Wegen der Schuld. Yenta E.. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yenta E.
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847673323
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begebe mich auf Psychotrip und lese alles, was ich über Psychoanalyse finde. Fühle mich je nach Abschnitt ein bisschen hysterisch, ein bisschen zwanghaft, von allem etwas. Da gibt es eine Abhandlung über Masochismus. Die überblättere ich. Das ist das Einzige, das auf mich nicht zutrifft. Erinnere mich, wie ich geprügelt wurde, an die Striemen und an die Schmerzen. Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich zuerst an Prügel.

      Prügel für jedes Nichtgenügend auf Prüfungen und Schularbeiten. Mit dem Hosenriemen meines Vaters. Nicht zimperlich, jeder Schlag ein Streich. Ich hatte ihn dafür gehasst, biss die Zähne zusammen und war stolz, wenn ich nicht weinen musste.

      Meine Großmutter bettelte manchmal für mich, hatte aber nie Erfolg damit. Zu solchen Zeiten gab ich mir besondere Mühe, die Schmerzen zu verbergen. Meine Mutter war mit diesem Verfahren einverstanden, offenbar hielt sie es für eine unterstützende Begleitmaßnahme.

      Auch meine Freundin wurde von ihrem Vater geschlagen, sie zeigte ihre blauen Flecken um die Schulter. Man war beeindruckt, geholfen hat ihr niemand.

      Ich sprach mit niemandem. Die Striemen waren nicht ohne weiteres sichtbar. Hätte man sie gesehen, ich hätte mich bemüht, sie zu verstecken.

      Am Tag, bevor ich in der dritten Klasse durchfiel, erklärte meine Mutter, falls das Zeugnis negativ ausfallen würde, bräuchte ich nicht mehr nach Hause kommen. Ich besorgte mir Zugfahrpläne, ging aber nach der Zeugnisverteilung nicht zu den Gleisen, sondern ein paar Stunden durch den Wald. Als ich schließlich doch nach Hause kam, wusste sie es schon. Die Prügel waren wie immer.

      Bevor ich in der vierten Klasse durchfiel, holte mich unser Klassenvorstand, den wir in Mathematik hatten, zu einem Gespräch unter vier Augen. Die Lehrerin sagte, man käme nicht an mich heran, meine Mutter täte ihr leid. Ich musste versprechen, noch am gleichen Tag für die Chemieprüfung den Hochofen zu lernen – und fiel in Mathematik und Geschichte durch. Die Prügel waren wie immer.

      Meine Schwester Hanna ruft an. Sie möchte wissen, wie es mir geht, was mit den Handschmerzen ist.

      „Das hängt mit Papa zusammen.“

      „Wieso?“

      „Er hat mich sexuell missbraucht“, am Telefon sagen sich solche Dinge leichter.

      „Soso“, sagt sie ironisch. „Dieses Lied singen wir alle.“

      Ich bin überrascht. Sie auch, meine älteste Schwester auch? Und ich habe nichts davon gewusst. Hanna möchte mit mir reden. Zu meinen beiden Schwestern habe ich keine Beziehung, sie sind mir immer fremd geblieben. An diesem Nachmittag spüre ich zum ersten Mal eine Vertrautheit und möchte wissen, wie das bei ihr war.

      Sie erzählt, dass er sie immer zu sich ins Bett geholt hat, wenn unsere Mutter im Garten arbeitete. Dass sie ihn dafür gehasst hat, ihn hätte umbringen können. Es hätte gedauert, bis sie 18 war.

      Ich frage, was sie über unsere älteste Schwester weiß, sie hat mit ihr nicht darüber gesprochen, weiß nur, dass sie herhalten musste, nachdem mein Bruder und ich mit unserer Mutter nach T. gezogen waren.

      Hanna hat ihrem Mann vom Missbrauch erzählt. „Ich habe einen Mann geheiratet, von dem ich weiß, dass er so etwas nicht tut.“ Und ich denke an meine Stiefmutter, die ich immer für eine böse Gerüchtevertreiberin gehalten habe, wenn sie sagte, Hannas Tochter sehe ihrem Vater überhaupt nicht ähnlich. Er hätte nämlich Drüsenkrebs gehabt und könne gar kein Kind zeugen, sie wisse das von einem Arzt. Jetzt scheint mir das zum ersten Mal möglich.

      Hanna sagt auch, dass unser Bruder sie sehr an Vater erinnert, sie ihn deshalb nicht mag und auch nicht will, dass ihre Tochter mit ihm spielt.

      WISSEN SIE, WAS DAS FÜR DAS KIND BEDEUTET?

      „Man war so abhängig“, sagt Hanna.

      „Wie meinst du das?“, möchte ich wissen.

      „Naja, er hat uns ja dafür Kleider gekauft.“

      „Aso.“

      „Er hat auch immer wieder gesagt, dass er dir Geld gegeben hat. Wir haben uns dann gedacht: Aha, dafür.“

      Ich spüre Wut aufsteigen. Ich habe von meinem Vater nie Geld bekommen, weder „dafür“, noch sonst. Er hat mich eine Zeitlang mitverpflegt, das war alles und dafür hat er das Kindergeld genommen. Für den Rest musste ich alleine aufkommen. Ich würde ihn am liebsten mit beiden Händen aus der Erde graben, ihn bei den Schultern nehmen, schütteln, und vor Hanna fragen, wie viel Geld er mir wofür gegeben hat.

      WAHRSCHEINLICH IST IHREN SCHWESTERN NICHTS ANDERES ÜBRIGGEBLIEBEN.

      So eine Therapie ist doch reine Augenauswischerei, denke ich mir immer öfter und sage zu Schneider:

      „Wenn mein Vater Handschmerzen hätte und zu Ihnen käme, Sie würden ihm beweisen können, dass er ein anständiger Mensch ist.“

      ICH VERTEIDIGE IHREN VATER NICHT.

      Hanna ruft jetzt öfter an und will, dass ich sie regelmäßig besuche. Ich habe Angst, dass ich etwas sage, womit ich ihr Gleichgewicht störe. Ich könnte ihr nicht helfen, kann mir selbst nicht helfen. Meine Mutter hat angeblich von allem nichts gewusst. Ich kann mir das nicht vorstellen und habe das Gefühl, dass meine Familie aus lauter Asozialen besteht.

      Wir sprechen über unsere Eltern, als Hanna sagt: „Die schönste Zeit meiner Kindheit ist die, an die ich mich nicht erinnern kann.“

      „Und bei mir ist das genauso“, sage ich zu Schneider.

      ABER IHR NACHBARBUB.

      Ja, das stimmt. Schneider muss ein sehr gutes Gedächtnis haben. Ich habe einmal kurz von diesem Nachbarbuben erzählt, mit dem ich in die Volksschule gegangen bin, dass wir zusammen in den Felsen klettern waren und dass sich um ihn auch den ganzen Tag niemand gekümmert hat ...

      Als mich Hanna einmal - scheinbar nebenbei - fragt, wie es mir in der Therapie gehe, sage ich, um sie in ihrer Fragerei einzubremsen: „Über dich bin ich auch schon losgezogen.“

      Sie sieht mich ganz erschrocken an: „Warum?“

      „Weil du mich damals im Dunkeln erschreckt hast.“

      „Daran habe ich auch schon gedacht“, sagt sie schuldbewusst und erzählt, dass unsere Mutter damals sehr mit ihr geschimpft hat.

      Dann erfahre ich, dass sie mich als Neugeborene immer zwickte, weil sie mich nicht schlafen lassen wollte.

      Und sie erinnert sich, dass ich mir im Garten barfuß etwas eintrat, als ich gerade gehen lernte. Ich sei ein paar Tage mit einem eitrigen Fuß herumgelaufen, eine Nachbarin hätte mir diesen Fuß schließlich mit Zugsalbe verbunden. „Das muss damals ganz schön weh getan haben.“

      Ich bin ziemlich enttäuscht über die Gleichgültigkeit meiner Mutter.

      Hanna sagt auch, dass meine Mutter gerade wieder arbeiten gehen wollte, als sie mit mir schwanger wurde.

      Nun weiß ich es also genau. Warum hat sie mich eigentlich nicht abgetrieben? Für die, die es zahlen konnten, hat es diese Möglichkeit doch schon immer gegeben. Meine Mutter hatte wohlhabende Eltern, die sehr gegen ihre Heirat mit meinem Vater waren. Das Geld für diese Abtreibung hätten sie sicher liebend gern zur Verfügung gestellt.

      Hanna würde so eine Therapie nicht machen: „Was hat denn das für einen Sinn? Du bist diesem Menschen doch vollkommen egal, sobald du die Türe hinter dir geschlossen hast.“

      WENN SIE DAS ERZÄHLEN, SO HEISST DAS, SIE DENKEN; DIE THERAPIE HAT KEINEN SINN. WIR MACHEN THERAPIE, DAMIT SIE NICHT AUS DEN SCHUHEN KIPPEN, WENN SIE ZURÜCKDENKEN.

      Ich vergleiche mich mit meinen Schwestern und finde, dass ich in allen Bereichen am schlechtesten abschneide.

      Beide haben ihre Ausbildung fertig gemacht und den ersten Mann, den sie kennengelernt haben, geheiratet. Ihre Männer sind ungefähr gleichaltrig. Und ich habe mit Sicherheit die meisten Prügel bezogen …. allerdings wurden