Wegen der Schuld. Yenta E.. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yenta E.
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847673323
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WISSEN DAS ALLES GANZ GENAU UND TROTZDEM MACHEN SIE SOLCHE DINGE… WER WEISS, WIE SEHR ES IHN STÖRT, DASS ER SELBST DIE MATURA NICHT HAT?

      „Das glaube ich nicht, Peter weiß sehr viel. Ihm würde das nichts bedeuten.“

      Wir sind bei Peters Mutter und machen einen Spaziergang durch das Dorf. Dabei kommen wir an einem Neubau vorbei, der sich wohltuend von den anderen Bauwerken dieser Gegend abhebt. Peter erzählt, dass die Besitzerin dieses Hauses seine Jugendfreundin war.

      „Da könntest du jetzt drinnen wohnen“, gebe ich zu bedenken.

      „Die wäre zu alt für mich.“

      So eine Frechheit, schließlich ist er genauso alt wie diese Frau.

      „Du könntest dir ja nebenbei eine junge Freundin halten“, schlage ich vor.

      „Dafür bin ich zu anständig“, sagt er bestimmt.

      Am Abend holt meine Schwiegermutter Fotos aus Peters Kindheit hervor. Er sieht sich ein Sommerfoto an und dreht es um. Auf der Rückseite steht mein Geburtsjahr. „Damals war ich erst 12 Jahre“, sagt er.

      Und ich war noch überhaupt nicht auf der Welt, denke ich mir.

      SIE HABEN GEWONNEN, sagt Schneider trocken.

      Ich muss lachen.

      Es ist Samstag. Peter ist wie jeden Samstag zeitig in der Früh aufgestanden, um auf dem Markt einzukaufen. Zeitig deshalb, damit er noch die größte Auswahl hat. Er kommt dann mit zwei schweren Taschen zurück. Irgend etwas verdirbt jedes Mal, weil wir nicht so viel essen können. Peter ist böse, wenn er sieht, dass ich Dinge von seinen Einkäufen wegwerfe. Meistens mache ich das heimlich, um einer Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen. Manchmal sieht er im Mistkübel nach, was ich weggeworfen habe und nimmt wieder Sachen heraus, von denen er glaubt, er könne sie noch brauchen. Anfangs hat mich dieses Verhalten belustigt, ich habe ihn dabei fotografiert und ihn teils liebevoll einen der letzten Miststierer genannt. Er hat einen Eichhörnchentrieb, er sammelt und sammelt.

      Ich füttere Nina, sitze vor Peters Schreibtisch und mein Blick fällt auf seinen Kalender. Heute ist Hochzeitstag und ich habe darauf vergessen. Es ist mir unangenehm, weil Peter sich das sogar aufgeschrieben hat. Während Nina trinkt, überlege ich, was ich machen soll. Vielleicht wartet er, ob ich daran denke? Wenn ich nicht daran denke, vielleicht „vergisst“ er dann auch? Das wäre mir am liebsten.

      Als er nach Hause kommt, bringt er einen großen Strauß Blumen und ich entschuldige mich, weil ich nichts habe.

      Am Nachmittag gehen wir spazieren. Während er den Kinderwagen schiebt, versucht er ein Gespräch über den Tag unserer Hochzeit in Gang zu bringen, ich lenke jedes Mal ab.

      Außer unseren Trauzeugen hat niemand von der Hochzeit gewusst. Peter hätte diesen Tag gerne mit großem Pomp gefeiert. Im Theater war gerade Urlaubssperre, weil wir ein Werk spielten, das für einen Substituten zu schwer gewesen wäre - für die Geige ein Stück mit Höhen- und Gefahrenzulage. Mein Ehrgeiz war, bei der letzten Vorstellung alle Noten zu spielen (es gelang mir nicht), gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dringend Urlaub zu brauchen. Wenn ich heiratete, musste ich Urlaub bekommen.

      Wir haben geheiratet, nachdem wir ein dreiviertel Jahr zusammen gewohnt hatten. Für Peter war der Gang zum Standesamt wichtig. Auch dann, wenn ich danach meinen Mädchennamen behalten würde. Meinen Namen anzunehmen hätte für ihn bedeutet, seine „Identität auszuradieren“. „Du bekennst dich nicht zu mir“, sagte er, wenn wir über dieses Problem sprachen.

      Meine Trauzeugin war meine Orchesterkollegin Choung Sim.

      Choung Sim kam aus Korea und spielte Cello. Sie war mir erst aufgefallen, nachdem sie mich einmal verlegen um meinen zweiten Geigenbogen gefragt hatte, weil sie ihren Cellobogen vergessen hatte. Seit diesem Tag hatte ich sie gemocht.

      Manchmal saß sie ganz blass da, ein paar Mal verließ sie den Orchestergraben für kurze Zeit, kam wieder und spielte weiter.

      Einmal erzählte sie mir, sie sei deswegen in der Anstalt bei einer Ärztin gewesen. Auf einmal sei sie in einem Hörsaal gestanden und hätte von ihren Schwierigkeiten beim Cellospielen erzählen sollen. Für sie sei das so überraschend gewesen, als sie die vielen Leute sah, dass sie gesagt hätte, sie könne nicht vor so großem Publikum sprechen.

      DAS WAR AUF DER ANDEREN ANSTALT, unterbricht mich Schneider schnell.

      Die Ärztin war ziemlich ungehalten, Choung Sim ist nicht mehr in die Anstalt gegangen.

      Während wir mit unseren Trauzeugen vor dem Zimmer des Standesbeamten saßen, wurde mir übel.

      „Du kannst es dir noch überlegen“, bot ich Peter an, der erstaunt reagierte: „Aber nein, warum denn?“

      Es wundert mich, dass Schneider nicht sagt „Sie wollten gar nicht heiraten“.

      Meine Handschmerzen scheinen endgültig weg zu sein. Dafür geht es mir schlechter als zuvor. Manchmal glaube ich, dass die physischen Schmerzen das kleinere Übel waren.

      Es gibt nichts, worauf ich mich freue und meine täglichen Pflichten sind nichts als Lasten. Die Therapiestunden sind meine einzige Abwechslung, aber auch dorthin gehe ich nicht gerne. Ich gehe hin, weil ich gewohnt bin, Termine pünktlich einzuhalten. Irgendwann müsste es mir doch auch wieder einmal besser gehen. Ich bin froh, wenn der Tag zu Ende ist. Schlafen. Nichts wissen und nichts spüren. Ich empfinde mein Leben als total verpfuscht und sehe keine Möglichkeit, irgend etwas rückgängig zu machen. Weiß nicht, was ich an meiner jetzigen Situation ändern könnte, alles scheint festgefahren, alles zu Ende.

      Und ich möchte mir selbst helfen können, nicht nur auf diese Therapie angewiesen sein, mich nicht als die Maschine meiner Einfälle fühlen müssen. Ich möchte wissen, was ich habe, wie diese Krankheit heißt und wie diese Therapie funktioniert.

      Mir ist aufgefallen, dass Schneider immer wieder einzelne Worte wiederholt, wenn ich etwas erzähle.

      Ich frage ihn, ob er das für mich tut, oder für sich. Er sagt, er könne nicht ausschließen, dass er es auch für sich täte, an und für sich würde er die Worte aber für mich wiederholen. Darauf vergehen ein paar Stunden, ohne dass er etwas wiederholt und das macht mich noch aufmerksamer. Wochen später erkenne ich, was er damit bezweckt, weil er, nachdem er ein Wort wiederholt hat und ich etwas dazu gesagt habe, AHA sagt.

      Wenn er ein Wort wiederholt, weiß er nicht genau, was ich damit meine und möchte, dass ich noch etwas dazu sage. Ab nun sage ich nichts mehr zu seinen Wiederholungen, wenn es mir früh genug auffällt.

      Ich frage Schneider, was ich habe. Er sagt, es gäbe kein Lehrbuch, nach dem er mich behandle, kein Schema nach dem er vorgehe.

      Ich bin überzeugt, dass er mir etwas verheimlicht. Er will, dass ich bestimmte Sachen nicht weiß, will mich beherrschen.

      Ich sage, dass ich manchmal nicht verstehe, wovon er spricht, dass ich oft das Gefühl habe, dass er etwas ganz anderes meint, als er mit Worten ausdrückt, dass er manchmal Dinge sagt, die ich nie gesagt habe, dass er mehr über mich weiß, als er zugibt. Und ich würde immer noch gern wissen, wie dieser Test, den ich zu Beginn gemacht habe, aussieht.

      Schneider sagt, ich könnte genauso gut daheim bleiben, wenn ich bei ihm nichts Neues über mich erfahren würde, und dass er immer nur so viel über mich wissen könne, wie ich ihm über mich verraten würde.

      Ich spüre, dass ich so nicht weiter komme und nehme mir vor, mehr zu lesen. Ich muss hinter dieses System kommen, muss meine Krankheit beim Namen nennen können, muss mich irgendwo einordnen können. Wenn ich weiß, was ich habe, kann ich auch damit umgehen.

      Bis jetzt weiß ich, dass es sich in diesen Stunden nur um Übertragung handelt. Und um Gegenübertragung. Das mit der Übertragung ist mir klar: Ich erzähle meine Erlebnisse, Schneider spielt die Personen, die darin vorkommen und soll alles „zu einem besseren Ende führen“.

      Aber die Gegenübertragung?