Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
Скачать книгу
„…weiß nicht – vielleicht. Aber erstmal hätte ich gerne noch ein Stück Kuchen.“

      Emilia lachte erleichtert und wollte schon aufstehen, um in die Küche zu gehen.

      „Ich hole es mir selber.“ Marissa sprang auf und stand kurz darauf mit einem Stück Kuchen in der Hand in der Tür und biss hungrig hinein, setzte sich wieder neben die Großmutter. „…tut mir Leid, dass ich so eine Heulsuse bin…“

      „Ach, Issa,… das ist wohl gerade einfach so. Das gibt es eben mal…“

      Sie berührte leicht die Hand der Enkelin. In dem Moment tauchte Teo auf der Terrasse auf, maunzte laut und vernehmlich und sprang mit einem eleganten Satz, dem man ihm gar nicht mehr zugetraut hätte, zu den beiden auf die Bank. Ungeniert spazierte er über Emilias Schoß um sich dann genau zwischen Großmutter und Enkelin in die warme Enge zwischen deren Oberschenkel hineinzuzwängen. Marissa grinste: „Hey, du Stromer, das ist viel zu eng hier.“ Aber sie rutschte bereitwillig ein wenig zur Seite, damit es sich Teo gemütlich machen konnte. Dieser fing augenblicklich an, sich die Pfoten zu lecken, die Ohren zu putzen und sich überhaupt in akribischer Art und Weise zu Recht zu machen.

      „Unglaublich, so ein Pascha“. Emilia schimpfte liebevoll. „Du bist viel zu verwöhnt.“ Sie kraulte ihn ein wenig im Nacken, worauf dieser sofort ein kehliges Schnurren hören ließ. Und dann saßen die Drei auf der Bank in der Sonne, genossen die Nähe und die schnurrende Ruhe, den leichten Wind und das Gefühl von Heimat.

      *

      Heimat. Das war für Emilia lange Zeit kein realer Ort gewesen. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, unterwegs zu sein. Auf der Flucht, auf der Suche. War nie wirklich jemals irgendwo angekommen, nie wirklich zuhause. Hier auf der Insel hatte sie erst jetzt am Ende ihres Lebens tatsächlich das Gefühl von Heimat, von angekommen sein. Doch viel Zeit war darüber ins Land gegangen, viele Wege hatte sie gehen müssen. Und nun – so schien es ihr – gab es noch einen Weg zu gehen. Jetzt, wo sie selber an ihrem Lebensziel angekommen war, gab es noch ein Um-sich-blicken auf die, die nachfolgten. Die noch eine weite Strecke vor sich hatten.

      Emilia wollte sich gerne hinsetzen, ausruhen von ihrem Weg, doch sie sah, dass es dafür noch zu früh war. Mit dem Blick auf ihre Enkelin schaute sie mit einem Mal in einen rückwärts gerichteten Spiegel, worin sich alle Generationen aneinanderreihten. Und ihr kam eine Ahnung in den Sinn. Die Ahnung einer ineinander verwobenen Verästelung des Familiengewebes. Einer vererbten Lebensspur, die sich in allen Abzweigungen wiederfand.

      Jetzt als alte Frau war ihr Blick dafür scharf genug. Sie sah, dass Marissa am Ende einer Kette von leidvollen Erfahrungen stand, die die Frauen vor ihr in ähnlicher Weise ebenso durchlebt hatten.

      Mit irritierender Klarheit sah Emilia ihre Mutter Mathilda, sah sich selber, ihre Tochter Juliane, Marissas Mutter, sah die Schwestern Marissa und Sandrina…

      Jede dieser Frauen war Teil eines großen Bildes, das nun seit über hundert Jahren immer wieder die Farben wechselte, Veränderungen erfuhr, neue Details erhielt, Schaden nahm, ausgebessert wurde und sich im ständigen Wandel der Jahre erneuerte. Doch die Grundstruktur war immer die gleiche, der Rahmen blieb unverändert und presste die Personen, die darin ihr Leben lebten, mitunter sehr unsanft und rüde zusammen.

      Und doch: es war das Bild einer Familie. Ihrer, Emilias Familie. Und sie war die letzte, die noch wusste, wie es ausgesehen hatte, als die ersten Farbstriche getan wurden.

      Ihr Blick zurück war in erster Linie von ihren eigenen Lebensbildern geprägt. Sie sah mit ihren Augen auf Geschehnisse, Gefühle und Zeitenwandel. Konnte nur durch ihr eigenes Empfinden daraus ein Muster erkennen und versuchen, dieses zu entwirren und entschlüsseln um der nachfolgenden Generation den Weg ein wenig einfacher und klarer zu gestalten. Doch wieviel Einfluss und Macht ihr diesbezüglich zur Verfügung stand, war immer abhängig davon, wie bereitwillig diese aufgenommen wurde. Sie konnte nicht erzwingen, dass ihre Erkenntnis und Hilfe erwünscht war. Doch sie vertraute darauf, dass zum rechten Zeitpunkt sich die Gelegenheit für eine vertrauensvolle Herzensöffnung zeigte. Sie war sicher, sie würde sie sehen und gemeinsam mit der Enkelin in eine Zeit spazieren, die für diese unbekannt war und voller ungeahnter Hintergründe ihres Lebens.

      *

      Marissa erlebte diesen Geburtstag als eine wundersame Mischung aus trauriger Süße. Nach dem Salzgeschmack der Tränenflut am Morgen, war es den Tag über viel tröstende Kuchenseligkeit und weiche streichelnde Sonnenwärme, die ihr zusammen mit der liebevollen Zuwendung ihrer Großmutter zu teil wurden. Kater Teo schmiegte sich auffallend oft an ihre Beine, forderte Streicheleinheiten ein, die ihr selber so gut taten. Es war ihr ein Wohlgefühl, die Stunden mit ruhevoller Leichtigkeit zu verbringen. Das Weinen hatte sie befreit aber auch sehr müde gemacht. Sie spürte sich in allen Gliedern verlangsamt und dumpf. Ihr Kopf war leer und ihr Herz von Gefühlswallungen träge. Sie war froh, nicht viel reden zu müssen, nichts zu hören, was sie anstrengte. Nicht heute, nicht jetzt.

      Sie hatte in der Frage ihrer Großmutter, ob sie reden wolle, etwas erspürt, dass sie unruhig machte und gleichzeitig anzog und zurückweichen ließ. Irgendetwas war da, was wichtig war, gesagt und gehört zu werden. Doch sie war von solch undurchdringbarem In-Sich-Gefangen-Sein umschlossen, dass es ihr unmöglich schien, daraus auszubrechen. Nicht heute, nicht jetzt.

      Sie humpelte durch das Gras, blinzelte ins Sonnenlicht, döste im Liegestuhl vor sich hin, aß zu viel Kuchen, scheuchte Teo von den Vögeln weg und lauschte auf das ferne Rauschen des Meeres. Morgen würde sie versuchen, wieder an den Strand zu gehen. Sie sehnte sich nach Wellengekräusel und Sandgeriesel.

      *

      Emilia beobachtete ihre Enkelin vom Küchenfenster aus während sie sich an das versprochene Abendessen machte. Deren Angebot nach Hilfe hatte sie abgelehnt: „Heute ist dein Geburtstag – lass dich nur verwöhnen.“

      „Aber du verwöhnst mich doch schon die ganze Zeit“, hatte Marissa gesagt aber nicht viel Widerstand geleistet als die Großmutter sie wieder nach draußen scheuchte. Vielmehr hatte sie gelacht und sich mit einem befreiten Seufzer wieder in den Liegestuhl sinken lassen.

      Emilia hatte das mit Erleichterung bemerkt. Es schien ihr, dass sich Marissa ein wenig erholt hatte, wenngleich sie ahnte, dass in der Tiefe ihrer Seelenhülle noch ein Meer von ungelöster Schmerzenstropfen lauerte.

      Sie hoffte darauf, dass die richtige Zeit kommen würde für das, was schon lange abgelebt war. Aber das dennoch so lebendig war, dass es ihm Moment des Jetzt noch seine Wirkung zu zeigte.

      Emilia rührte schnell und gleichmäßig die Sauce im Topf, damit sie keine Klumpen bildete. Sah durch das Fenster in den Garten, nahm wahr wie Marissa mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Beinen dasaß, den Blick in die Ferne gerichtet. Und Kater Teo, der an ihrem Fußende eingerollt lag und mit völlig losgelösten Gliedern ausgestreckt dort schlief.

      Ein friedliches Bild, das sie an ein anderes Mädchen erinnerte. Ein Mädchen voll von Träumen und Wünschen mit vielen Talenten und Fähigkeiten. Vom Aussehen unterschied sich dieses sehr von der jungen Frau auf dem Liegestuhl. Diese hier war schlank und zierlich. Das Mädchen von damals war recht klein und hatte einiges an Gewicht zu viel auf den Rippen. Aber hübsch war sie auch gewesen. Nicht so durchscheinend wie Marissa mit ihrem blassen Teint, vielmehr blühend und rund mit einer Haarpracht, um die sie manches andere Mädchen glühend beneidete. Allerdings durfte sie ihre langen, dicken Locken kaum offen zeigen. Ihr Vater zwang die Tochter zu einer strengen Zopffrisur. Das Drama, das sich ergab als sie die verhassten Zöpfe abschnitt, war nachhaltig. Aber dieses Drama war vergleichsweise harmlos gegenüber den Dramen gewesen, die sie schon durchlebt hatte und noch leben würde….

      Als das Telefon klingelte, schrak Emilia auf, zog rasch den Topf mit der Sauce von der Herdplatte, gerade noch rechtzeitig bevor diese am Topfboden ansetzte.

      Die Stimme ihrer Tochter klang gepresst an ihr Ohr. Emilia spürte die angestaunten Emotionen darin. „Kann ich Marissa jetzt sprechen?“

      Emilia schaute aus dem Fenster in den Garten zu ihrer Enkelin hinüber. Diese war jetzt aufgestanden und humpelte auf einem Bein Teo hinterher. Als sie zum Haus hinübersah, winkte Emilia ihr zu und