„Von Professor S.“
Es entsteht wieder eine Pause.
„Den kennen Sie aber schon“, sage ich, weil Prof. S. einen seiner Mitarbeiter hierher geschickt hat und ich diesen auch schon durch den Gang gehen gesehen habe.
VOM HÖREN.
Wenigstens das streitet er nicht ab, ich erzähle von Prof. S.:
In einem Anfall von akutem Geldmangel hatte ich mich auf mehrere Inserate beworben, Prof. S. bestellte mich zu einem Vorstellungsgespräch: Die Arbeit sei für 20 Wochenstunden vorgesehen, die Entlohnung mäßig, Voraussetzung sei selbständiges Arbeiten. Er führte mich durch einen Gang, erklärte mir die Personen auf den Gemälden und setzte mich schließlich in eine von drei winzigen Kabinen, wo ich einen Befund vom Tonband zu tippen hatte. Ab diesem Zeitpunkt erlosch mein Interesse an dieser Arbeit. Abschließend sagte Prof. S., er würde sich wieder melden.
Wenig später bekam ich den Theatervertrag und vergaß das Ganze. Wieder einige Wochen später rief Prof. S. wieder an und lud mich zu einem weiteren Gespräch. Bei dieser Besprechung teilte er mir mit, ich sei die Dritte in der Auswahl gewesen, die beiden anderen vor mir hätten medizinische Kenntnisse gehabt. Die erste habe von ihrem Chef ein wesentlich besseres Gehalt bekommen, nachdem sie von ihrem neuen Arbeitsplatz erzählt hätte, die zweite sei in ihrer Firma geblieben, nachdem ihr Prof. S. keine Lebensstellung hätte bieten können, das Projekt sei vorläufig auf ein Jahr begrenzt. Nun wende er sich also an mich, ich könne gleich anfangen.
Der Ernst der Situation überrascht mich. Ich habe eigentlich nicht vor, zusätzlich etwas zu arbeiten. Mit dem, was ich verdiene, komme ich aus. Wenn ich jetzt jeden Vormittag hier sitzen muss, wird mir die Zeit zum Üben zu knapp. Ich drehe und winde mich. Dass ich nicht will, kann ich nicht sagen, der Mann ist sympathisch. Und obwohl ich in der Auswahl nur die Dritte bin, fühle ich mich geschmeichelt, weil ich in gewissem Sinn auch die Erste bin.
Ich sage also, dass ich nicht bei ihm arbeiten kann, weil ich vormittags üben muss, nachmittags Privatschüler habe und abends im Theater spiele. Meine einzigen verfügbaren Tage seien Samstag und Sonntag, und ich bin ganz zufrieden, wie ich das dargelegt habe.
Da huscht ein freudiges Lächeln über Prof.S.' Gesicht , er hätte eigentlich auch nur Samstag und Sonntag Zeit.
Jetzt fällt mir noch ein, dass ich nicht mit einer zweiten Lohnsteuerkarte arbeiten will, weil mir dann überhaupt nichts mehr bleiben würde.
Worauf Prof. S. sagt, ich könne das Ganze auf Werkvertragsbasis machen.
Während ich ein weiteres Argument suche, erklärt er, dass ich auch etwas davon haben solle und bietet mir für die beiden Tage monatlich um 1.000 S weniger an, als ich für meinen Orchesterjob bekomme. Da sage ich zu.
Prof. S. führt mich in ein Zimmer, das eigens für den Zweck dieser Studie adaptiert wurde und auf einmal finde ich das alles gar nicht mehr so schlecht.
„An meinem ersten Arbeitstag erfuhr ich dann, woran ich arbeitete: Es war eine Hodentumorstudie.“
Ich denke an die Sexualneurose und muss lachen.
Ich hatte die Werte der Befunde nach verschiedenen Kriterien zu sortieren, sie in eine Kartei zu übertragen und Prof. S. diktierte dazu die Diagnosen. Wenn er mich auf die Station mitnahm, musste ich einen weißen Mantel anziehen und war „Frau Doktor“. Mir war das ziemlich unangenehm, Prof. S. machte keine Anstalten, meinen Status zu berichtigen. Ich selbst war zu feig dafür.
„Der hatte einen Überschuss an Schlafmangel,“ ich bin stolz auf meine Wortkombination.
„Gebabt“, sage ich bekräftigend.
WAS HEISST DAS?
„Begabt“, erkläre ich milde.
Wenn Prof. S neben mir saß und diktierte, fielen ihm regelmäßig die Augen zu. Ich wartete dann eine Weile und wenn es mir zu lange dauerte, drückte ich die Leertaste der elektrischen Schreibmaschine. Prof. Schläfrig fuhr dann jedes Mal erschrocken auf und das Spiel wiederholte sich ein paar Minuten später von Neuem.
"Manchmal setzte er sich so nahe zu mir, dass ich mit dem Sessel zur Seite rücken musste und kaum noch Platz hatte.“
WOLLTE ER SICH MIT IHNEN ETWAS ANFANGEN?
„Nein, sicher nicht.“ Meine Stimme klingt gereizt.
HAT ER SIE AUCH SEKKIERT?
„Ja“, sage ich und denke: Schau her, so gut kennt Schneider ihn.
„Prof. Schläfrig hatte eine eigene Therapie entwickelt. Jedes Mal, wenn er den Namen dieser Therapie diktierte, buchstabierte er jedes einzelne Wort. Ich habe mir damals oft gedacht: Vielleicht glaubt er, ich bin so blöd."
VIELLEICHT WAR ER SO BLÖD. SOZIAL, MEINE ICH.
Zeitweise wurde mein Gehalt zum Stipendium, weil Prof. Schläfrigs Arbeitslust bald rapide abnahm. Zuerst rief er mich am Wochenende mindestens fünf Mal täglich an: entweder, um mir zu sagen, dass er noch nicht wisse, wann er Zeit hätte, oder er musste mir mitteilen, dass er mich gleich wieder anrufen würde, wann ich kommen solle. Sein letzter Anruf, in dem er mir bekannt gab, dass es heute wohl nichts mehr würde, kam dann meistens gegen 22 Uhr.
Ich hatte damals ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil ich Geld bekam, für das ich kaum Leistung erbracht hatte und traute mich bald keine Fragen mehr zu stellen, weil Prof. Schläfrig, wenn er etwas erklärte, die Zeit vollkommen vergaß und ich an unsere Chemielehrerin denken musste, die wir, um eine ruhige Stunde zu haben, in schwierige Fragen verwickelten, welche sie mit missionarischem Eifer löste.
Nachdem ein paar Wochenenden so vergangen waren, konnte ich Prof. Schläfrig schwer abschlagen, wenn er mich bat, noch nach dem Theater zu ihm zu kommen. Später hatte er auch an jenen Tagen, an denen ich vormittags Probe hatte, noch Dias für Vorträge zu schreiben, rein zufällig. Ich war dann pünktlich um 6 Uhr früh bei ihm – und kam gerade rechtzeitig, um ihn aufzuwecken. Dass er mir im Schlafanzug öffnete, schien ihn nicht zu stören, mich ärgerte es. Ich fühlte mich missachtet.
Als ich ihm dann sagen musste, dass ich schwanger war, war ihm das offensichtlich nicht recht: „Werden das Zwillinge?“, fragte er einmal unfreundlich, während er auf meinen Bauch starrte.
Mit fortschreitender Schwangerschaft wuchs auch Prof. Schläfrigs Arbeitslust. Der Sommer 1981 war heiß und ich fühlte mich schwerfällig. Ausgerechnet jetzt waren plötzlich stapelweise Krankengeschichten sehr dringend und möglichst rasch durch das Areal zu transportieren. Und während ich durch die Höfe hetzte, hatte ich einmal so starkes Seitenstechen, dass ich vor Verzweiflung weinte.
Prof. Schläfrig war damals der Ansicht, ich hätte in Anbetracht meiner geleisteten Stunden mindestens zwei Monate nach der Entbindung unentgeltlich für diese Studie zu arbeiten, danach würde der Vertrag verlängert. Ich wagte zwar nicht zu widersprechen, hielt diesen Zeitraum sogar für durchaus angemessen, empfand den Vorschlag aber trotzdem als Anmaßung. Schließlich war die Arbeit durch seine Schuld so in Verzug geraten.
Ich hatte Prof. Schläfrig versprechen müssen, ihn sofort nach der Geburt „über den Erfolg“ zu benachrichtigen. Ich wartete, bis die Geburtsanzeigen fertig waren und saß einen ganzen Nachmittag über dem Text, den ich ihm zukommen lassen wollte.
Wie sollte ich ihn anreden? Auf seinen Professorentitel war er stolz, den wollte ich weglassen. ‚Sehr geehrter Herr Dr. Schläfrig‘ wäre plump gewesen. Schließlich ließ ich die Anrede überhaupt weg, teilte ihm knapp mit, wie groß und wie schwer „der Erfolg“ gewesen war und setzte meinen Namen ohne irgendwelche Grüße darunter.
"Es war eine seltsame Geburtsanzeige, Prof. Schläfrig hat sich darauf nicht mehr gemeldet."
JEMAND ANDERER HÄTTE GESCHRIEBEN: HOCH VEREHRTER HERR PROFESSOR SCHLÄFRIG! RUTSCHEN SIE MIR DEN BUCKEL RUNTER. ERGEBENST IHR ... UND SIE HABEN DAS EBEN SO GEMACHT, WEIL SIE NICHT MEHR VON IHM ABHÄNGIG WAREN. ABER DASS SIE DAFÜR EINEN GANZEN NACHMITTAG VERBRACHT HABEN, DAS WAR ER WOHL NICHT WERT.
„Und