Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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in die Wohnstube, bekam einen Kurzen – auch wenn er immer behauptete, während der Arbeit nicht zu trinken – und versorgte Emilia noch mit dem neuesten Klatsch und Tratsch der Insel.

      Als Marissa ihn das erste Mal sah, konnte sie nicht glauben, was da für eine Erscheinung vom Kutschbock hinunterstieg. Ein altersloses Männlein, mit faltigem Gesicht, roter Nase und zwei Ohren, die derart weit vom Kopf abstanden, dass sie an ein paar Segel erinnerten. Vielleicht war er mal in einen Sturm geraten und hatte keine Mütze aufgehabt, dachte Marissa innerlich grinsend bei sich, hatte aber gleich ein wenig schlechtes Gewissen ob ihrer Respektlosigkeit. Und überhaupt war Knut Niederbrück ein Mann, der einem sofort in seinen Bann zog. Er konnte unglaublich farbig erzählen und besaß einen trockenen Humor, der jedes Zwerchfell arg strapazierte. Auch Marissa kam sehr bald in den Genuss, sich nicht mehr vor Lachen halten zu können. Von da an freute sie sich immer, wenn sie die Pferde von Knut Niederbrück herantraben hörte.

      Ansonsten verbrachte sie viel Zeit im Garten auf ihrem Platz im Liegestuhl und gab sich dem süßen Nichtstun hin. Und dem Lesen. Sie hatte sich aus Emilias kleiner Bibliothek ein Buch geliehen und versank damit in die Tiefen der Welt voll Poesie und Wohllaut. Sie hatte immer gern und viel gelesen. Doch seit sie studierte, waren es nunmehr vorwiegend Fachbücher zur Veterinärmedizin, die sie sich zu Gemüte führte. Für unterhaltsame Literatur fand sie kaum Freiraum. Für was ein gestauchter Knöchel doch gut war.

      Das Studium, so sehr sie sich dafür begeisterte, hatte sie zum Ende des Semesters sehr angestrengt. Irgendetwas in ihr war nicht mehr bereit gewesen, sich nach dem vorgesehenen Lehrplan zu richten, nach Vorlesungen. Alles ermüdete sie über Gebühr und nachts fand sie nicht die Ruhe, die ihr die benötigte Erholung hätte bringen können. Im Gegenteil fühlte sie sich in ihrem traumschweren Schlaf oft verfolgt, gedrängt, atemlos, sodass sie am Morgen müder erwachte als sie abends ins Bett gegangen war.

      Die Bilder der Nacht standen schwarz-bedrohlich vor ihr, ohne dass sie sie hätte fassen und erkennen können. Sie verbargen sich hinter dem Vorhang der Taghelle ohne wirklich verschwunden zu sein. Eine unsichtbare Bedrohung von unwirklicher Realität.

      Hier endlich konnte sie schlafen. Ruhig. Friedlich. Traumlos.

      Das tat ihr gut. Das machte das Hiersein aus. Mehr war es nicht. Und doch so viel.

      *

      Emilia vermisste nichts. War sich selbst genug. Freute sich an ihrer Heimatoase, ihrem Pflanzenparadies, das sie noch mit Julius geplant und angelegt hatte.

      Mitunter sah sie ihn wie aus dem Nichts neben den Rosensträucher stehen mit der Gartenschere in der Hand, sah wie er sich umdrehte. Hörte ihn rufen: „Lia. Soll ich noch mehr abschneiden oder ist es genug?“ Und es war immer gut, egal was er tat. Manchmal kam er mit auf dem Rücken verschränkten Armen langsam auf sie zu, blieb nahe vor ihr stehen und zauberte dann eine einzelne besonders schöne Rose hervor. Für sie. Grinste bubenhaft. Charmant. Unwiderstehlich. Emilia musste immer lachen.

      Auch jetzt noch. Nach so vielen Jahren ohne ihn. Und war glücklich. Glücklich, dass sie hier noch so lange Zeit hatten leben können. Zusammen.

      Die Sehnsucht nach Meer, Stille und Abgeschiedenheit hatte sie hierhergezogen.

      Allen Protesten zum Trotze hatten sie sich auf die Suche nach einem Haus gemacht und waren überraschend schnell fündig geworden. Das alte Haus hinter den Dünen stand schon lange zum Verkauf, niemand wollte es haben, da das Inventar mitveräußert werden sollte. So stand es im Testament des Eigentümers. Die Möbel waren altmodisch und voller Patina. Es gab viele merkwürdige aber auch schöne Sammlerstücke, die von den Seefahrten des alten Kapitäns stammten, der hier während seiner Landaufenthalte gewohnt hatte.

      Emilia hatte sich sofort in das Haus verliebt und Julius liebte alles, was seine Frau liebte. Und so zogen sie hierher und genossen jede Minute in ihrem neuen Heim. In ihrem Paradies am Meer.

      Fünfzehn Jahre war das jetzt schon her. Sie waren glücklich gewesen in der Zeit, in der es ihnen vergönnt war, gemeinsam Inselfrieden einzuatmen.

      Dann wachte Julius eines Morgens nichts mehr auf. Er schien etwas Schönes im Traum gesehen zu haben, denn es lag noch ein Lächeln auf seinem Gesicht. Doch seine Augen öffneten sich nicht und die Hand, die beim Einschlafen die ihre gehalten hatte, war kalt. Emilia spürte noch die Liebe, die zu ihr geflossen war und nahm die Hand wärmend in die ihre, drückte sie an ihr Herz und gab dann den Mann, den sie noch immer so liebte wie am ersten Tag, an die Macht zurück, von der er einst auf die Welt geschickt worden war.

      Das war vor vier Jahren gewesen. Und es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte. Mit vollem, warmen Herzen ohne Trauer. Er war bei ihr, auch wenn er jetzt woanders war. Sie fühlte seine Nähe und Gegenwart deutlich und war nicht allein.

      *

      „Vermisst du ihn?“ Marissa stand in der Tür des Schlafzimmers gelehnt und sah die Großmutter auf der leeren Bettseite sitzen, das Bild des Großvaters in der Hand.

      „Ja .“ Emilia wandte ihren Blick nicht vom Bild. Wischte dann mit der Hand darüber. Eine liebevolle, streichelnde Geste, die Marissa unerwartet berührte. Dann stellte sie es auf das Tischchen neben dem Bett. „Komm setz dich.“ Sie klopfte einladend auf den Platz neben sich. Marissa schmiegte sich eng an die Großmutter und ließ es zu, dass diese fest den Arm um sie schlang.

      „Aber weißt du, er ist da, bei mir“, sie legte die freie Hand auf ihr Herz. „Ich kann immer mit ihm reden und er redet mit mir.“

      Marissa schwieg. Beide schwiegen eine lange Weile, aneinander gelehnt wie um sich gegenseitig Halt und Schutz zu geben. Um sich zu trösten und Mut zu verleihen und sich der Gegenwart der anderen zu vergewissern.

      Der Wecker an Emilias Bettseite tickte langsam und stetig vor sich hin, lullte die beiden in einen tranceartigen Traumzustand. Die Luft flirrte wie feine Schmetterlingsflügel. Draußen war es schon dunkel und der Wind ließ manchmal die Fensterläden unten am Haus klappern. Sonst war es still und die Zeit schien zu schlafen. Sie war müde. Müde wie die beiden da am Bettrand.

      Und dann sagte die Jüngere so leise, dass es wie ein Flüstern eines Schmetterlings klang: „Ich wünschte, ich würde Sandrina spüren…“

      Die Umarmung der Großmutter wurde enger und mit einem Mal sank die Enkelin mit ihrem Kopf auf den Schoß der Älteren und mit ihr die Tränen, die in ihr festgesteckt gewesen waren. Sie flossen einfach aus ihr heraus. Die alte Frau strich sacht über den Arm der Jungen, hielt sie fest und ließ sie weinen. Auch in ihren Augen brannten die Trauertropfen und rannen lautlos über die Wangen.

      Es dauerte seine Zeit. Und dann…dann hörte es auf - das Seelenweinen. Es schien erschöpft von der Anstrengung.

      Alle waren erschöpft. Marissa blickte die Großmutter mit roten Augen an, ihre Nase tropfte noch aus undichtem Ventil. Alles war nass. Der Schoß, das Gesicht, die Kleidung. „Darf ich heute Nacht bei dir schlafen?“

      Emilias Augen nickten leise. Wortlos trockneten sie sich die Tränenspuren aus den Gesichtern, wechselten die mitgenommene Kleidung. Als sie beide ins Bett krochen, schliefen sie schon bevor sie sich Gute Nacht sagen konnten.

      *

       Und morgen wird die Sonne wieder scheinen,

       und auf dem Wege, den ich gehen werde, wird uns,

       die Glücklichen, sie wieder einen

       inmitten dieser sonnenatmenden Erde…

       und zu dem Strand, dem weiten, wogenblauen,

       werden wir still und langsam niedersteigen,

       stumm werden wir uns in die Augen schauen,

       und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen…*

      *(Text: Henry Mackay, Melodie: Richard Strauss)

      Früh am Morgen wachte Emilia auf,