Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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Seele.

      Sie selber hatte es überaus gerne gesungen – damals nach dem Krieg als sie endlich Gesangsstunden nehmen konnte, leider nicht regelmäßig, denn die Stunden waren teuer, aber doch immer mit völliger Hingabe und Begeisterung. Dieses Lied wurde so etwas wie ein Symbol für sie dafür, dass es immer weiter ging, das es immer wieder ein Morgen gab.

      Natürlich war es kein Zufall, dass sie sich gerade jetzt daran erinnerte. Emilia war erschüttert über den Ausbruch der Enkelin. Wieviel musste sich in dem Mädchen alles angestaut haben, dass es so heftig hervorbrechen konnte. Und warum hatte sie sich täuschen lassen von der fröhlichen Energie der Enkelin, von ihrem Überschwang, ihrem Lachen. Wahrscheinlich weil sie sich täuschen lassen wollte. Nicht sehen, was sie am ersten Abend gesehen hatte und dann weggeschoben hatte. Eine junge Frau, die weglief. Um Hilfe lief.

      Vorsichtig setzte sich Emilia im Bett auf, der Wecker zeigte 5.30 Uhr. Das Gesicht ihrer Enkelin lag vergraben in den dicken Wolken des Kopfkissens. Nur die Nase war zusehen, klein, spitz und rot, durch die geräuschvoll der Atem ein und ausströmte.

      „Arme Nase“, dachte Emilia. Langsam und so leise es ging, stand sie auf, schlüpfte in ihre Pantoffeln und hüllte sich in ihr Umschlagtuch, das am Fußende lag. Die Dielenbretter knarrten ohrenbetäubend und die Treppenstufen schlossen sich ihnen an. Unwillkürlich hielt Emilia den Atem an, damit nicht dieser auch noch Lärm machte.

      Unten öffnete sie die Küchentür, sank wie erschöpft auf einen Stuhl und sog begierig die Luft ein, die zu ihr hineinfloss.

      So saß sie bewegungslos ein paar Minuten, sah nach draußen auf den noch nebelverhangenen Morgen. Es war zu erahnen, dass sich hinter dem Nebel schon die Sonne für ihren Auftritt bereit machte. Es würde wieder ein schöner Tag werden.

      An ihren Beinen spürte sie eine warme Bewegung, ein feuchtes Berühren. Sie beugte sich hinunter zu Teo, der sie mit sanften Schnurren daran erinnerte, dass er da war und Hunger hatte. Nachdem sie seine Schale mit Milch aufgefüllt hatte, trat hinaus auf die Terrasse und ließ sich vom Nebeldunst einhüllen.

      Später saß sie mit ihrer Kaffeetasse am Küchentisch, hörte wieder das Lied in sich und wusste, dass sie alles tun würde, um ihrer Enkelin ein gutes Morgen zu bereiten. Noch wusste sie nicht wie. Erstmal würde sie für diesen Morgen sorgen - dass dieser gut war. Dann würde sich alles Weitere finden.

      *

      Marissa setzte sich mühsam im Bett auf, ihr Kopf fühlte sich dumpf und schwer an. Vage erinnerte sich an gestern, an das Weinen und spürte wie es hinter ihren Augenlidern noch immer heiß und brennend pochte, so als wolle sich da etwas erneut Bahn brechen. Die Tränenflut gestern hatte sie völlig unvorbereitet erwischt. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was da in ihr lauerte. Am Strand vor ein paar Tagen war da so etwas wie ein Vorzeichen gewesen, doch sie hatte es nach unten gedrängt. Sie war so voller Glück gewesen, hier zu sein, in ihrem Paradies der Kindheit. Im Paradies konnte es keine Tränen geben.

      Sie musste heftig schlucken, etwas Dickes, Unförmiges steckte in ihrer Kehle. Ein unterdrückter Laut, der sie würgte…

      So schnell es ihr Knöchel zuließ, stand sie auf und stolperte hastig die Treppe hinunter. Sie wollte zu ihrer Großmutter, ihre Umarmung spüren, ihr Streicheln, ihre liebevolle Stimme.

      Die Küche war leer. Durch die Tür fiel bereits warme, helle Sonne wie eine große Lichtflut. Marissa musste blinzeln um etwas draußen erkennen zu können.

      Wie immer stand das Frühstück bereit auf dem Terrassentisch. Heute standen zudem ein paar bunte Blumen auf dem Tisch und es gab Kuchen. Ein Windlicht leuchte schwach gegen die Sonne an, die den ganzen Tisch umstrahlte. Marissa spürte wieder das Pochen hinter den Lidern, blinzelte es hastig weg, bemerkte so nicht, wie die Großmutter vom Ende des Gartens hinweg auf sie zukam. Erst als sie die wenigen Stufen zur Terrasse erklomm, nahm sie sie wahr.

      „Issa“, die Großmutter war da und umarmte sie fest, gab ihr einen Kuß auf die Wange. „Alles, alles Liebe für dich zum Geburtstag.“

      Marissa zuckte ein wenig zusammen. Das war es, was sie vergessen hatte. Deshalb die Blumen, der Kuchen…

      Sie schmiegte sich eng an die Großmutter, unfähig etwas zu sagen. Dafür plauderte diese umso munterer darauf los: „ Setz dich, stärk dich erstmal. Der Tee ist gleich fertig und es gibt auch hartgekochte Eier, wenn du magst. Und – ach, ja: Stachelbeermarmelade - habe ich extra aufgehoben. Die liebst du doch so…“

      Geburtstag. Marissa schüttelte innerlich den Kopf. Noch nie hatte sie ihren eigenen Geburtstag vergessen. Noch nie war er so unwichtig für sie gewesen. Sonst hatte sie sich immer darum bemüht, viele Leute einzuladen, zu feiern, zu lachen, Spaß zu haben. Tage vorher war sie schon mit Vorbereitungen beschäftigt, kochte und backte gerne selber und freute sich, wenn ihre Gäste vor Vergnügen die Augen verdrehten, sich die Bäuche hielten und Marissa immer wieder für die tolle Bewirtung lobten. Das machte sie glücklich, viel glücklicher noch als die Geschenke und Glückwünsche.

      Gedankenversunken biss sie in den lockeren Kuchen, der auf der Zunge zu zergehen schien. Selber bewirtet zu werden war schon auch herrlich, sie entspannte sich und aß alles, was der Tisch zu bieten hatte. Ihre Großmutter sah ihr dabei lächelnd zu, war mit einem Mal auch wieder ins Schweigen verfallen und sog den Moment in sich auf.

      Schließlich hielt sich Marissa den Bauch. „Ich kann nicht mehr. Ich glaube, das Mittagessen kannst du dir sparen.“

      Emilia lächelte wissend. „Na – mal abwarten, wenn du erst siehst, was es gibt, reden wir wieder drüber.“

      „Oma, du willst mich mästen.“

      „Na – ein paar Pfunde mehr können dir nicht schaden.“

      Gemeinsam deckten sie den Tisch ab und Emilia machte sich an den Abwasch. Obwohl sie protestierte, nahm sich Marissa ein Geschirrhandtuch und trocknete ab. „An meinem Geburtstag kann ich machen was ich will – auch abtrocknen.“

      „Machst du nicht immer, was du willst?“ forschte Emilia mit dem Blick auf das in schaumiges Wasser getauchte Geschirr.

      „Vielleicht“, Marissa hob die Schultern.

      Und dann sagte Emilia unvermittelt: „Deine Mutter hat angerufen.“

      Marissa sah nicht auf, trocknete hingebungsvoll den Teller in ihrer Hand.

      „Sie wusste nicht, dass du hier bist. Hat es aber vermutet.“ Marissa schwieg dazu. „Warum hast du ihr nichts davon gesagt, dass du hierher fährst. Sie macht sich doch Sorgen.“ Wider Willen war Emilia in einen tadelnden Tonfall verfallen, bereute es aber sofort. Sie spürte, wie sich Marissa weiter in sich zusammenzog. „Na – wie dem auch sei. Ruf sie doch nach dem Mittagessen an. Sie freut sich.“

      Marissas Schweigen wurde mehr und mehr zu einem undurchdringlichen Nebel, der sich in der ganzen Küche ausbreitet und sie beide einhüllte. Es war plötzlich kalt hier und die Sonne schien ihre Kraft verloren zu haben. Und dann kamen wie von irgendwo her die Wörter: „…ich kann das nicht…“

      Sie schienen nicht von Marissa zu kommen, klangen durch den Nebel dumpf und farblos. Und dann fiel etwas zu Boden, Scherben langen überall verteilt, zerschnitten den Nebel und ließen die Sicht klar werden auf das Mädchen, das mitten in ihnen kniete und dem lautlos die Tränen über die Wangen liefen.

      *

      Wie absurd zu glauben, es könne alles wieder gut sein nachdem der Seelenvulkan gestern seine Schleusen geöffnet hatte und nun weiter ungehindert überfloss. Emilia sah mit Bestürzung den erneuten Tränenanfall der Enkelin. Und fühlte sich überaus hilflos. Äußerlich reagierte sie ruhig und sachlich. Half Marissa ohne viele Worte die Scherben zusammenzufegen, reichte ihr Taschentücher und hielt sie schließlich minutenlang umfangen. Stand mit ihr inmitten des Scherbenhaufens, strich ihr über den Rücken, die Arme, hielt ihre Hände. Schließlich saßen sie zusammen auf der Bank im Garten, ließen die Sonne die Hitze der Tränen aufsaugen und suchten einander nah zu sein.

      „Möchtest du reden?“ fragte Emilia nach langem Schweigen und drückte