Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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      Die Antwort der Tochter fiel kurz und knapp aus: „Es geht, weil es gehen muss.“

      Emilia spürte körperlich wie der Tonfall der Tochter ihr die Luft nahm. Ihre Knie fühlten sich mit einem Mal an wie Gummi und ließen sie auf den Stuhl neben dem Telefontischchen sinken. Dann stand Marissa neben ihr und ersparte ihr eine Antwort. Wortlos gab sie ihr den Hörer weiter. Kraftlos blieb sie sitzen während Marissa unruhig der Stimme in der Leitung zuhörte, Worte sagte, die nichts sagten, nur spüren ließen, dass da etwas Schweres zwischen der Frau in der Ferne und ihr hier auf der Insel lag, was zu massiv war, um durch die Kabel des Fernnetzes zu gelangen. Und da war eine unsichere Bemühung, darüber hinwegzureden, leicht zu scheinen um nicht an das zu stoßen, was das Gerüst aus Angst und Bedrängnis mühsam Aufrecht erhielt.

      „Mam“, sagte Marissa schließlich, „mir geht es gut hier. Wirklich. Und dass ich nicht Bescheid gesagt habe, tut mir Leid. Es war einfach eine spontane Entscheidung.“

      Emilia hörte die Antwort ihrer Tochter nicht, nahm nur einen Tonfall von Ferne war, der nach Enttäuschung klang. Nach Resignation.

      „Tschüß, Mam. Und Danke für die Glückwünsche.“ Marissa legte den Hörer auf die Gabel des altmodischen Telefons, das noch eine Wählscheibe besaß und mit einem Kabel verbunden war. Ihr Gesicht war rot geworden während des Gesprächs und ihr Atem ging flach. Emilia sah ihr wortlos in die Augen, erhob sich und ging zu ihrer Sauce auf dem Herd zurück, die inzwischen dick geworden war. Während sie Wasser nachgoss, stellte sie den Topf wieder auf die Herdplatte und rührte erneut die sämige Flüssigkeit.

      „Ich wollte sie nicht sprechen.“ Die Stimme ihrer Enkelin klang hinter ihrem Rücken leise und matt. Emilia drehte sich nicht um.

      „Ich weiß, aber sie ist deine Mutter und macht sich Gedanken.“ Die Worte klangen schal und abgenutzt, doch ihr fielen keine anderen ein. Marissa stieß schnaubend Luft durch die Nase. „Darauf kann ich manchmal echt verzichten.“

      „Du bist hart, Issa. Das passt nicht zu dir.“ Emilia schaltete die Herdplatte aus. Nahm den Topf mit der Sauce und goss diese über das vorbereitete Auflaufgericht aus Nudeln und Gemüse, streute Paniermehl darüber und setzte kleine Butterflöckchen hinauf. Dann schob das Gericht in den Ofen.

      „Hm, Nudelauflauf. Lecker…“ lenkte Marissa ab und Emilia ließ es dabei bewenden.

      Als sie später zusammen am Esstisch saßen, schob sie ihrer Enkelin ein kleines Päckchen zu. "Zum Geburtstag. Ich weiß, dass du es magst. Jetzt soll es dir gehören.“

      Marissa spürte wie ihr Puls schneller wurde als sie das Geschenk in die Hand nahm. Durch das dünne Blumenpapier spürte sie eine Form, die ihr wunderbar vertraut vorkam. Sie zögerte damit, das Papier zu lösen obwohl sie es eigentlich nicht erwarten konnte. Sie wusste was es war. Sie wusste, dass es ein Kästchen ohne Schlüssel war. Holzverziert mit Rosenranken.

      „Oma, bist du sicher?“ Marissa sah fragend zu Emilia hinüber, die sich über die staunende Freude der Enkelin amüsierte. „Ja – natürlich. Ich glaube, es hat irgendwie schon immer dir gehört.“

      Marissa stand so schnell es ihr weher Fuß erlaubte auf und fiel der Großmutter warm um den Hals.

      *

      Eigentlich hatte sie diese Nacht wieder in ihrem kleinen Zimmer mit den schrägen Wänden und dem Blick in den Himmel verbringen wollen, doch ihre Beine führten sie ganz von alleine zum großen, weichen Bett, in die wohlige Nähe von Zuneigung und Geborgenheit, die dieses Zimmer atmete. Hier schien das Glücksschwingen, das das ganze Haus ausstrahlte, seinen Ursprung zu haben. Hier war die Quelle. Marissa wollte so nah wie möglich da heran und, wenn möglich, in sie hineintauchen – so tief es ging.

      Emilia nahm es als selbstverständlich hin ihre Enkelin neben sich liegen zu finden. Sie genoss die leise Annäherung mit innerer Freude. Wie selten war es geworden, dass es Berührungen gab, Umarmungen, Sympathiebekundungen. Zeichen der Liebe und Zuneigung. Seit Julius‘ Tod gab es kaum etwas was vergleichbar gewesen wäre.

      Nach dem Abendessen hatten sie nicht mehr viel geredet. Beide waren erschöpft von den Gefühlswellen, die den ganzen Tag über immer wieder auf und ab wallten. Emilia steckte noch die kalte Stimme ihrer Tochter im Innern und Marissa schien das Telefonat mit ihrer Mutter gleichfalls wie einen Kälteschock empfunden zu haben. Keine von beiden erwähnte etwas dergleichen, aber jede spürte es bei der anderen.

      Als es dunkel wurde, saßen sie in Decken gehüllt auf der Terrasse, ließen ein Windlicht im Abend funkeln, suchten den Himmel ab nach Sternensplittern und schnupperten an dem Rest Sonnenwärme vom Tag.

      Ihr Schweigen sank immer mehr in den Schlaf und sie führten nur noch ein Gespräch mit ihren Gedanken. Schließlich lehnte Marissa den Kopf an die Schulter der Großmutter und atmete leise aus. „Das war ein schöner Tag.“

      Emilia zog sie näher zu sich.

      „Ja“, sagte sie ebenso leise. „Das war er.“

      *

      In der Nacht begegnete Marissa den Tränen. Sie sah sie ganz deutlich vor sich stehen. So als hätten sie Gestalt angenommen. Sie waren da und streckten ihre Arme nach ihr aus, kamen Schritt für Schritt näher. Marissa fühlte sich wie erstarrt, konnte sich nicht vom Fleck rühren, wollten davonlaufen, konnte nicht. Eine beklemmende Lähmung legte sich über ihren Körper, sie versuchte zu rufen, aber kein Wort kam aus ihrem Mund. Sie fühlte ein Brennen, das ihren Hals verglühte und dann sah sie sich in einem Spiegel und dahinter ein Gesicht. Sie wollte sich umdrehen, es berühren, ihm nah sein. Aber da war eine Wand voller Unsichtbarkeit, die alles um sie herum mit sich nah.

      Sie musste da hindurch, musste atmen, musste sich selber an die Hand nehmen. Mit aller Kraft spannte sie ihre Muskeln an und sprang…

      Früh am Morgen wachte sie auf, fühlte ihr Haar nass im Nacken kleben, spürte die Feuchtigkeit, die ihr Pyjamaoberteil durchdrungen hatte und ihre Haut, die von kaltem Schweiß bedeckt war. Ihr Kopf fühlte sich schwer und dumpf an und ihre Kehle brannte wie Feuer. Mühsam versuchte sie ein wenig Speichel zu schlucken, doch das verursachte ihr sogleich Schmerzen und Hustenreiz. Kurzatmig richtete sie sich im Bett auf, sah, dass die Großmutter neben ihr noch schlief.

      Leise schälte sich Marissa aus dem Federbett, saß dann mühsam aufgerichtet am Bettrand mit einem Schwindel in und um sich, der es ihr erschwerte aufzustehen. Eine Übelkeit tief in ihr, schlug immer größere Wellen, ließ sie würgen und mit den Kräften, die noch in ihr steckten, schaffte sie es in letzter Sekunde ins Bad. Gerade noch rechtzeitig bevor ihr Mageninhalt in krampfartigem Erbrechen nach oben schoss, bis sie sich völlig erschöpft vor der Toilettenschüssel zusammenkrümmte. Es dauerte lange bevor sie es schaffte, sich mühsam aufzurichten und den galligen Geschmack aus der Mund zu spülen.

      Als sie den Blick hob, sah sie im Spiegel über dem Waschbecken ein bleiches, graues Gesicht mit Schatten unter den Augen. Die Haare hingen wirr und klebrig um den Kopf. Marissa starrte das Bild an. Wieder ein Spiegelbild. Diesmal real. Doch genauso fremd wie im Traum. Sie fing an zu zittern und ließ sich auf den weichen Badvorleger sinken. Zu kraftlos für Tränen. Zu kraftlos für Gedanken, die hinter ihrer Stirn Machtkämpfe ausfochten um von ihr wahrgenommen zu werden. Marissa hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen. Gelehnt an die Kacheln der Badewanne hockte sie da mit angezogenen Knien auf dem Badezimmerboden und zitterte, dass ihr die Zähne aufeinander schlugen.

      Als die Großmutter kurze Zeit später ihre Enkelin fand, war diese kaum ansprechbar. Apathisch und fieberheiß. Emilia war es kaum möglich, Marissa aus diesem Zustand zu holen und sie wieder ins Bett zu bringen. Irgendwie schaffte sie es dann, ihr die nassen, beschmutzen Sachen auszuziehen und ihr Gesicht und Oberkörper vorsichtig mit einem Waschlappen zu säubern. Zog ihr ein frisches Hemd über, während Marissa sie mit gläsernen Augen ansah. „Oma, es tut mir so Leid“, sagte sie tonlos und gab sich einen Ruck um sich mit Hilfe der Großmutter aufzurichten. Aneinander gestützt schafften sie den Weg ins Schlafzimmer, wo Marissa schwer ins Bett sank und einschlief.

      Emilia stand minutenlang bewegungslos da. Blickte auf die Enkelin hinunter, sah ihr rotes Gesicht,