Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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Herr zu werden. Schließlich war sie eine alte Frau, was ihr gerade jetzt besonders bewusst wurde. Nur noch ein paar Monate und sie würde ihren 80.Geburtstag feiern. Ob sie ihn wirklich feiern wollte, wusste sie allerdings nicht. Der Trubel, der damit zusammenhing war ihr schon im Vorfeld zu viel.

      Sie dachte an Julius, an den letzten „großen“ Geburtstag, den sie zusammen gefeiert hatten. Schön war es gewesen, schön miteinander zu feiern. Zu zweit.

      Es lächelte tief in ihr als sie daran dachte. Aber da war auch ein wenig Wehmut dabei. Zu zweit, dachte sie, haben wir so vieles geschafft. Zu zweit war alles so viel leichter, auch wenn es mal gerade alles anderes als leicht gewesen war. „Mit dir war es immer gut.“ Sie blickte auf das Bild des Mannes, der so viele Jahre mit ihr gewesen war, nahm es in die Hand und küsste die lachenden Lippen durch das kalte Glas des Bilderrahmens. Streichelte ihm über die wirren Haare und sah ihn dann vorwurfsvoll an. „Jetzt hätte ich dich sehr gebraucht.“ Er strahlte sie weiterhin schelmisch an, sodass ihr Herz sich weitete und sie das Bild an sich drückte. Und als ob ihr der geliebte Mann noch von weit her Kraft und Zuversicht schickte, fühlte sie sich mit einem Mal getröstet und gestützt. Du bist stark, Lia. Du schaffst es alleine.

      Es war seine Stimme, die in ihrem Inneren klang und ihr Ruhe gab. Behutsam stellte sie Julius zurück an seinem Platz neben dem Bett, sodass er den Blick auf die kranke Enkelin richtete.

      Dann ging sie leise aus dem Zimmer und stieg die Treppe hinunter. Es war immer noch früher Morgen. Gerade kurz nach sieben und draußen auf dem Gras hingen noch Tautropfen der Nacht. Die Sonne hatte sich noch hinter dem Hausdach versteckt aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie um die Ecke bog und ihre Finger nach den Glitzerperlen ausstreckte um sie aufzusaugen.

      Kater Teo räkelte sich müde in seinem Korb und schaute nur flüchtig auf als Emilia ihm Milch und Futter hinstellte. „Schlecht geschlafen“, fragte diese ihn und beugte sich zu ihm um ihn hinter den Ohren zu kraulen, was er regungslos hinnahm. „Na, du bist ja wirklich nicht gut beieinander.“ Und leider nicht der einzige, fügte sie still bei sich hinzu.

      Nach einer Tasse starkem Kaffee, griff sie zum Telefon und rief Dr. Schmidtmann an. Sie wusste, dass er früh auf war und hatte wirklich Glück, ihn gleich zu erreichen. „Ich komme so schnell ich kann“, versprach er.

      Während sich Kater Teo letztlich doch gnädig über sein Frühstück hermachte, aß Emilia selber ohne wirklichen Appetit eine Scheibe Brot und trank lustlos schluckweise den Rest bitteren Kaffee. Dieser war zu stark geraten und die Milch konnte ihn kaum abzumildern. Schließlich schob sie den Becher beiseite, wobei sie mit diesem an das Schmuckkästchen stieß, das die Nacht auf dem Küchentisch verbracht hatte. Es wirkte sehr verloren in dieser Umgebung von Tellern und Tassen, Kaffeegeruch und Brotkrümeln.

      Emilia nahm es behutsam in die Hand, drehte es hin und her, strich über die feine Verzierung. „Du bist genau wie Issa“, sagte sie zu dem Schmuckstück.

      „ Fein und zart, aber auch robust und in dein Innerstes lässt du niemanden blicken.“

      Sie hob es auf und stieg dann wieder die Treppe hinauf um nach der Enkelin zu sehen. Diese atmete schwer in den Kissen, warf sich unruhig hin und her. Als Emilia ihr die Hand auf die Stirn legte, zuckte sie zusammen. Julius beobachtete die beiden und Emilia gab ihm außer der Enkelin noch das Schmuckkästchen in Obhut.

      *

      Kurze Zeit später quietschen vor dem Haus Fahrradbremsen und Dr. Schmidtmann kam mit langen Schritten ins Haus. Er untersuchte die immer noch fieberschlafende Marissa und ließ sich dann von Emilia Kaffee einschenken. „Der ist richtig gut“, meinte er anerkennend. „Mal richtig grundschwarz.“

      „Na, für meinen Blutdruck ist er wohl eher nicht so gut“, lächelte Emilia angestrengt, „wo mein Herz eh so aufgeregt ist.“

      Der Arzt legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Das ist verständlich, aber nicht nötig. Ich weiß zwar noch nicht, was diesen Fieberschub bei deiner Enkelin ausgelöst hat aber sie ist jung und kräftig. Sie wird sich bald erholen. Ich lasse dir von der Apotheke etwas herschicken, das gibst du ihr bitte dreimal am Tag. Sobald das Fieber gesunken und sie ansprechbar ist, sehen wir weiter. Ich würde gerne mit ihr in Ruhe in meiner Praxis sprechen, sobald es möglich ist. – Und du, solltest dich ausruhen. Kaffee ist wohl tatsächlich gerade nicht so empfehlenswert. Ich lasse dir noch ein pflanzliches Beruhigungsmittel da. Nimm es, bitte…“ Er sah sie dringlich an. Emilia nickte dankbar.

      Er stand auf. „Ich muss leider weiter. In der Praxis warten schon ein paar kränkelnde Urlauber.“ Dann war er aus der Tür und verschwunden.

      Zwei Stunden später fuhr das Pferdegespann mit Knut Niederbrück auf dem Bock vor. Dieser kletterte mit seinen kurzen Beinen behende hinunter und brachte Emilia sofort dazu in sich hineinzulachen als er betont breitbeinig und mit ungelenkem Diener die Lieferung der Apotheke überreichte. „Habe die Ehre, Madam“, krächzte sein kehliger Bass.

      „Knut, du hast mir gerade noch gefehlt.“

      „Ich weiß. Deshalb bin ich hier! – Was macht die kranke Deern?“

      „Sie schläft.“ Dankend nahm sie das Medikament aus der Schachtel. „Ich weiß gar nicht, wie ich ihr das einflössen soll.“ Sie drehte die Tropfen unschlüssig hin und her. „Aber komm erstmal rein. Du hast eine Stärkung verdient.“

      Knut grinste. „Das will ich meinen.“

      Er trank seinen Belohnungsschluck, brachte Emilia wiederum zum Lachen und blieb noch eine Weile zur Unterhaltung da. Schließlich musste er sich wieder auf den Weg machen, salutierte mit komischem Ernst und war wieder auf und davon.

      Emilia winkte ihm lächelnd nach. Die Begegnung hatte ihr gut getan, mehr noch als das Beruhigungsmittel des Arztes. Knut war schon so lange ein guter Freund. Mit Julius hatte er sich regelmäßig zum Schachspielen getroffen und war mit ihm manchmal stundenlang im Watt unterwegs gewesen. So unterschiedlich die beiden waren, äußerlich und von ihrer Herkunft, so ähnlich waren sie sich in vielen Denkweisen und Handlungen. Emilia schüttelte darüber mehr als einmal verwundert den Kopf. Aber sie sah diese Männerfreundschaft immer als Bereicherung. Nicht nur für Julius, sondern auch für sich selber, da dadurch eine willkommene Lebendigkeit ins Haus geweht wurde. Nach Julius‘ Tod hatte sie befürchtet, dass sich Knut kaum noch bei ihr sehen lassen würde. Doch das Gegenteil war der Fall. So oft er Zeit hatte, ließ er sein Pferdegespann den Weg durch die Dünen zu ihr finden und unterhielt sie mit seinem friesischen Humor. Dafür war sie vor allem in der ersten schweren Zeit dankbar, wo sie sich plötzlich in allem allein wiederfand. Das Haus war so leer und groß, das Bett so kalt, der Garten so einsam. Der Sessel neben dem Kamin eingefallen und die Kniedecke so hilflos.

      Emilia war sich nicht sicher gewesen ob sie es schaffen würde, hier alleine weiter zu leben. So weit weg von der Umgebung zu Menschen. Das nächste Haus war über einen Kilometer entfernt gelegen. Zur Ortschaft benötigte sie mit dem Fahrrad etwa fünfzehn Minuten. Diese Abgelegenheit hatte sie und Julius so angezogen, die Ruhe und Ungestörtheit. Natürlich war ihnen immer bewusst gewesen, dass damit auch große Nachteile verbunden waren, zumal sie schon in fortgeschrittenem Alter hierhergezogen waren und immer klar vor Augen hatten, dass einer von ihnen irgendwann allein zurückbleiben würde. Dennoch war es für sie eine sichere Entscheidung gewesen, dieses Haus zu besitzen. Und Emilia war es sehr bald klar geworden, dass sie hierbleiben würde. Hierbleiben musste. Dies war ihr Ziel, ihre Heimat. Hier war sie glücklich. Glücklich mit ihm, der immer noch bei ihr war. Über sie wachte. Wie heute als sie sich so schwach in sich fühlte. Sie konnte hier nicht weg. Sie gehörte hierher.

      *

      Wie seltsam sich das anfühlte. Zu schlafen aber doch wach zu sein. Alles wahrzunehmen, was um einen geschah und doch nicht dabei zu sein. Die Hand auszustrecken und nichts zu berühren, zu rufen und nicht gehört zu werden. Und die Augen öffnen zu wollen ohne es zu können. Ein Gewicht drückte schwer auf ihren Körper, eine Hülle lag wie ein Kokon um sie herum, der Geräusche von außen dämpfte und ihren Blick trübte.

      Sie sehnte sich danach, leicht zu sein, davonzufliegen von sich und ihren Gefühlsabgründen. Nicht mehr denken, nicht mehr