopfer allerdings verrichtete er seitdem in einem unterirdischen Tempel, wo er dem stiertötenden Mithras seine Erleichterung darüber bezeugte, daß ihm dieses Vieh die Eier gelassen hatte. Wenn ihn das Horn nur einen daumenbreit weiter rechts getroffen hätte … Er mochte es sich nicht ausmalen.

      III

      

Ja, Tullius verstand seine neuen Vorgesetzten ganz genau, denn Tullius fühlte sich zu alt, um sich noch einmal in eine Provinz zu schicken zu lassen, wo er niemanden kannte und wo ihn niemand liebte; Tullius war heilfroh, es bis hierher geschafft zu haben. Ostia war nicht Rom, aber eben auch nicht allzuweit weg von der Hauptstadt. In den hellen Marmorräumen am Tiberiusforum, in denen Tullius zu erscheinen hatte, um seine Orders entgegenzunehmen, wußten sie das natürlich auch. Genau wie sie die Toga nach römischem Schick zu fälteln wußten und wie man sich von den Spaniern einladen ließ. Tullius verstand das alles, obschon ihn nicht einmal die Syrer oder die Judäer einluden. Aber was die schon ein Essen nannten ...

      Sein Schreiber erschien in der Tür, machte ein fragendes Gesicht und wies mit dem Daumen über seine Schulter hinter sich.

      »Hol sie schon rein, die Aasgeier! Das wird wieder ein Tag!«

      Die beiden drängten sich neben dem Gemeindesklaven durch die Tür, vier schlaue, schnelle Augen.

      »Zum Untersuchungsbeamten Decimus Aelius Tullius, bitte, wir vertreten die Investmentgesellschaften, die Finanzierungsfirmen, sind bevollmächtigt...«

      Offenbar Anwälte. Orientalisch klingendes Gebrabbel, wahrscheinlich ihre Namen, Tullius hatte keine Lust nachzufragen.

      »Ja gut! Kommen Sie rein!«

      Ihre Begrüßung war das Gegenteil militärischer Knappheit, sie wurden ihm dadurch nicht sympathischer. Waren es Syrer? Griechen?

      Griechen gingen an, schlau, aber man konnte mit ihnen auskommen. Verstanden auch was von der Seefahrt. Aber die hier waren keine, auch keine Syrer. Sahen nur so aus. In ihrer Sprache, trotz griechischer Wörter darin, gab es noch etwas anderes, man würde ja sehen. Ihre Begrüßung hatte jedenfalls dreihundert Wörter zuviel. Gut, man war nicht mehr beim Militär, aber auch auf einer römischen Hafenbehörde konnte man irgendwann einmal zur Sache kommen.

      Kreter? Ägypter?

      Damals in Mainz hatte er sich mit einem griechischen Schiffsoffizier angefreundet, ein paar Jahre lang geziemend einen zur Brust genommen mit ihm, was der wohl jetzt machte? Immer noch seine Matrosen zusammenscheißen? Vertrug nicht allzuviel vom Roten, aber von seinen Flußkähnen hatte er was verstanden.

      Die Zwei hier waren keine Griechen, so wie sie fuchtelten. Vorne, in den Marmorbüros, mochte man solche Typen nicht besonders, warum also sollte er ihnen Sympathie entgegenbringen? Und wie der Ältere ihm auf den Leib rückte; wollte der etwa auf seinem Schoß sitzen?

      »Sehen Sie sich, bitte sehr, besonders genau den Schlußpunkt an. Es geht um den Havarieort der Orion. Der ist noch unklar. Wir denken, daß sie an der Insel Malta scheiterte. Und, äußerst wichtig, dieser Punkt hier, den Verbleib der Getreideladung betreffend. Wir werden auf Unterschlagung plädieren. Auf vorsätzlichen Betrug, wenn die Reise überfinanziert war. Und auf Urkundenfälschung, falls das Logbuch noch auftaucht.«

      Es saßen keine Fliegen auf dem Papyrus, wieso versuchte der trotzdem welche zu verscheuchen?

      »Wenn niemand sein Leben verlor...«

      Wie ein Specht gegen einen Baumstamm pochte er jetzt mit dem Finger auf die Akte.

      »...und das wird hier behauptet, wenn also alle am Leben geblieben sind, Besatzung, Soldaten, Passagiere, zusammen über zweihundert steht hier, dann wird man auch Zeugen finden. Und der Schiffer, wenn er denn unschuldig ist, wird das Logbuch gerettet haben. Das tun sie immer, wenn sie glauben, daß sie unschuldig sind.«

      Tullius starrte ihn blöde an. Der jüngere Anwalt versuchte es ruhiger.

      »Wenn eine Schiffsführung die Havarie verschuldet, wenn sie die Ladung unterschlagen und anderen Ortes verkauft hat, dann wird das Logbuch meistens nicht gerettet. So dumm sind nicht einmal die Friesen. Deswegen kommt neuerdings in derartigen Fällen auch die Folter zur Anwendung. Weil das überhandgenommen hat in der Getreidefahrt, vor allem von Ägypten.«

      »Und vor allem zum Winter, bei den Einzelfahrern.«

      Der Erste hatte einen Moment lang schweigen müssen, aber einer wie er hielt das nicht lange aus. Tullius schob den Papyrus zur Seite, ließ die Unterarme auf dem Tisch.

      »Was ist ein Logbuch?«

      Die Beiden sahen sich an. Der