„Doch, doch.“ Marissa blieb hartnäckig. Ließ sich auf das Bett neben Emilia sinken und sah sie eindringlich an. „Geht’s dir gut? Warum bist du schon hier oben? Wolltest du schon schlafen gehen?“
Emilia schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe ein wenig mit deinem Großvater geredet. Das hat mir gut getan. Ich habe noch ein bisschen nachgedacht über früher, was war. Gut und weniger gut. Und daran, wie es noch wird. Bei dir, bei deiner Mutter…“
Über Marissas Gesicht huschte ein flüchtiger Schatten. „Ach, Oma. Ich bin gerade ganz glücklich, mach dir keine Gedanken.“
„Gedanken kommen halt einfach, da kann man manchmal nichts machen. Irgendwie haben sie ein Eigenleben, drängen sich immer genau dann auf, wenn man sie gar nicht gebrauchen kann, nicht haben will. Ja – aber vielleicht sind sie genau dann richtig. Es hat doch wohl immer alles seinen tieferen Grund. Aber – egal …“ Emilia stoppte sich, gebot sich Einhalt bevor sie mit ihren Worten eine Richtung einschlug, die so gar nicht zu der unbeschwerten Stimmung der Enkelin passten und die sie ihr nicht nehmen wollte.
„Komm, gehen wir nochmal runter. Es ist noch ein Rest Rote Grütze da – hast du Appetit drauf?“
„Welch eine Frage“, Marissa grinste, stand auf, drückte der Großmutter einen warmen Kuss auf die Wange und war bereits in Richtung Küche unterwegs.
Später als sie schon im Bett lag, dachte sie an die Gedanken, die ihre Großmutter beschäftigen. Dachte an ihre Mutter. Obwohl sie es nicht wollte. Doch da war plötzlich deren Gesicht vor ihr und ihre Stimme, die immer irgendwie anklagend klang. Sofort zog sich in ihr etwas zusammen. Ein Druck legte sich auf ihre Brust und bedrängte sie. Sie schlang ihre Arme um sich selber, wie um sich Schutz zu geben. Dann atmete sie tief ein und aus, schloss fest die Augen und suchte Zuflucht im Schlaf.
*
Das Blinzeln der Sonne, die durch das Dachfenster hineinsah, kitzelte sie an der Nase und legte einen rotwarmen Schimmer auf ihr Gesicht, der so intensiv war, dass sie wach werden musste, ob sie wollte oder nicht. Es musste schon recht spät sein, sonst kletterte die Sonne nicht so weit nach oben. Und es war warm hier unterm Dach. Marissa befreite sich von ihrer Bettdecke, legte ihre nackten Beine darauf und blieb mit verschränkten Armen liegen, blickte in das Himmelsrechteck voller Blau. Sie wollte hier liegen bleiben, einfach da sein, nichts denken, nichts tun müssen. Sobald sie aufstand, würde etwas geschehen, das spürte sie. Sobald sie die Treppe hinunter ging, in die Küche, durch die Tür auf die Terrasse, sobald sie im Garten stand, würde etwas in Bewegung geraten, das sie meiden wollte, dem sie auswich seit sie hier her gekommen war. Seit sie München fluchtartig verlassen hatte. Aber sie hatte immer gewusst, dass sie nicht immer den Kopf einziehen konnte, sich verstecken. Irgendwann würde sie sich dem Draußen stellen müssen. Und dem Drinnen. Dem Selbst in ihr.
Der Schlaf, der sie gestern so schnell eingeholt hatte, war unruhig gewesen. Bilder hatten sich wieder gejagt, wie schon so oft. Gesichter, Orte und Zeiten waren durcheinandergepurzelt und ließen sie jetzt unruhig daliegen. Sie hatte die Traumszenen nicht fassen können, ihr Bemühen sie jetzt im Wachen zurückzurufen um sie begreifen zu können, war vergeblich. Je mehr sie nach ihnen griff, desto schneller lösten sie sich auf. Platzten wie flirrende Seifenblasen. Marissa stieß resigniert Luft durch die Nase aus, strampelte heftig die Bettdecke auf den Boden und warf mit einer ungestümen Geste ihr Kopfkissen gegen die Zimmertür.
Im Bad betrachtete sie ihr Spiegelbild als wäre es das erste Mal, sah sich in die Augen und blickte tief in die grüngraue Farbe ihrer Iris. Eigentlich hätte sie sich gerne eine Fratze gezogen, doch ihre Gesichtszüge blieben unbeweglich und starrten weiter die Frau im Spiegel an. Je länger sie schaute, desto mehr entstand ihr der Eindruck als ob es jemand anders wäre, der ihr da gegenüber stand. Und nicht nur eine Person, sondern mehrere. Mit ähnlichem Ausdruck, ähnlichen Augen aber doch ganz anderer Physionomie.
Marissa fröstelte es ein wenig, riss sich dann abrupt von den verschiedenen Frauen los, kämmte rasch ihre wirren Haare und stieg dann langsam und bedacht die Treppe nach unten.
„Ich fahre nach Bremen.“ Die Worte kamen aus ihr heraus sobald sie auf der Sonnenterrasse stand. Emilia blickte zu ihr von ihrem Platz auf der Bank und nickte. Sie schien nicht überrascht. „Ja“, sagte sie. „Ja – das tust du.“
„Heute“, fügte Marissa hinzu. Und Emilia nickte wieder.
Wenige Stunden später liefen sie schweigend nebeneinander auf dem Deich in Richtung Hafen. Kurz bevor sie gingen, war Marissa noch zum Strand gelaufen, hatte ihre Füßen im Sand versinken lassen bevor sie mit den Zehen ein letztes Mal ins Meerwasser spürte. Sie ließ sich ihre Lungen vollsaugen mit frischer, herber Seeluft, ließ den Wind ihr Gesicht durchwehen und die Sonne ihre Haut erwärmen. Mit allen Sinnen sog sie die Insel nochmal in sich auf. Sog die Empfindungen auf wie ein Schwamm und bewahrte sie in ihrem Inneren. Zeit für einen langen Abschied blieb ihr nicht. Und auf dem Deichweg oben neben der Großmutter irrte ihr Blick ohne wirklich zu sehen über Dünen, Sand, Gras, Wasser und Himmel. Am Anleger umarmte sie die alte Frau heftig, drückte sie an sich, spürte deren Herzschlag und ihren eigenen zusammen in Gleichklang unruhig pochen. Emilia legte ihre warmen Hände auf die Wangen der Enkelin, blickte ihr liebevoll in die Augen. „Mein liebes Mädelchen“, sagte sie nur.
„Oma“, Marissa wollte plötzlich so viel noch sagen. Jetzt sofort. Alles sagen. Alles fragen. Alles wissen. Jetzt und hier. Vor dem Schiff. Vor dem Abschied. Alles auf einmal. Schnell und dringlich. „Oma, ich….“ Das Hupen der Schiffssirene übertönte ihre Worte. Emilia drückte ihre Hand. „Geh, Issa.“ Sie schob die Enkelin zum Schiffsübergang, winkte ihr zu als diese sich nochmal umdrehte. „Geh nur - geh!“
Sie blieb stehen, bis das Fallreep abgezogen war, bis sie Marissa drüben an der Reling stehen sah, ohne zu winken. Sah zu, wie die Fähre zu ihrem Ablegemanöver ausholte, sich langsam wegdrehte von der Insel und dann ganz allmählich Fahrt aufnahm. Dann winkte sie zu der Gestalt hinüber, die mit einem Mal beide Arme nach oben riss und hin und her wehte wie eine lebende Fahne. Erst als die Fähre kaum noch zu sehen war, drehte sie sich um und ging langsam über den Deich zurück.
*
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