Etwas zog sie davon fort, etwas rief sie zu sich mit dringlichem Klang. Rief einen Namen, den sie kannte. Wusste, er hatte etwas mit ihr zu tun. Ihr Ich, ihr Sein, ihr Selbst rief sie laut.
„Issa! Hörst du mich?“ Emilia beugte sich über ihre Enkelin, strich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Issa, wach auf!“ Sie bat mit ihrer Stimme und ihren Händen, die sie ihr warm auf den Brustkorb legte und dort innehielt bis sie spürte, wie sich dort Lebensenergie sammelte, Marissa Atmung ruhiger wurde. Und schließlich waren da ein tiefes Luftholen und ein Seufzer von ganz weit unten mit dem Marissa ihre Augen öffnete und direkt dem Blick der Großmutter begegnete.
„Na, du“, meinte diese sanft. „Da bist du ja.“ Marissas Kopf schmerzte als sie zu nicken vorsuchte. Sie blinzelte aus verklebten Augenlidern und sagte leise: „Ich war immer da.“ Bevor sie wieder einschlief, ließ sie sich Tropfen einflössen, trank einen Schluck Wasser und entglitt in einen Schlaf, der sie traumlos davon trug.
Emilia bemerkte erleichtert die gelösteren Gesichtszüge der Enkelin auf dem Kissen. Sie war mit einem Mal unendlich müde und legte sich erschöpft auf die andere Seite des großen Bettes nieder um ein wenig auszuruhen.
Unbemerkt schlich sich eine Weile später Kater Teo die Treppe hinauf, sprang zu den Schlafenden ins Bett und kuschelte sich zwischen die Beiden.
*
Das Fieber sank, die Kopfschmerzen verschwanden und der Hals wurde wieder frei. Marissa erholte sich schnell. Nach ein paar Tagen war sie bereits in der Lage, nach unten zu gehen und sich zur Großmutter auf die Bank im Garten zu setzen. Ihr Gesicht, das so blass gewesen war, saugte sofort die Sonnenstrahlen auf und blühte rosig darunter hervor. Ihre Augen blickten klar in das üppige Grün des Gartens und hingen an den Farben der Blumen in den Beeten. Da sie es gar nicht mehr erwarten konnte, stimmt Emilia schließlich zu, zusammen mit ihr an den Strand zu gehen. Der Knöchel schmerzte kaum noch und Marissa traute sich, ihn wieder zu belasten. Sie fühlte sich in sich nur so merkwürdig schwach und durchlässig. Dr. Schmidtmann hatte Emilia beruhigt, dass sich alles wieder zurechtrücken würde. Es brauche einfach Zeit. Und ja, er würde Marissa wirklich gerne in der Praxis sehen.
Emilia hatte ihrer Enkelin dieses Anliegen weitergegeben, worauf diese genickt hatte ohne ein weiteres Wort dazuzusagen. Nach wie vor blieb Marissa verschlossen und ließ nicht erahnen, was sie fühlte und dachte. Wahrscheinlich brauchte auch das ihre Zeit. Emilia hatte Zeit. Zeit im Überfluss. Sie konnte warten.
Das Meer atmete zu ihnen hin mit überschäumender Lebenskraft. Die Wellen schossen mit der Flut in urgewaltiger Kraft zu ihnen ans Land. Griffen gierig nach ihnen, wenn sie sich zu nahe heranwagten. Emilia wich zurück. Marissa ging darauf zu. Ließ das Wasser an sich lecken und ziehen bis sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Emilia wollte sie halten aber sie ahnte, dass sich Marissa ihr entziehen würde. Sie wollte das Wasserelement hautnah erleben. Wie schon immer zog es sie magisch an. So als sei es ein Stück von ihr selbst. Als sei sie daraus hervorgegangen. Sie stand mit geschlossenen Augen inmitten der Brandung, glückselig versunken.
Emilia beobachtete sie mit verwunderter Ergriffenheit. Dieses Wesen da im Wasser schien in einer völlig anderen Welt zu leben als die Marissa an Land. Als wäre sie eine andere Person. Entrückt, gestrandet. Und ganz Daheim.
Später tranken sie Tee auf der Bank im Garten. „Morgen fahre ich mit dem Fahrrad in den Ort. Ich muss mal wieder sehen, wie es da so ist. Und einiges erledigen. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst. Opas Fahrrad dürfte noch fahrtüchtig sein.“ Emilia sagte es ohne viel Hoffnung auf Resonanz. Sie sah aus den Augenwinkeln wie Marissa fest ihren Teebecher in den Händen hielt und scheinbar gar nicht gehört hatte, was die Großmutter sagte. Eine Zeitlang war nur die Sommerstille zu hören. Emilia schwebte mit ihr über den Rasen und ließ alles sein, wie es sein wollte.
Als sie dann die Stimme der Enkelin vernahm, sah sie überrascht auf. „Gut“, sagte diese. „Dann kann ich ja gleich zu Dr. Schmidtmann gehen.“
Emilia versuchte ihre glückliche Erleichterung zu verbergen und meinte leichthin: „Gute Idee. Und hinterher essen wir noch ein schönes großes Eis.“
*
Im Wartezimmer saßen ihr zwei ältere Frauen gegenüber, die sich in tiefstem Friesenplatt überhielten, sodass Marissa kein Wort verstand. Fasziniert lauschte sie eine Weile dem breiten Wortgefälle, ließ es dann wir ein Rauschen an sich vorüberziehen und lenkte ihre Gedanken zurück zu sich.
Ihr Aufbruch vor zehn Tagen lag lange zurück. Länger als die Tage an sich. Die Großstadt, das Studium und ihr Leben dort, waren schon so weit entrückt, dass sie kaum noch etwas in sich davon erkannte. Sie erinnerte sich noch, dass sie sich irgendwann von ihrer Zimmernachbarin im Studentenwohnheim verabschiedet hatte, die die Semesterferien in Leipzig bei ihrem Freund verbringen wollte.
Sie selber hatte keine konkreten Pläne gehabt. Lernen. Aber nicht zu viel. München im August geniessen, wo es so angenehm leer war und nur den Münchner gehörte. Freunde treffen. Verreisen eher nicht. Wohin hätte sie sollen, können, wollen. Bei der Vorstellung zu ihrer Mutter zu fahren, zog sich alles in ihrem Innern zusammen. Ihr Vater hatte sie längst schon eingeladen, zu ihm nach Berlin zu kommen. Doch da war auch diese Eltje, die sie nicht kannte und nicht kennenlernen wollte. Sie hatte sie auf einem Foto gesehen, das ihr Vater geschickt hatte. Eine blonde, schmale Frau mit langen Haaren und so blauen Augen, die durch das Bild in einer Intensität auf den Betrachter blickten als könnten sie ihn durchschauen. Marissa war unwohl geworden bei ihrem Anblick. Doch ihr Vater auf dem Bild schaute die Frau mit warmem Ausdruck an, sodass sie glauben mochte, die beiden seien glücklich.
Ein paar Tage ließ sie sich durch die freie Zeit treiben. Schlief lange, frühstückte spät - gerne auf ihrem winzigen Balkon, wenn das Wetter es zuließ. Las einen dicken, herrlich romantischen Liebesroman, räumte endlich ein paar Ecken in ihrem Zimmer auf, die sie lange erfolgreich in wohlmeinendem Dunkel gelassen hatte. Traf ein paar wenige Studienkollegen an der Isar oder im Englischen Garten, im Uni-Café. Viele waren nicht mehr da, verreist zu den Eltern, unterwegs mit Freund oder Freundin. Untergetaucht in den Urlaub.
Schließlich stand sie eines Tages auf und da war nur ein Nichts. Sie fühlte ein Vakuum um sich, das sie schonungslos bedrängte, die Luft hörbar machte und das Herz stolpern ließ. In der Nacht jagte sie ein panisches Gefühl angstgefüllt an das Fenster, raus auf dem Balkon.
Früh am nächsten Morgen packte sie eilig ein paar Sachen in ihren Rucksack, schaute im Internet nach den Abfahrtszeiten der Züge und war schon eine Stunde später auf dem Weg zum Bahnhof. Am Automaten zog sie sich die Fahrkarte und rannte gehetzt zum bereits warteten ICE Richtung Hamburg und Bremen. Sie hatte Glück und ergatterte einen freien Platz am Fenster. Bis zur Abfahrt blieben nur noch ein paar Minuten, die sie in angespannter Haltung verbrachte mit der unbegründeten Sorge, irgendetwas könnte sie noch davon zurückhalten. Als der Zug dann leise aus dem Bahnhof glitt und aus dem Gleisgewirr hinausfand, schließlich mehr und mehr an Fahrt gewann und die Landschaft zu einem zerronnen Bild verschwamm, entspannte sie sich, sank an das Sitzpolster und dämmerte davon. Von der Fahrt bekam sie kaum etwas mit, öffnete kurz die Augen als die Fahrscheine kontrolliert wurden. Gegen Mittag meldete sich ihr Magen unmissverständlich zu Wort. Im Bistro besorgte sie sich ein Sandwich und Wasser. Dann schlief sie wieder ihren Halbschlaf bis hin nach Bremen.
Der zugige Bahnhof empfing sie mit dem Gefühl, hierbleiben zu sollen. Sich nicht davonzuschleichen. Nicht an der Mutter vorbei zu huschen wie ein Dieb. Marissa blickte unsicher in die Gesichter der Menschen auf dem Bahnsteig. Doch niemand erkannte sie, niemand hielt sie auf und rief: Bleib hier. Trotzdem schaute sie sich immer wieder um als sie die Treppe hinunter stieg, den Gang entlang lief und schließlich durch die Bahnhofshalle hinaus auf den Vorplatz trat. Vorsichtig blieb sie dort stehen, ließ den Blick schweifen. Immer noch mit der Furcht, jemanden zu entdecken, der sie erkannte. Doch