Immer wieder versuche ich für mich allein, die Therapie zu beginnen. Spüre, dass ich über bestimmte Dinge nicht reden kann, noch nie gesprochen habe. Alles, was mir im Moment einfällt, kann ich nicht sagen, nicht einmal, wenn ich alleine im Zimmer bin. Ich nehme ein großes Blatt, schreibe auf und versuche zu lesen. Einmal, zweimal. Streiche alles wieder durch und vernichte das Papier. Weiß, dass ich nicht darum herumkommen werde, wenn ich die Therapie machen will.
Ich überlege eine Strategie: Ich werde reden, als ob mich das Ganze nicht betreffen würde. Der hinter mir kann mir egal sein. Ich werde so tun, als ob ich über jemand Dritten berichten würde, und ich muss ja nicht gerade mit dem Schlimmsten anfangen...
Und dann liege ich zum ersten Mal auf der Couch: kleiner weißer Polster, hart. Schaue vorsichtig, ob mein Kleid verrutscht ist, lege die Beine übereinander, falte die Hände über dem Bauch und halte mich fest.
Hinter mir sitzt Dr. Schneider und erklärt noch einmal die Regeln.
ES WIRD EINE ZEITLANG DAUERN, BIS WIR WISSEN, WORUM ES GEHT. FANGEN SIE AN.
Ich beginne mit meinem Mann, mit dem ich seit zwei Jahren verheiratet bin. Den ich durch eine Annonce kennengelernt habe, weil ich anders nicht fähig bin, Kontakte zu Männern herzustellen. Ich empfinde das als Armutszeugnis und es kostet mich große Überwindung, darüber zu sprechen. Erzähle, wie ich ihn das erste Mal „mit einem gelben Buch“ getroffen habe, nach einer Geigenstunde. Verkrampft, er noch mehr als ich: starrer Gesichtsausdruck, viel Gestik. Er hatte mir auf einer hübschen Karte geschrieben, er wolle sich nicht anpreisen.
Gebe ihm widerwillig meine Telefonnummer und sage, dass ich für ein paar Tage wegfahre und mich melden werde, wenn ich wieder zurück bin. Denke mir: nein, der nicht. Steige ins Auto, sehe ihm nach und denke noch einmal: nein.
Der erste Anruf nach meiner Rückkehr ist von ihm. Mir ist langweilig: üben, Theater, Geigenstunde, üben. Dazwischen Heuriger, üben, Theater. Er kennt meine Adresse, kommt unangemeldet und bringt Obst. Ich bin verärgert und gerührt. Obst habe ich noch nie bekommen. Schmuck ja, aber Obst? Wir fahren an den Waldrand, er kennt dort einen hübschen Heurigen. Die Heurigen, die ich kenne, sind alle in der Innenstadt, nahe der Musikhochschule. Er trinkt Mineralwasser und ein Achtel Wein, nippt vorsichtig, ich bin längst mit meinem Viertel fertig. Zahlen. Er zahlt. Es ist mir unangenehm, wenn man für mich bezahlt. „Das nächste Mal zahle ich.“ Er nickt. Wir reden über Belangloses, ich empfinde immer nur seine Starrheit.
So geht es weiter, er ist mein hartnäckigster Verehrer. Alle anderen, die sich auf meine Anzeige gemeldet haben, habe ich nur einmal gesehen, gesagt, ich melde mich. Er meldet sich immer wieder. Ich bin hilflos. Kann nicht sagen, dass ich ihn nicht mehr sehen möchte, weiß nicht, wie ich ihm das anders deutlich machen könnte, will ihm nicht wehtun.
So vergeht der Sommer. Er bringt Bücher und Obst. Manchmal, wenn ich vermute, dass er anruft, lege ich einen Polster übers Telefon. Es läutet im Halb-Stunden-Abstand.
An einem Montag Abend – Montag ist mein freier Tag – stehen wir unten an der Ecke des Hauses. Seine Küsse sind immer brüderlich gewesen. Er fragt, ob er noch hinaufkommen kann. Der traut sich nie, bin ich überzeugt, und stimme zu.
Oben setzt er sich in den Sessel und wartet ab. Wie kriege ich ihn wieder hinaus? Es ist schon spät. Er sagt, "wir könnten ein Stück Weges gemeinsam gehen", macht mir einen Heiratsantrag. Ich grinse innerlich: Vorher wollte mich noch nie jemand heiraten. Er erzählt, dass er vor mir vier Freundinnen gehabt hat, ich habe längst aufgegeben, meine Männer zu zählen. Ich reiße mein Bett auf, jede Geste abweisend - er traut sich doch. Die Matratze ist schmal, ich schlafe schlecht. Mache schnell ein Frühstück, erkläre, dass ich üben muss und bin froh, als er wieder geht.
So verbleiben wir weiter: Ich halte mich auf Distanz. Ein paar Freundinnen haben ihn gesehen, sie sagen nichts. Peter ist nicht besonders attraktiv, nicht besonders gewandt im Gespräch, nicht besonders witzig.
Ich frage ihn nach der Narbe auf seiner linken Brustseite: „Ich war schwer verletzt, wäre fast gestorben.“ Mitleid.
Wenn wir zum Heurigen gehen, hole jetzt ich die Gläser, weil seine linke Hand von diesem Unfall schwächer geblieben ist und leicht zittert.
Es ist Herbst, wir sind bei mir daheim. Ich habe mir fest vorgenommen: Heute sage ich ihm, dass ich nicht mehr will. Heute. Aber wie? Sitze auf einem Sessel, mit dem Gesicht zum Fenster. Er, neben mir auf dem Bett, fragt: „Würdest du mir etwas Schlimmes zutrauen?“
Ich erkläre, dass ich grundsätzlich jedem alles zutraue und spüre seinen Ärger.
Nun erzählt er von sich: Hat ein Mädchen umgebracht, anschließend Selbstmord versucht, wurde gerettet.
Ich bin wie gelähmt: Um Gottes Willen, ich habe doch selbst so viele Probleme!
Muss in einer halben Stunde ins Theater, spiele rein mechanisch, weiß nicht, was. Denke immer nur darüber nach, wie man jemanden umbringen kann.
12 Jahre Gefängnis.
Schluchze, während ich das Dr. Schneider erzähle. Meine Bekannten und Verwandten wissen nichts über Peter. Wie sollen wir Nina einmal erklären, wer ihr Vater ist? Und wann?
DA HAT SICH EINIGES ANGESTAUT, NICHT? Dr. Schneiders Stimme klingt ganz normal. WAS HAT DENN ZU DIESER TAT GEFÜHRT?
„Das weiß ich nicht, er spricht nicht darüber.“
Jetzt erzähle ich noch von meinem Vater, der mich einmal ins Bett geholt und sich auf mich gelegt hat, als ich 14 Jahre war. Ich habe damals nur etwas Hartes gespürt. Er entließ mich mit der Ermahnung: „So etwas darfst du aber nicht mit Buben machen.“ Als ich aus dem Zimmer kam, stand meine Mutter neben der Türe vor einem offenen Kasten.
Die Erinnerung ist nur schemenhaft.
Wer weiß, ob mir das geglaubt wird, überlege ich und denke daran, dass Freud solche Erzählungen als Fantasien qualifiziert hat.
WEISS IHR MANN VON IHREM VATER?
„Nein.“
Ich habe bis jetzt noch nie mit jemandem darüber gesprochen, kann mit niemandem darüber sprechen. Habe mir gedacht, in einer anderen Kultur wäre das alles nicht so schlimm, und: Es ist ja nichts passiert.
Während ich daliege, erinnere ich mich, dass meine Mutter eine Zeitlang mit meinem Bruder und mir in den Wald spazieren gegangen war. Mein Bruder war damals drei Jahre, ich sechs. Unsere Mutter war immer ein Stück voraus, ich bemühte mich, Schritt zu halten, mein Bruder war der Letzte. Bei diesen Spaziergängen hatte ich oft das Gefühl, wir beide seien Hänsel und Gretel, meine Mutter wolle uns aussetzen.
Einmal hat sie meinen Bruder verloren. Es war an einer felsigen Stelle, sie rief ihn sehr laut und hatte offenbar Angst. Ab diesem Zeitpunkt habe ich gewusst, dass wir nicht Hänsel und Gretel waren.
WIE HEISST DENN IHR MANN?
„Peter.“
WEISS PETER, WIE ES IHNEN GEHT?
„Nein.“
Dass Dr. Schneider nun „Peter“ sagt, ist für mich eine Vertraulichkeit, die ihm eigentlich nicht zusteht. Für ihn ist Peter „mein Mann“ und so würde ich es auch lieber belassen. Vielleicht ist es aber auch nur Wortklauberei. Für jemanden, der nicht besonders gerne spricht, bedeutet „Peter“ im Vergleich zu „mein Mann“ immerhin die Ersparnis eines Wortes.
"Peter war in einer Sonderanstalt. Er hätte dort Psychoanalyse machen können, wollte aber nicht."
Ich gebe mir einen Ruck:
„Peter sagt, alle Psychologen sind Idioten.“
Jetzt wird ihn Schneider schon im Vorhinein nicht mehr mögen.
Schneider sagt nichts.
„Er hat sich einmal darüber gewundert, dass alle seine früheren Freundinnen depressiv waren.“