Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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hat das noch lange nicht verwunden. Sie ist sehr bedürftig nach Zuwendung. Bitte gib Acht.“

      „Danke, Emilia. Danke für deine offenen Worte. Und sei gewiss, dass ich achtsam bin und mit euch fühle. Ich weiß nicht, wie eure Familie mit diesem Schmerz umgeht, ob ihr darüber sprecht… aber das ist wichtig, redet miteinander. Rede mit Marissa. Sie braucht das.“ Er blickte sie nachdrücklich an. „Sie hat Vertrauen zu dir und liebt dich, sonst wäre sie nicht zu dir gekommen. Nutze das für euer beider Wohl, für das Wohl eurer Familie. Manchmal ist es leichter mit einem Fremden darüber zu sprechen doch es ist auch hilfreich sich den Nahestehenden zu öffnen. Ihr braucht euch alle. Sonst seid ihr allein und einsam. Geht aufeinander zu, dann wird vieles leichter.“

      Emilia nickte nachdenklich, stand auf und trat zu dem Mediziner, der hinter dem Schreibtisch aufgestanden war. „Laß es dir gefallen“, sagte sie als sie mit den Händen seinen Kopf umfasste und zu sich auf ihre Höhe hinunterzog. Ihre Lippen berührten leicht seine Stirn. „Du hast mir sehr geholfen.“

      Timo Schmidtmann verzog sein Gesicht zu diesem unwiderstehlichen jungenhaften Grinsen. „Mensch, Emilia – wenn ich nicht zu jung für dich wäre, müsste ich mich wahrlich in Acht nehmen.“ Er griff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Ihr seid schon war besonderes, du und deine Enkelin.“

      *

      Auf dem Nachhauseweg waren beide sehr schweigsam. Marissa hatte ihre Großmutter kaum angesehen nachdem diese aus dem Sprechzimmer gekommen war und sie selber für ein paar Minuten hineinging. Keine von beiden sagte der anderen, was der Arzt mit ihr gesprochen hatte. Es war wie eine stille Übereinkunft, der Anderen Raum für Gedanken zu lassen. Ordnung in sich zu finden und Klarheit darüber, wie mit dem Erfahrenen umzugehen sei.

      Sie fuhren langsam mit den Rädern nebenineinander her, ließen die Inselvegetation an sich vorübergleiten wie in einem Zeitlupenfilm, jede in sich versunken, fern von hier. Getragen von Empfindungen voller Widersprüche. Mit einem Mal jedoch beschleunigte Marissa das Tempo, sodass Emilia Mühe hatte hinterherzukommen. Immer schneller und schneller wurde sie, bis sie Emilia weit hinter sich gelassen hatte und diese Marissa nur noch als Bewegung am Ende des Weges erkennen konnte. „Fahr nur“, sprach Emilia vor sich hin in den Fahrtwind, der ihr die Augen tränen ließ. „Es ist gut.“

      Marissa hatte keine Ahnung, was sie zu dem impulsiven Davonbrausen getrieben hatte. Wie von selber waren ihre Beine immer heftiger in die Pedale getreten, immer schneller und schneller, sodass sie das Gefühl hatte, sie müsse gleich davonfliegen. Weg von hier, weg von sich selber, weg von diesem Gedankengewimmel in ihrem Kopf, das sich nicht entwirren wollte, ihr nicht klar erscheinen ließ, was das alles zu bedeuten hatte. Dieses Gespräch vorhin in der Praxis. Dieses Ziehen in ihrem Inneren und das klopfende Stolpern in der Herzgegend. Sie musste es ganz schnell hinter sich lassen. Alles vergessen, vom Wind verwehen, vom Wasser wegspülen, von der Sonne verbrennen lassen. Aus ihr heraus löste sich ein Schrei gegen die dumpfe Enttäuschung, gegen den Schmerz, gegen die Erinnerung. Die an das Heute und die an das Gestern.

      Sie fuhr stehend eine Wegsenkung hinunter, lehnte sich über den Lenker und schrie sich frei. Mit quietschenden Bremsen fuhr sie den Weg zum Haus der Großmutter hin, ließ das Fahrrad achtlos am Zaun stehen und rannte hinüber zu den Dünen, weiter hin zum Meer, das sie mit lauter Brandung empfing. Sie stoppte sich erst als das Wasser ihr schon bis zu den Knien reichte und sie keine Luft mehr hatte, gegen das Tosen des Meeres anzubrüllen.

      *

      Emilia dachte noch über die Worte des Arztes nach. Reden. Reden war heilsam. Natürlich wusste sie das, aber so wie in ihrer Familie von jeher nicht viel gesprochen worden war, war auch sie nicht unbedingt diejenige, die viel über das sprach, was sie bewegte. Eher war sie diejenige, die anderen zuhörte, anderen mit Rat zur Seite stand oder einfach nur da war, wenn sie gebraucht wurde. Schon in der Schulzeit war sie die beste Freundin bei Herzschmerz gewesen und in den schweren Krieg- und Nachkriegsjahren diejenige, die anderen Mut und Zuversicht vermittelte. Half mit Worten und Taten und stellte sich selber ganz hinten in die Reihe der Bedürftigen. Dabei drängte sie sich anderen nie auf, wartete bis diese zu ihr kamen und die Lasten vor ihr abluden. Säcke voll mit Tränen, Kummer und Leid. Zu viele manchmal, um sich dann noch den sorgsam verschnürten Seelenpakete der eigenen Familie zu widmen. Von ihren ganz persönlichen ganz zu schweigen.

      In den Jahren des Wiederaufbaus fand sie ihr kleines Glück, baute mit Julius ein Haus, sah ihre Tochter Juliane aufwachsen. Es ging ihnen gut. Wie schnell war es zur wunderbaren Normalität geworden, sicher und geborgen zu sein. Ein Dach über dem Kopf zu haben, ausreichend jeden Tag zu essen und Kleidung, die nicht zusammengesucht, geflickt, aus alten Vorhängen und Decken zusammengeschneidert war, sodass sie wie Säcke am Leib hinunterhingen. Wie schnell hatte man sich in den Frieden des Tages geflüchtet um nicht mehr die Albträume der Vergangenheit zu sehen. Hatte sie verdrängt um neu anzufangen, wieder zu leben.

      Und die Dankbarkeit für dieses neue Leben war unendlich. Die Freude, dass die neue Generation aufwachsen konnte ohne die Gräuel des Krieges, ohne Hungersnot und bitterer Kälte. Kinder waren ein Zeichen für eine neue Zeitrechnung. Ihnen würde es gut gehen. Ihnen ging es gut. Etwas anderes konnte gar nicht möglich sein.

      Ein Traum, diese heile Welt. Äußerlich gesundete das Land, die Menschen erlebten Wohlstand und Wohlergehen. Doch war wirklich alles gut? Was war mit der Seele derer, die so viel erlitten hatten, dass es wohl nie in Worte gefasst werden konnte. Die unfassbaren, unendlichen Leidensgeschichten, die jede Familie in irgendeiner Form erlebt hatte. Niemand war ungeschoren davon gekommen. Niemand wirklich heil. Zuviel war in Schutt und Asche gesunken, zu viel gestorben und verloren.

      Geredet wurde darüber kaum. Niemand wollte daran rühren, den Schmerz wiederaufleben lassen. Besser man bedeckte alles mit dem Bann der Vergessenheit. Ließ es ruhen, hüllte es mit Schweigen ein.

      Emilia hatte auch viel geschwiegen. Die Gegenwart war so viel wichtiger, forderte so viel Aufmerksamkeit. Es gab kaum Zeit für Gedanken und Erinnerungen an die dunkle Epoche. Mitunter im Traum jagten Bilder durch ihr Gedächtnis und es gab Situationen, die ihr das Herz stocken ließen und den Atem. Das Geräusch eines mit Blaulicht dahinsausenden Krankenwagens oder der Probealarm der örtlichen Feuerwehr am Samstagmittag. Darauf reagierte ihr Körper mit Fluchtreflexen und Angstschweiß. Und auch das jährliche Feuerwerk an Silvester war für sie lange Jahre unerträglich. Wenn es soweit war, verzog sie sich in den abgeschlossensten Raum des Hauses und harrte auf das Ende der Knallerei. Die kleine Tochter kuschelte sich verschreckt an ihre Seite. Und selbst als bei Emilia die Symptome im Laufe der Zeit abflauten, blieb bei Juliane die Schreckhaftigkeit wenn es unversehens irgendwo ein lautes Geräusch gab, nach Rauch roch oder eine Sirene jaulte.

      Lange hatte Emilia das auf die normale Ängstlichkeit eines Mädchens zurückgeführt, doch je älter sie wurde, erkannte sie Verhaltensweisen in der Tochter, die sie mehr und mehr an sie selber erinnerten. Sie selber als Kriegskind. Sollte es möglich sein, dass Juliane, die nie einen Fliegeralarm miterlebt hatte, sich nie in den Bombenschutzkeller hatte flüchten müssen, nie das Dröhnen der Tiefflieger gehört hatte, etwas davon in sich trug. Ein Erbe von all dem Grauen, das sie, ihre Mutter, fern von ihr zu glauben meinte.

      Und die merkwürdigen Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen. Waren auch das Symptome eines ungewollten Erbes?

      Und wieso fand die Tochter kein privates Glück? Sie tat sich schwer mit Freundschaften, Beziehungen funktionierten nicht, sie war eine Einzelgängerin mitunter sehr unnahbar, wortkarg, in-sich-gesenkt.

      Ein Erbe vielleicht auch das – entsprungen aus der ostpreußischen Linie der Familie, in der nie viel gesprochen wurde, in der jeder seine Gedanken im Kopf mit sich herum trug, still. Ohne Bedürfnis sich nach außen hin mitzuteilen.

      Das lag nicht in ihrer Natur, das war nicht üblich. Und niemand schien etwas zu vermissen. Durch ihren Vater war Emilia mit dieser Wortkargheit sehr vertraut, hatte diese immer als gegeben hingenommen und ohne groß zu hinterfragen mit- und weitergelebt. Durch Julius hatte sie erfahren können, dass es durchaus mehr gab als Schweigsamkeit. Doch die Kunst ein Gespräch zu führen, sich mitzuteilen, wurde ihr dennoch nie wirklich lebbar.

      Emilia wurde es immer klarer, wie wichtig dies gewesen wäre.