Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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Augen an die dämmrige Helle des Raumes gewöhnt hatten, nahm sie immer mehr die altvertrauten Gegenstände war. Den Kamin, in dem an Winterabenden ein wohliges Feuer brannte, jetzt aber dunkel vor sich hin schlief, der alte Lehnstuhl davor, auf dem noch immer die alte bunte Flickendecke lag, die die Großmutter vor langer Zeit in liebevoller Handarbeit selber hergestellt hatte und dem Großvater viele Jahre die alten, müden Beine wärmte.

      Auf dem kleinen, runden Holztisch lagen Stapel von Büchern, gelesenen und ungelesenen. Daneben standen Becher und Teekanne für den sofortigen Gebrauch. Auf dem Kaminsims lehnten Schwarz-Weiß-Fotos alter Verwandter und - wie ein Fremdkörper - eine Fotografie aufgenommen in modernster Digitaltechnik. Marissa musste nicht näher gehen um zu sehen, wer darauf abgebildet war. Vielmehr ließ sie ihren Blick rasch darüber hinweggleiten, hin zu dem Schrank mit den Glastüren, hinter denen sich Schätze aus aller Welt befanden. Krüge, Gläser, Steine, Becher aus Gold, verzierte Teller und Gefäße. Errungenschaften von den weiten Reisen des alten Seefahrers, dem das Haus einst gehörte und mit dem Inventar von seinen Erben an die neuen Eigentümer verkauft worden war. Marissa fand sie wunderschön. Sie öffnete eine der Türen des Schrankes und nahm zielgerichtet ein kleines, wundersam filigranes hölzernes Schmuckkästchen heraus, welches es ihr schon als Kind angetan hatte und das sich auf besondere Weise von den anderen Sätzen unterschied, so als ob es nicht dazugehörte. Der Deckel war geschmückt mit einer kunstvoll geschnitzten Rose, die sich von oben herab um das ganze Kästchen rankte. Vorsichtig strich Marissa über die Blütenblätter, die Stile, spürte sacht die kleinen Stacheln und meinte den feinen Duft der Rose zu riechen als sie ihre Nase daranhielt. Immer wenn sie früher das Kästchen in der Hand gehalten hatte, war die Neugierde groß gewesen zu erforschen, was es wohl enthielt, aber der Deckel war verschlossen. Einen Schlüssel gab es nicht und sie hatte sich nie getraut, den versteckten Verschlussmechanismus zu erforschen. Auch niemand sonst hatte bisher scheinbar das Bedürfnis gehabt, an das Innere zu gelangen. Irgendwie gehörte dieses Geheimnis zu dem Kunstwerk und machte es wohlmöglich noch bedeutsamer.

      Sie lächelte leicht als sie es zurück an seinen Platz stellte und die Schranktür schloss.

      „Da bist du ja.“ Die Stimme hinter ihr klang rau und etwas heiser.

      Marissa drehte sich um und sah sich von den Augen der kleinen Frau vor sich eingenommen. Klein war sie immer gewesen, aber jetzt kam es ihr vor, als hätte sie sich nochmal mehr ein Stück in sich zusammengezogen.

      „Oma“. Vorsichtig trat sie zu ihr und umarmte sie leicht wie ein zerbrechliches Gut.

      „Issa…“ Die warme Hand der alten Frau legte sich auf die junge Wange der Enkelin. „Wie schön.“ Dann bemerkte sie das leichte Zittern, das Marissa durchlief, sah auf ihre nackten Füße.

      „Was ist passiert – wo sind deine Schuhe?“

      „Ach, die habe ich irgendwo am Strand liegengelassen und meinen Rucksack auch. Ich musste doch gleich zum Meer. Jetzt bin ich müde und mir ist kalt.“

      Die Großmutter nickte: „Geh nach oben in dein Zimmer. Nimm dir Handtücher und ein paar Sachen aus dem Schrank. Ich koche derweil einen Tee.“

      Marissa küsste die faltige Wange der Großmutter und stieg dann die enge Holztreppe hinauf. Im oberen Stockwerk war es nahezu dunkel und nicht so warm wie unten. Der Flur kam ihr sehr niedrig vor. Die Kammer links war das Zimmer ihrer Großmutter. Das große Bett war für zwei bezogen aber nur eine Decke war zurückgeschlagen. Auf dem Nachttisch neben der unbenutzten Seite stand ein Bild mit einem großen, stämmigen, gutaussehenden Mann, der auch trotz seines weißen Haupthaares und den tiefen Stirnfurchen, bubenhaft frech aus den Augen blickte. Marissa grinste kurz als sie dem Blick des Großvaters begegnete. Er war immer ein großer Junge gewesen, bis zum Schluss und hatte mit ihr, der jungenhaften Enkeltochter viele, wilde Abenteuer durchlebt.

      Das Zimmer gegenüber war immer ihres gewesen. Sie liebte das schmale Bett, das sich unter die Dachschrägen zwängte und den Blick durch die Dachluke mit Sicht auf den Himmel. Der wackelige Tisch, der alte Korbstuhl, das Regal mit den abgegriffenen, zerlesenen Büchern ihrer Kinderzeit.

      Im Schrank fand sie Handtücher, rubbelte sich die verschwitzen kurzen Haare trocken und schälte sich aus dem unangenehm klebrigen Kleidern.

      Der dicke, blaue Pullover mit den weißen Streifen roch nach Vergangenheit als sie ihn überstreifte und die selbstgestickten Strümpfe kratzen angenehm an den nackten, kalten Füße. Das Bett war bezogen. Auf dem Kopfkissen lag wie immer ein Säckchen mit Lavendel. Marissa nahm es in die Hand, roch daran und sank hinein in die Weichheit der Daunenfedern.

      Als die Großmutter mit einer Tasse Tee ins Zimmer kam, schlief sie bereits.

      *

      Da war eine wohlige Wärme an ihren Füßen und eine schmeichelnde Bewegung. Noch halb im Schlaf nahm sie wahr, wie da etwas unter ihre Bettdecke zu kommen versuchte. Es dauerte eine Weile bis sie sich erinnerte, wo sie war, in welchem Bett sie lag und wer sie gerne früh morgens besuchte, wenn sie hier war.

      „Teo…“ Sie richtete sich halb auf, griff suchend mit der Hand an das Fußende des Bettes. „…komm her, mein Süßer.“ Eine warme, feuchte Nase berührte vorsichtig ihre Finger, bevor eine kleine Zunge anfing, daran zu lecken und spitze Zähne ein wenig ihre Haut berührten.

      Jetzt setzte sich Marissa gänzlich auf und umfing das Fell des alten Katers, der kaum Halt auf dem weichen Bettzeug fand. „Wie geht es dir, alter Freund?“ Sie kraulte ihm liebevoll den Hals und sogleich schnurrte das Tier zufrieden. Sie nahm ihn auf den Schoß und sah ihn aufmerksam in die grünen Katzenaugen. Sein ehemals dickes, schwarzes Fell war merklich ausgedünnt und wies einige kahle Stellen auf.

      „…wirst auch nicht jünger, was?“ sprach sie zu ihm und merkte, dass sie diese Tatsache genauso berührte wie das Erkennen des Altersprozesses bei ihrer Großmutter. Und sie selber - sie wurde auch jedes Jahr älter, ohne dass sie etwas daran ändern konnte. Noch war sie jung genug, das nicht so wichtig zu nehmen aber hin und wieder ertappte sie sich dabei, wie sie darüber ins Grübeln geriet. In letzter Zeit verstärkt und ohne einen für sie erkennbaren Grund.

      Durch das schräge Dachfenster blinzelte die Sonne zu ihr und den schwarz-grauen Kater in ihrem Arm. Es sah aus als würde es ein schöner Tag werden.

      „Komm, Teo – auf nach draußen.“ Der Kater sprang noch recht behende vom Bett als Marissa die Decken zurückschlug und aufstand.

      Sie hörte ihre Großmutter bereits unten in der Küche werkeln. Die alte Dame stand stets vor sechs Uhr auf und blickte ihrer Enkelin munter entgegen.

      „Gut geschlafen?“ wollte sie wissen.

      „Und wie…“ Marissa reckte ihre Arme hoch über den Kopf. „ - himmlisch, wie immer hier.“

      „Möchtest du draußen frühstücken? Auf der Terrasse ist es schon warm.“

      Noch bekleidet mit ihrem dicken Wollpullover und den Socken lief Marissa durch die Küche hinaus ins Freie. Die Sonne strahlte ihr sogleich hell ins Gesicht und ließ sie die Augen schließen. Als sie diese wieder öffnete, blickte sie auf das blühende Prachtmeer aus Blumen, Sträuchern und Gräsern, Kräutern, Obstbäumen und Gemüsebeete, das wie eine Naturorgie den Garten hinterm Haus vereinnahmte. Lediglich die kleine Terrasse ließ Platz zum Niedersetzen auf der alten Holzbank mit dem selbstgezimmerten Tisch. Auf diesem stand bereits alles für ein ausgiebiges Frühstück bereit.

      Marissa ertappte sich dabei, wie sie gleichsam wie der Kater anfing zu schnurren vor lauter Wohlbefinden. Das war das Paradies.

      Ihre Großmutter kam mit der dicken, geblümten Teekanne aus der Küche und lachte. „Meine kleine Katze. Setz dich und lass es dir schmecken.“

      Marissa zog die Socken aus, krempelte die Ärmel des Pullovers hoch und ließ sich mit allen Sinnen in diesen Sonnenmorgen gleiten.

      *

      Und dann - das Meer.

      Eine Stunde später lief sie barfuß in dem alten Kleid, das sie im Schrank ihrer Großmutter hatte hängen sehen, hinunter zum Strand. Aus einem Impuls heraus