Wegen der Schuld. Yenta E.. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yenta E.
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847673323
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beide Therapien ungefähr gleichzeitig begonnen. Schneider hat gemeint, man könne nur eine Therapie machen, ich habe darauf Dr. Huber angerufen und wollte mich von der Gruppe abmelden. Dr. Huber wiederum sagte, die Gruppentherapie sei ohnehin bald zu Ende, ich solle Schneider fragen, ob ich sie fertig machen könne.

      Die Gruppe hat ursprünglich aus 12 Personen bestanden, ziemlich viel Elend auf einem Platz. Nach und nach sind es immer weniger geworden. An einem Tag sind wir nur noch drei. Ich habe meinen Platz neben einer Frau, die altersmäßig meine Mutter sein könnte und Probleme mit ihrem Sohn hat. Ich fühle mich auch in der Gruppe nicht wohl und habe das Gefühl, dass ich nichts Positives beitragen kann. Muss jedes Mal mitweinen, wenn jemand weint und werde Verweigerer genannt, weil ich kaum den Mund aufbringe.

      Ich erzähle über mein Erlebnis in der Küche. Meine Befürchtungen, dass man mich auslachen wird oder sagen, ich sei verrückt, gehen nicht in Erfüllung. Helfen kann mir aber auch niemand.

      „Was geschieht mit der Schuld?“, frage ich Dr. Huber. „Nimmt sie der Therapeut auf sich? Und was macht er damit?“

      Und in diesem Augenblick sehe ich Charlie Chaplin im Film „Der große Diktator“ vor mir, als er die Weltkugel tanzen lässt und stelle mir vor, dass Schuld etwas ist, womit man jonglieren kann, zumindest theoretisch.

      Dr. Huber beantwortet meine Frage nicht. Er fragt an diesem letzten Tag, was ich von der Gruppe profitiert hätte. Ich denke kurz nach und sage, dass ich, weil ich neben dieser Frau sitze, wohl noch immer meine Mutter suche.

      Dr. Huber sagt, dass ich die Einzige gewesen sei, die sich abgemeldet habe, und dass ich die Gruppe in ihrem Rest zusammengehalten hätte. Er hoffe, dass mir die Gruppe nicht mehr geschadet als genutzt hätte (ich fühle mich nicht geschädigt).

      „Das, was man über andere sagt, erzählt man über sich selbst. Was man von der Vergangenheit erzählt, ist auch heute noch aktuell. Die analytische Situation kann man jedoch nicht im Alltag anwenden. Sie sind bei Dr. Schneider in guten Händen.“

      Der Rest der Gruppe will anschließend noch in ein Lokal gehen. Ich habe Angst und verlasse den Raum, ohne mich zu verabschieden.

      „Ich habe gestern halluziniert“, sage ich, während ich auf der Couch liege.

      DAS IST ABER SCHLECHT, kommt die Antwort von hinten.

      Ich erzähle das Ganze noch einmal und spüre wieder die Angst. Ich glaube, dass ich schnell ein Medikament brauche. Ich habe so ein unsicheres Gefühl über mich selbst.

      STEHEN SIE AUF.

      Schneider bietet mir den zweiten Sessel an, sperrt seinen Schreibtisch auf und sagt, er wolle sich noch einmal meinen Test ansehen.

      ICH HABE SIE ABER BEIM VORGESPRÄCH GEFRAGT, OB SIE STIMMEN HÖREN.

      „Ich höre keine Stimmen“, sage ich verärgert.

      Er sieht den Test flüchtig durch und legt die Blätter wieder in die Mappe zurück.

      DAS WAR HALT EIN BISSCHEN VIEL AUF EINMAL, DIE ERSTEN DREI STUNDEN.

      Ich erzähle, dass ich von der Gruppe weggelaufen bin.

      HIER HER?

      Nein, das nicht. Es kostet mich jedes Mal ziemliche Überwindung, dieses Zimmer zu betreten, wo ich jemanden hinter mir habe, und vor mir ein Bücherregal, in dem von einem nummerierten Band die Teile 1 bis 4 fehlen.

      WO DIE BÜCHER SIND, WEISS ICH, NUR DEN ANFANG KENNE ICH NICHT.

      Schneider sagt, ich solle einen Augenblick warten und geht aus dem Zimmer. Auf seinem Schreibtisch liegt ein umgedrehter Befundbericht, auf dem „Sexualneurose“ steht.

      Die habe ich wahrscheinlich auch.

      Wenig später kommt er wieder und sagt, er hätte für mich einen Termin bei Dr. Müller vereinbart, ich solle gleich hinübergehen.

      Dr. Müller lässt sich noch einmal alles über die Halluzination erzählen. Er meint, ich sei beunruhigt und verschreibt mir ein Medikament, während er erklärt, dass auf der Station jederzeit ein Bett für mich bereit stehe.

      „Dr. Schneider ist wirklich sehr gut“, sagt er, als er mich entlässt.

      Das Medikament wirkt schnell und die Angst verschwindet.

      Daheim stöbere ich alle Bücher durch, die Sexualneurosen sind kaum vertreten. Wahrscheinlich habe ich die falschen Bücher. Ich gehe wieder in die Bibliothek, dort finde ich auch nichts, was mich weiterbringt. Was ist eine Sexualneurose?

      Schneider nennt meine Halluzination „psychotisches Erlebnis“ und ich habe vor, die Tabletten nicht länger zu nehmen, als es unbedingt sein muss.

      „Wer weiß, wie mich das Zeug manipuliert.“

      Zu Beginn der Therapie hat er gesagt, es werde „eine Zeitlang dauern, bis wir wissen, worum es geht“.

      „Wer ist wir“, frage ich und denke an eine Studie, bei der ich als Schreibkraft mitgearbeitet habe, in der Patienten für eine Behandlung ausgewählt wurden, ohne zu wissen, dass sie gleichzeitig Forschungsobjekte waren.

      WIR, DAS SIND WIR BEIDE. WAS HABEN DENN SIE GEDACHT?

      Ich sage, dass ich das Gefühl habe, hier für Studienzwecke zu liegen.

      SIE MEINEN, DASS ICH DAS NICHT KANN, UND SIE MEINEN, DIE THERAPIE MANIPULIERT SIE.

      Bei der ersten Deutung hat er sich vertan, ich sage nichts. Aber dass mich die Therapie manipulieren könnte, daran habe ich auch schon gedacht.

      SIE HABEN KEIN VERTRAUEN.

      „Ich kann alles sagen, was mir einfällt. Aber ich kann nicht sagen, dass ich Ihnen vertraue. Ich habe noch nie jemandem vertraut.“

      In den Büchern, die ich gelesen habe, steht, dass sich der Therapeut vor Beginn der Behandlung zu Stillschweigen gegenüber dritten Personen zu verpflichten hat.

      „Sie haben nicht gesagt, dass Sie nichts weitererzählen werden.“

      DAS HÄTTEN SIE MIR DOCH SOWIESO NICHT GEGLAUBT.

      Wahrscheinlich hat er recht.

      „Peter geht es zur Zeit auch nicht gut.“

      NEIN.

      „Und sein Selbstbewusstsein ist auch nur Fassade.“

      JA.

      „Im Theater hat man mir immer Zuckerln angeboten und ich habe das Zeug jedes Mal genommen, obwohl ich so etwas gar nicht mag. Ich habe damals von allen Seiten Süßigkeiten bekommen, dabei war ich nicht einmal die Jüngste.“

      DAS HAT MIT DEM ALTER NICHTS ZU TUN. ES IST KEIN WUNDER, DASS JEMAND IN IHRER LAGE NOCH ZUSÄTZLICH ETWAS NEHMEN MUSS.

      „Bin ich eifersüchtig auf Nina?“

      EIFERSÜCHTIG? SIE SIND AUSGEHUNGERT.

      Ich erzähle, dass Dr. Müller gesagt hat, ich könne jederzeit auf die Station übersiedeln. Davor habe ich die größte Angst.

      DR. MÜLLER HAT NICHT DEN GLEICHEN INFORMATIONSLEVEL WIE ICH.

      „Er hat auch gesagt, ich soll nicht so viel ‚warum‘ fragen.“

      Schneider lacht.

      „Er hat gesagt, er verschreibt mir ein Medikament, auf das ich mir dann auch nicht mehr überlege: Warum bin ich jetzt so ruhig?“

      SIE HABEN NOCH NICHTS ÜBER IHRE KINDHEIT ERZÄHLT.

      „Kindheit hin, Kindheit her“, ich bin ungehalten, „irgendwann wird jeder erwachsen und ist für sich selbst verantwortlich.“

      „Habe ich eine Sexualneurose?“

      WIE KOMMEN SIE DARAUF?

      Ich erzähle von dem umgedrehten Befundbericht auf dem Schreibtisch.

      SIE