Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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hin, versuchte schneller zu laufen, verlor das Gleichgewicht und spürte einen stechenden Schmerz am rechten Fußgelenk. Augenblicklich schossen ihr Tränen in die Augen. Wütend wischte sie sie weg. Sie würde nicht weinen. Sie weinte nie.

      Sie fühlte die Sonnenwärme über sich, sah in die Helle hinauf.

      Das verwischte Weinen brannte auf ihren Wangen.

      *

      Das Schnarchen ihrer Großmutter hörte sie bereits als sie auf dem kleinen Trampelpfad um das Haus humpelte. Trotz der Schmerzen im Knöchel musste sie lachen. Wie oft hatten die Kinder sich früher heimlich in das Schlafzimmer geschlichen und die Großmutter beobachtet, die mit offenen Mund auf dem Rücken lang, wie ein Karpfen, der unfreiwillig Luft schnappte und diese unglaublichen Sägegeräusche von sich gab. Der Großvater daneben hatte meist die Decke über dem Kopf gezogen, auf dem er schon seine wollende Nachtmütze hatte und Wattebäusche in den Ohren. Geholfen hatte es nicht viel. Einmal hatte er im Vertrauen den Kindern zugeflüstert: „Es ist einfach furchtbar. Wenn ich es nicht schaffe, vor ihr einzuschlafen, ist es vorbei.“ Dann hatte er die Augen zum Himmel verdreht und theatralisch geseufzt. Er tat den Mädchen Leid, doch sie wussten, dass er trotzdem seine Frau über alles liebte und es nie über sich gebracht hätte, im Zimmer nebenan zu schlafen.

      Und die Schwestern liebten das Schnarchen der Großmutter und erschraken gruselig-gerne, wenn ein überaus lauter Rachenton sie zusammenzucken und rasch wieder in die Betten rennen ließ. Das war lange her. So vieles war lange her.

      Marissa setzte sich auf die Bank auf der Terrasse und lauschte dem Schnarchkonzert der Großmutter. Das Bein mit dem wehen Knöchel hielt sie ausgestreckt von sich. Es pochte da drinnen und brannte. Sie hatte große Lust sich selbst zu beschimpfen. Wahrscheinlich war es jetzt vorbei mit dem erholsamen Stranddasein. Sie wollte gerade eine gewaltige innerliche Selbstanklage beginnen, als ein lauter Schnarcher ertönte und ein darauffolgender Seufzer, der anzeigte, dass die Großmutter durch ihr eigenes Schnarchen wach geworden war. Marissa beugte sich von der Bank so gut es ging nach hinten, um einen Blick von der Großmutter auf dem Sofa zu erhaschen. Die hatte sich schon aufgesetzt, blickte etwas zerwühlt um sich und nahm sogleich die Enkelin wahr.

      „Kind, bist du schon da? Wie lange habe ich denn geschlafen?“ Beim Aufstehen legte sie die Decke zusammen und schlurfte dann auf die Terrasse. Marissa hob die Schultern: „Ich weiß nicht, bin gerade gekommen.“

      „Ist etwas?“ Die Großmutter blickte sie forschend an, merkte sogleich am Tonfall der Enkelin, dass irgendetwas nicht stimmte.

      Marissa stieß voller Missbilligung sich selber gegenüber einen Zischlaut aus.

      „Bin am Strand umgeknickt. Mein Knöchel tut ziemlich weh.“

      „Ach je. Wie dumm. Soll ich dir einen kalten Wickel machen?“ Die Großmutter wurde gleich pragmatisch. Mit langen Gefühlsbekundungen hielt sie sich nicht auf. Marissa nickte. „ Das wäre nicht schlecht.“

      Es war ihr unangenehm als die Großmutter schließlich mit einem feuchten Wickel wiederkam und ihr noch einen Schemel unter den Fuß stellte. „So – das sollte helfen. Sonst rufe ich morgen Dr. Schmidtmann an.“

      „Tut mir Leid, Oma. Ich sollte dir helfen, nicht du mir.“ Marissas Stimme steckte tief in ihrem Hals.

      „Papperlapapp. Watt mutt, dat mutt.“ Beruhigend legte sie ihre warme Hand auf die Schulter der Enkelin. „ Ich freu mich, dass du da bist. - Jetzt gibt es einen guten Tee und dann genießen wir den Nachmittag. Ich habe auch noch von deinen Lieblingskeksen…“ Die Großmutter zwinkerte vergnügt mit den Augen und schlurfte in die Küche.

      *

      Es tat ihr gut bemuttert zu werden. Seit sie zum Studieren in München war, musste sie für alles selber sorgen, um die täglichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten abzudecken. Einerseits war es eine schöne Form der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und Teil ihres Erwachsenseins. Anderseits aber sehnte sie sich doch hin und wieder danach, einfach das Essen vorgesetzt zu bekommen und die gewaschene Wäsche nur noch in den Schrank räumen zu müssen. Das waren Annehmlichkeiten, die sie jetzt richtig zu schätzen wusste, nachdem es diese so nicht mehr gab. Natürlich hatten diese früher bedeutet, unter den Blicken und der Kontrolle der Eltern zu stehen, sich anzupassen und immer wieder zu rechtfertigen, wenn sie zu spät nach Hause kam, schlecht gekleidet rumlief. Das war manchmal recht mühsam. Dabei waren ihre Eltern nicht mal wirklich richtig streng, da kannte sie weit schlimmere Ausführungen. Ihr Vater konnte zuweilen richtig cool sein und drückte viel öfter ein bis zwei Augen zu als ihre Mutter. Manchmal steckte er ihr auch unter der Hand zusätzlich zum Taschengeld einen weiteren Geldschein zu und freute sich mit Marissa über die kleine Heimlichkeit.

      Das gefiel Marissa sehr. Nicht nur wegen des unverhofften Geldsegens, sondern weil sie es liebte Geheimnisse zu haben, verbotene Verbünde einzugehen, eine eigene Welt zu leben, die so niemand kannte. Als Kind war sie eine Art Meisterin darin gewesen, sich Geschichten auszumalen, Bilder heraufzubeschwören und sich selber in ein anderes Leben zu phantasieren.

      Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr teilte sie ein Zimmer mit ihrer jüngeren Schwester. Zwar war es hinreichend groß, sodass jede von ihnen an einem Ende des Raumes für sich eine eigene Ecke hatte, aber die Gegenwart der anderen war doch immer spürbar. Eine Privatsphäre war so gut wie nicht vorhanden und ihre Geheimnisse und das andere Leben geriet immer mehr in Gefahr. Als dann die Neugierde der Schwester in ihr Tagebuch eindrang, sahen die Eltern die Notwendigkeit ein, jeder von ihnen ein eigenes Zimmer zu ermöglichen.

      Kurzerhand räumte der Vater sein sogenanntes Arbeitszimmer, in das er sich von Zeit zu Zeit zurückzog. Was genau er da tat, hatte Marissa nie recht herausgefunden und auch nicht sonderlich nachgeforscht. Vielleicht lebte er dort auch in einer anderen Welt. Wenn dem so war, konnte sein Opfer nicht hoch genug geschätzt werden, diese aufzugeben. Marissa nahm das Zimmer sofort als ihres in Beschlag. Zwar war es sehr viel kleiner als das andere, aber es lag hinten am Ende des Flures, ein wenig abseits von der übrigen Betriebsamkeit und das Fenster gab den Blick in den kleinen Garten frei. Ein Glücksraum für ihre Phantasiewelten. Die nächsten Jahre waren dann auch Glücksjahre zu nennen, auch wenn ihr es selber so nicht bewusst war. Das Glück lag einfach in dem Zustand der zufriedenen Bedürfnislosigkeit, den sie lebte. Von ihr aus hätte es immer so weiter gehen können.

      *

      Am nächsten Morgen fühlte sich ihr Knöchel wie ein unförmiger, schwerer Klumpen an, der an ihrem Fuß klebte und es ihr unmöglich machte, mit diesem aufzutreten. Versuchte sie es, durchzuckte sie augenblicklich ein stechender Schmerz und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen.

      Der Weg die Treppe hinunter in die Küche gestaltete sich für sie wie eine Art Übung zum Erlernen ungewöhnlicher Fortbewegungsmöglichkeiten.

      Sie kam sich vor wie ein einbeiniger Storch, der eine Treppenstufe nach der anderen hinunterhüpfte. Allerdings nicht wirklich graziös, die rechte Hand krampfhaft um das Treppengeländer gekrallt. Mit ihrem Sinn für Humor konnte sich Marissa lebhaft ausmalen, was für ein kurioses Schauspiel sie da bot. Zum Glück gab es keine Zuschauer, die Großmutter war bereits lange unten und hätte es der Enkelin auch sicher verboten, hinunter zu kommen.

      So schimpfte sie auch gleich als sie der Enkelin ansichtig wurde. „Issa, Kind. Das hättest du nicht tun sollen.“

      Marissa ließ sich schwer aufatmend auf einen Küchenstuhl fallen.

      „Ach, Oma. Was soll ich denn oben so alleine? Und dann bei dem schönem Wetter. Wenn ich schon nicht zum Strand kann, möchte ich wenigstens bei dir im Garten sein.“

      Die Großmutter nickte verständnisvoll. „Ja – sicher. Doch ich glaube, ich werde besser Dr. Schmidtmann anrufen. Er sollte sich den Knöchel angucken.“

      Marissa wollte den Kopf schütteln und ablehnen. Tapfer sein, wie so oft. Doch irgendwie fehlte ihr dazu jetzt die Kraft und sie spürte auch, dass der Knöchel ärztlich versorgt werden musste. „Danke – das ist lieb“, sagte sie als Emilia zum Telefonhörer griff, nicht ohne ihr zuvor einen großen Becher Tee eingeschenkt zu haben.

      Während