Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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gab es immer, würde es immer geben. Man wusste nie, ob und wann das Leben sie für einen bereithielt. Wie konnte man jemals sicher sein, vorbereitet oder stark genug für Einschläge, die plötzlich und aus scheinbar heiterem Himmel neben einem explodierten.

      Auch die Menschen, die vor über siebzig Jahren sorglos den Jahrhundertsommer genossen, waren nicht im Geringsten darauf vorbereitet gewesen, was in den nächsten Jahren auf sie zukommen würde – auch wenn es Vorzeichen für die Katastrophe gegeben hatte. Sie lebten ihr Leben, lachten, liebten, gingen ihrer Arbeit nach, fuhren in den Sommerurlaub voller herrlicher Sonne.

      1939 war Emilia fünf Jahre alt. Ein kleines Mädchen, das gerade seine Welt und sich entdeckte. Was wusste sie von der Welt draußen, was dort geschah, was sich langsam aber sicher zusammenbraute, bis es am 1. September 1939 zu dem verheerenden Angriff Deutschlands auf Polen kam. Und dann rollte ein unvorstellbares Inferno über ganz Europa und die Welt, das noch bis zum heutigen Tag seines Gleichen sucht und allen nachfolgenden Generationen immer wieder das Entsetzen ins Gesicht und die Tränen in die Augen treibt.

      Emilias Vater war Postbeamter in Berlin, ihre Mutter arbeitete stundenweise in einem Laden für Schreibwaren, der für Emilia ein kleines Paradies war mit den vielen Farben und Stiften, mit denen sie die großen Bogen Papier verschönern durfte, die ihr die Ladeninhaberin in die Ecke legte, wo Emilia bleiben konnte, wenn ihre Mutter arbeitete. Sie war ein braves, ruhiges Kind, das sich gut selbst beschäftigen konnte. Stundenlang malte sie eifrig an einem Kunstwerk, wobei ihre kleine Zunge genauso eifrig von einem Mundwinkel zum anderen wanderte. Oder sie blätterte in bunten Büchern mit vielen Bildern und erzählte sich ihre eigenen Geschichten dazu.

      Manchmal sang sie auch mit kräftiger, ausdrucksstarker Stimme, die jeden Zuhörer sogleich in den Bann zog. „Das Kind hat aber eine Stimme“, bemerkte wohl ein Kunde, der im Laden Briefpapier kaufte. Und Emilias Mutter nickte voller Stolz. Heimlich dachte sie bei sich: vielleicht wird sie mal eine große Sängerin. Wer konnte das schon wissen. Wer konnte schon wissen, was in den nächsten Jahren alles geschah. Welche Welten und Träume zusammenbrachen, welche Leben, kaum gelebt, wieder endeten, welche Städte zu Ruinen wurden.

      Dieser Krieg. Immer wieder sehr präsent – gerade jetzt - durch den nahenden Jahrestag, die Berichterstattungen im Fernsehen, Dokumentation, Gedenkfeiern, Ansprachen, Umarmungen früherer Feinde und der besorgte Blick gen Osten, wo sich Unheilvolles zusammenbraute.

      Emilia war es kaum möglich, die Bilder und Kommentare zu verfolgen. Doch ganz konnte sie sich diesen nicht entziehen. In ihr war sofort alles wund und schmerzend sobald sie nur den Ton des Fliegeralarms vernahm oder das Geräusch der sich im Anflug befindenden Maschinen….

      Hier bei ihr war es friedlich und beschützt. Traumumfangen ruhig.

      Sie blickte hinüber auf das Fleckchen Rasen mit den Gänseblümchen, auf dem sich gerade eine Amsel niedergelassen hatte. Später zum Tagesende hin würde sie wieder ihr Abendlied singen. Laut und zwitschern, voller Koloraturen in den höchsten Tönen, die Emilia sehr bewunderte. Niemals hatte sie es selber zu solcher Kunstfertigkeit geschafft, obwohl ihr Gesangstalent tatsächlich nicht unerheblich gewesen war, wie bereits im Kindesalter vermutet. Zur großen Gesangskarriere hatte es aber nicht gereicht. Wer wusste schon genau warum.

      Aber sie bedauerte das nicht. Alles war letztlich für ihre Persönlichkeit so richtig gewesen, wie es gekommen war. Und schließlich hatte der Krieg das seinige dazugetan, eventuelle Träume und Wünsche verlöschen zu lassen.

      Ein leiser Seufzer stieg in ihr auf. Sie schluckte ihn hinunter ohne ihn weiter wahrzunehmen, gab sich einen Ruck und erhob sich etwas mühsam von der Bank. Sie würde jetzt eine Kleinigkeit essen und dann ihr Mittagsschläfchen halten. Dann würde sie noch ein wenig im Garten arbeiten, wenn es nicht zu heiß war und schließlich würde Marissa wiederkommen.

      Marissa, die ihren Namen von Anfang an verkleinert hatte. Marissa kam ihr nie über die Lippen. Als kleines Mädchen brachte sie gerade mal „Issa“ zustande. Eine Marissa wie sie sich selber vorstellte, war sie nicht. Das klang nach exotischer Schönheit mit langen, schwarzen Haaren und tiefdunklen Augen. Sie hielt sich weder für eine Schönheit, noch besaß sie eine lange, schwarze Haarpracht. Allein die Augenfarbe mochte etwas mit dem Bild einer Marissa übereinstimmen. Sie waren zwar nicht tiefdunkel, doch von einem angenehm warmen braun-grünen Farbton, der mitunter zu wechseln schien. Abhängig von der jeweiligen Stimmungslage, in der sie sich gerade befand. Ihre Haarfarbe war eher dunkelblond und derzeit mit einigen rötlichen Strähnchen durchzogen. Emilia fand ihre Enkelin durchaus hübsch, auch wenn sie sich mit ihrer bunten Frisur nicht ganz anfreunden konnte. Aber so war die Jugend nun mal.

      Was war es für eine Revolution gewesen als Emilia sich nach dem Krieg gegen den Willen des Vaters ihre langen Zöpfe abschneiden ließ und eines Tages mit einem Bubikopf zuhause erschien. Das Donnerwetter darüber hatte sie noch heute in den Ohren. Aber für sie war es ein Sieg gewesen, ein Triumph über die despotische Strenge des Vaters und die weiche Nachgiebigkeit der Mutter, die immer auszugleichen versuchte und gerade dadurch mitunter Missstimmung hervorrief. Dabei hatte sie es als Jüngste immer noch vergleichsweise gut gehabt. Ihr älterer Bruder Nikolas war den Launen des Vaters ungleich häufiger ausgesetzt und lieferte sich mit ihm heftige Wortgefechte, die das eine oder andere Mal beinahe ins Handgreifliche überzugehen drohten, wenn die Mutter sich nicht rechtzeitig zwischen die beiden Streithähne gestellt hätte.

      Das war jetzt schon eine Ewigkeit her doch für Emilia waren die Bilder dieser Szenen noch sehr präsent genauso wie das Gefühl von damals. Nicht schön.

      Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf während sie sich eine Scheibe Brot hinunterschnitt und es dick mit Käse belegte. Schüttelte die Bilder weg in die Vergangenheit. Die Decke auf dem alten Sofa lud sie schmeichelnd ein, sich auszustrecken, die Augen zu schließen und für eine Weile Erinnerungen und Jetztzeit zu vergessen.

      *

      Marissa fühlte sich im siebten Himmel. Der Strand schien ihr allein zu gehören. Hierher ans äußerste Ende verirrten sich kaum ein paar Strandläufer. Hin und wieder kam ein Hund angejagt, der seinem Besitzer ausgerissen war, blieb vor ihr stehen, umkreiste sie misstrauisch und jagte schließlich weiter, wenn der Ruf seines Herrchens ertönte.

      Aber das alles war keine wirkliche Störung für sie, die sie ausgestreckt auf dem großen Handtuch lag, das sie mitgenommen hatte. Da sie keinen Hut hatte, hatte sie sich kurzer Hand ihren langen, weißen, dünnen Schal, den sie fast ständig bei sich trug, um den Kopf gewunden, um sich vor der intensiven Sonneneinstrahlung zu schützen. Sie kam sich ein wenig vor wie eine Beduinenfrau und hätte gerne noch einen weiten Kaftan gehabt, denn Sonnencreme hatte sie keine und musste befürchten, dass sie sich mit ihrer hellen Haut, die schnell zu Rötungen neigte, einen Sonnenbrand einfing. Aber letztlich wollte sie daran nicht denken, überhaupt nicht denken – an nichts - nur das Hiersein genießen. Schon als sie gestern hier ankam, hatte sie sich sofort leichter gefühlt. In der Stadt hatte sie immer den Eindruck, eingezwängt zu sein. Die Enge der Häuser, die Straßen, die vielen Menschen und der ewige Verkehr nahmen ihr die Luft und Raum, frei zu atmen. Das merkte sie immer besonders, wenn sie davon ausbrach und wie jetzt die Freiheit des Alleinseins und die wohltuende Ausgeglichenheit der Natur spürte, die sich ausbreitete wie es ihr gefiel. Dann fragte sie sich, was sie in der Großstadt zu suchen hatte. Warum sie nicht am Meer war, auf der Insel, in der frischen Luft.

      Das Studium und München waren schon in weite Ferne gerückt, nicht nur durch die räumliche Entfernung. Das alles war jetzt unwichtig.

      Es war so schön hier. Im Sand, in der Sonne…

      Sie ließ sich von all dem umhüllen, von der weit entfernten Brandung des Meeres einlullen… von dem Gesang der Möwen wegtragen…

      …war es das Bellen eines Hundes? Das Rufen einer Stimme? Oder etwas aus ihrem Inneren, das sie hochschrecken ließ? Es kam so plötzlich, dass sie abrupt aufsprang.

      Das kunstvoll zum Turban gebundene Tuch auf ihrem Kopf geriet ins Rutschen und fiel wie ein zusammengebrochener Wasserfall zu Boden. Sie stand da, blickte darauf wie zu etwas Unwirklichem. Wie in Zeitlupe nahm sie es auf, steckte es in ihren Beutel mit dem Proviant, von dem sie nur wenig gegessen hatte, schlang