Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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viel darum gegeben, das jetzt noch nachzuholen. In die Vergangenheit zu reisen, sich mit Julius und der Tochter an den Tisch zu setzten und auszusprechen, was so wichtig war. Dafür war es jetzt zu spät. Doch scheinbar hatte die Fügung ihr eine Chance zugespielt, dennoch ein wenig von dem Versäumten nachzuholen, etwas gutzumachen. Es konnte kein Zufall sein, dass Marissa hier war und Ungesagtes so ausdrückte, wie es ihr möglich war. Abseits der Wörter. Aber doch unmissverständlich durch ihre körperlichen Zeichen.

      Emilia wusste nicht ob sie es können würde, aber sie wusste, es mussten Worte zum Sprechen gebracht werden. Sie würde einen Weg finden müssen, um das auszudrücken, was scheinbar gehört werden wollte.

      *

      Am nächsten Tag regnete es. Der erste Regen seit Wochen. Die Natur brauchte ihn dringend, hatte aber Mühe die vielen Mengen Wasser so schnell aufzunehmen. Rasch bildeten sich Pfützen und kleine Lachen, die auf dem ausgetrockneten Boden liegen blieben. Von den Bäumen und Sträuchern tropften dünne Wasserfäden hinunter und die Blüten und Blätter der Blumen neigten sich tief unter der ungewohnten Schwere. Trotzdem schien ein Aufatmen durch das matte Grün zu gehen, das sich vollsaugte für eine neue Frische.

      Emilia, die wie immer früh aufgestanden war, schaute von der offenen Terrassentür auf den frisch gesprengten Garten. Mitunter wehte ein Windstoß Regentropfen zu ihr hin und benetzte ihr Gesicht. Das tat gut. Es kühlte ein wenig ihre Unruhe, die sie nachts nicht recht hatte schlafen lassen. Zuviel war ihr noch im Kopf herumgegeistert. Marissa hatte sich ohne Erklärung wieder in das Zimmer mit den Dachschrägen verzogen, die Tür geschlossen und wortlos zu verstehen gegeben, dass sie nicht gestört werden wollte. Gestern war nicht der Zeitpunkt gewesen, das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, aufzulösen. Ihr selber war nicht nach Reden zumute gewesen, doch sie würde den heutigen Tag dazu benutzen, der sie nach innen zwingen würde. In jeder Hinsicht.

      Noch bevor Marissa hinunterkam, stellte sich Emilia an den Herd und kochte deren Lieblingsnachspeise. Die Früchte dazu, rote Johannisbeeren, Brombeeren und ein paar Himbeeren, die für sie nach Kindheit schmeckten, hatte sie gestern noch von den eigenen Sträuchern im Garten gepflückt. Es dauerte nicht lange bis die rote, sämige Masse im Topf hochblubberte und schließlich dickflüssig in der großen, gläsernen Schüssel auskühlte.

      Kater Teo sah begehrlich auf das Treiben der alten Frau und maunzte nachdrücklich. Aber sie schüttelte den Kopf: „…das ist nicht für dich.“ Sie schob ihm ersatzweise frischgeschnittene Fleischstücke zu, über die er sich voller Hingabe stürzte. Emilia lächelte. „Kleiner Fresssack.“

      Als es auf der Treppe knarrte, drehte sie sich überrascht um. „Du bist schon auf?“ Sie sah die Enkelin fragend an. „Es ist doch noch früh.“

      Marissa schlurfte in den alten Pantoffeln des Großvaters zur Küchenbank, setzte sich mit angezogenen Beinen darauf. Ihre Hände vergrub sie in den langen Ärmeln ihres Pyjamas. „Der Regen hat so laut auf’s Fenster geprasselt.“ Sie gähnte. „Und ich konnte eh nicht gut schlafen.“

      „Ich auch nicht“, antwortete Emilia. „Hier – magst du den Topf auslecken. Ganz frisch gekocht.“ Sie stellte ihr den Kochtopf auf den Tisch, in dem noch Spuren der Nachspeise vorhanden waren. Marissa steckte ihren Finger hinein. „Rote Grütze. Wie lecker – und noch warm. Zum Frühstück hatte ich die noch nie.“ Mit Wonne löffelte sie die Beerengrütze in sich hinein. „Hm – die kannst nur du so lecker kochen.“

      Emilia lächelte und sah zufrieden, wie sich Marissas Lippen in kürzester Zeit rotgefärbten und auf deren Gesicht gleichzeitig ein freudiges Grinsen ausbreitete. „Tut mir Leid, dass ich gestern so abgedampft bin“, kam es dann von den roten Lippen der Enkelin, „ich musste einfach…“

      „Schon gut, Issa. Ich verstehe das. Irgendwie ist so viel passiert seit du hier bist. Und überhaupt...“ Emilia machte eine unbestimmte Handbewegung, die alles sagte und nichts. „…ich würde dir nachher gerne etwas zeigen und auch erzählen, wenn du willst. Heute ist, denke ich, eh nicht der Tag für Außenaktivitäten.“

      „Nein, wohl nicht. Nicht mal Teo wagt sich vor die Tür.“ Der Kater war nach seinem Mahl leise durch die Küche geschlichen und neben Marissa auf die Bank gesprungen, augenblicklich schnurrte er zufrieden als Marissa ihm leicht am Hals kraulte. „Du hast es gut“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

      *

      In die Wohnstube war es immer ein wenig dunkel, da die kleinen, milchigen Fenster nicht viel Licht hereinließen und durch das heutige Regengrau, erschien der Raum nur aus einer Ansammlung dunkler Schatten und Umrisse zu bestehen, die sonst wohl Möbelstücke, Kissen, Decken, Bücher und Bilder waren. Emilia knipste die alte Stehlampe neben dem Sofa an, doch ihre Glühbirnen reichten nicht aus, die dunkle Umgebung etwas zu erhellen. Als sie den Leuchter an der Decke einschaltete wurden die Konturen der Gegenstände endlich klarer und eindeutiger. „Wir könnten beinahe Feuer machen. Irgendwie ist es heute recht ungemütlich“, meinte Emilia und war drauf und dran, sich am Kamin zu schaffen zu machen. Aber Marissa schüttelte den Kopf. „Nein, lass nur. Hier auf dem Sofa ist es gemütlich. Wir haben ja Decken.“ Sie beobachtete wie die Großmutter scheinbar planlos hin und her lief, so als wüsste sie nicht, was sie eigentlich wollte. Als ob sie etwas hinauszögerte, was ihr schwerfiel. Marissa überkam eine flatternde Unruhe im Bauch. Was wollte sie ihr zeigen, was erzählen? Und wollte sie, Marissa, überhaupt etwas gezeigt bekommen, etwas hören? Mit einem Mal hatte sie den Impuls aufzuspringen und davonzulaufen. Das Verhalten der Großmutter irritierte sie und machte sie unsicher.

      „Was ist, Oma? Was suchst du?“ Mit der ausgesprochenen Frage übertönte sie das Gefühl in sich, gab sich Halt durch den Klang im Raum. Scheinbar schien Emilia sich dadurch auch wieder zu fassen. Atemlos ließ sie sich neben der Enkelin auf das Sofa sinken. „Ach, Issa. Ich suche den Anfang.“

      „Den Anfang?“ Marissa sah sie verständnislos von der Seite an. „Welchen Anfang?“

      „Den Anfang zu der Geschichte. Deiner, meiner, die deiner Mutter, deines Großonkels. Unserer Geschichte.“ Erschöpft lehnte sie sich zurück an das Rückenpolster des Sofas. „Es ist nicht leicht…“

      „Aber ich kenne doch unsere Geschichte“, meinte Marissa, „ich kenne euch alle. Uns.“ Noch während sie das sagte, merkte sie in sich viele unzählbare Fragezeichen auftauchen. War es wirklich so? Kannte sie die Familie? Und vor allem, kannte sie sich?

      „Möglich“, nickte Emilia. „Du kennst uns so, wie du uns jetzt siehst. Du weißt, dass wir eine Familie sind. Du kennst unsere Namen und Gesichter und du hast durch die eine oder andere Erzählung erfahren, was jeder früher getan und erlebt hat. Doch du und auch ich, wir alle, wissen eigentlich nichts von dem wirklichen Ich des anderen, von seinen Gefühlen, von seinem Seelenleben. Darüber wurde nie viel gesprochen. Doch das hätten wir tun sollen. Schon längst. Es gab und gibt so vieles, was ausgesprochen gehört. Weißt du, ich hätte auch nicht gedacht, dass es so wichtig ist, Gefühle zu äußern, zu zeigen, zu benennen. Doch gestern nach meinem Gespräch mit Timo Schmidtmann ist es mir überaus klar geworden. Schon allein deshalb, weil ich mir sehr wünsche, dass es dir gut geht. Dass es auch deiner Mutter gut geht. Uns allen. Ich mache mir Sorgen. Mir tut es so sehr weh zu sehen, wie sich deine Mutter quält und du... “ Emilia hielt atemlos inne, ihr blieben die Worte im Hals stecken, der voll war mit Herzklopfen. Sie nahm Marissas Hand zwischen ihre beiden Hände, verharrte mit ihr in schweigender Unbeweglichkeit. Um sie herum schwirrte die Luft voller unausgesprochener Worte und Empfindungen, sausten durch den Raum in immer schnellerem Tempo bis sie sich selbst eingeholt hatten und vor den beiden auf dem Sofa haltmachen. Ein leiser wortloser Laut hing da vor ihnen, entwichen aus dem Mund der Enkelin. Vom Kaminsims aus sahen stumme Gesichter der Vergangenheit zu ihnen herüber. Eine Zeitlang beobachteten sie die Nachfahren, die da eng beieinander saßen und ließen ihnen den Raum, den sie brauchten um sich und einander zu finden in einer Ruhe der Geborgenheit. Doch dann wurden sie beweglich in ihren schmalen Bilderrahmen, die sie einzwängten und beengten, sie zum Stillhalten brachten. Und das schon seit vielen, vielen Jahren. Einige von ihnen waren schon über etliche Jahrzehnte in ihren engen Behältnissen gefangen und sehnten sich nach Luft und Freiheit, nach Aufmerksamkeit und Beachtung.

      Emilia