Das Erwachen der Raben. Anke Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anke Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783741802850
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aber sie sammelte die Kissen wieder ein und sorgte somit für Nachschub. Maria war flink wie ein Wiesel und konnte kräftige Schläge mit dem Kissen austeilen.

      „He, du, magst du Schokoladenpudding?“, schrie sie.

      Johanna musste erst einmal einen Lachanfall überstehen, bevor sie antworten konnte.

      „Regenwürmer, die esse ich lieber. Und du?“

      Maria kicherte. „Regenwürmer“, sagte sie, „mag ich, aber nur in Schokoladenpudding“, worauf sie mit einem Kissen umgehauen wurde, alle Viere von sich streckte und losprustete, „und Spinnen am liebsten in Vanillepudding.“

      Johanna sprang auf den Boden und rieb sich über den Bauch, „lecker, und Kröten in Erdbeerpudding.“

      Das war das Startzeichen für Maria und die drei machten sich ans Werk. Vanillepudding wurde gekocht.

      Ein paar Minuten später kamen Zwillinge in die Küche. Es war unmöglich sie zu unterscheiden. Das gleiche Haar, die gleiche Kleidung. Johanna versuchte trotzdem, einen Punkt in ihren Gesichtern auszumachen, an dem sie einen Unterschied fand. Ein Zwilling, das war eine feine Sache. Gern hätte Johanna auch einen gehabt. Die Zwillinge tuschelten miteinander, neckten sich und machten sich einen Spaß daraus, Johanna zu fragen, wer Katja und wer Karola war. Ein lustiges Paar.

      Kaum war der Pudding in die Schüssel geschüttet und in feierlicher Prozession ins Wohnzimmer getragen worden, tauchte Claudia auf. Johanna erwartete Stunk, doch Claudia benahm sich als wäre Johanna Luft, damit war Johanna einverstanden.

      Doch als sie draußen Himmel und Hölle spielten, flüsterte Claudia ihr zu: „Niemand will dich Vogelscheuche hier haben.“

      Claudia hatte nie ihre Meinung geändert, und Johanna war sich sicher, dass dies auch in hundert Jahren nicht geschehen würde.

      Johanna ging hinaus auf die Terrasse. Sie legte ihrem Mann zur Begrüßung die Arme um die Taille und küsste ihn auf den Hals. Sammys Körper beruhigte sie immer, ließ sie zur Ruhe kommen. Er schaute in den Garten, das konnte er stundenlang. Die Vögel, das Rascheln der Blätter, das Eichhörnchen, das Summen der Bienen, die Farben der Blumen konnten seine Aufmerksamkeit erheischen. Er schien zufrieden, egal, ob sie da war oder nicht. Glücklicher Sammy. Verfluchter Tauchunfall. Er konnte sich seitdem nur noch eingeschränkt bewegen und Gesichter schienen für ihn keine Bedeutung zu haben. Er lebte in seiner Welt. Dazu gehörte, dass sie das Esszimmer zu seinem Zimmer umgebaut hatte, da es so für alle leichter war. Seufzend richtete sie sich auf, sie würde das Mittagessen kochen müssen. Die Kinder würden bald aus der Schule kommen.

      Johanna kramte in dem Wandschrank nach Puddingpulver, fand jedoch keins. Also sollte es wenigstens Kartoffelpüree mit Spinat und Fischstäbchen geben, dazu Spiegeleier. Ihr Leibgericht als Kind. Aus dem Keller holte sie einen Eimer Kartoffeln und begann zu schälen. Es war befriedigend zu sehen, wie leicht das Schälmesser über die Kartoffeln glitt und ein Stück nach dem anderen wegschnippte. David konnte Berge an Essen verputzen. Johanna verstand nicht, wo er das alles ließ, er war rank und schlank. Manchmal bestellte er sich noch spät abends eine Pizza. Vor ihm war kein Vorrat im Haus sicher und in seinem Zimmer stapelten sich leere Chipstüten, Schokoladenpapier und anderes Zeug. Sara dagegen war die Disziplin in Person. Für ihren Körper kamen nur ausgewählte Zutaten auf den Teller. Alles war dem Ziel einer Ballettkarriere untergeordnet. Johanna musste schmunzeln, Sara wusste genau, was sie wollte.

      Sie sah Sara noch als kleines Mädchen vor sich, wie sie ihren Bruder an der Hand gehalten hatte. Sara, so ernst mit ihren großen Augen und den aufeinander gepressten Lippen, wie sie Johanna kommen sah, die Frau, die ihr Vater ein paar Mal mit nach Hause gebracht hatte. David, der vor sich hin träumte und Johanna erst bemerkte, als seine Schwester ihn anschubste. Sammy hatte angerufen, Johanna gebeten, seine Kinder vom Kindergarten abzuholen, da er es nicht mehr rechtzeitig aus dem Stau schaffen würde. Er wollte nicht, dass die Kinder auf ihn warten mussten, wie damals bei ihrer Mutter, die nie ankam, weil ein angetrunkener Autofahrer ihr die Vorfahrt genommen hatte. Das waren feste Bilder in Johannas Kopf.

      Auch an Saras ersten Schultag erinnerte sich Johanna. Der orangefarbene Tornister, die grüne Zuckertüte, das Karokleidchen und Saras Schwanken zwischen Freude und Furcht. Sammy hatte gemeint, David solle auch eine Tüte bekommen, damit er nicht leer ausgehe, doch Johanna fand, das sei keine gute Idee. Der liebe Sammy, immer darauf bedacht jeden zu umsorgen. Nein, das war Saras großer Tag. Sie sollte im Mittelpunkt stehen und sicherlich würde sie ihrem Bruder auch von ihren Süßigkeiten abgeben. David würde seinen großen Tag im nächsten Schuljahr haben. Dann die Fahrt mit dem Auto. Sara schwieg. Sammy versuchte, sie mit Scherzen aufzumuntern. Und als sie ausstiegen, auf diesem Parkplatz standen, nahm sie Sammys und Johannas Hand. Sie blickte hoch zu Johanna und sagte: „Mama, du kommst doch mit?“

      Für Johanna war es in Ordnung gewesen, dass die Kinder sie bisher mit ihrem Vornamen angeredet hatten. Die Kinder waren ein Teil von Sammy und somit hatte sie die Kinder als einen Teil ihres Lebens akzeptiert. Ohne es sofort zu bemerken, hatte sie sich in die Kinder verliebt und da vor der Schule hatte Sara sie zum ersten Mal Mama genannt.

      Dagegen hielt Johanna es für unwahrscheinlich, dass ihre Eltern sie liebten. Das war keine große Erkenntnis, kein großer Schmerz. Es hatte Kämpfe gegeben, aber die waren lange her. Sie waren ausgefochten, die Positionen klar.

      Am leichtesten war es mit ihrem Vater gewesen, der selten in Erscheinung trat. Er hatte seine Arbeit als Chefredakteur und er hatte zu Hause sein Arbeitszimmer, in das er sich nach dem Essen zurückzog, um ein Buch zu lesen und einen Rotwein zu genießen. Bei Tisch, dort wo sie ihn am häufigsten sah, durfte nicht geredet werden.

      Ein einziges Mal hatte er seine Tochter in sein Reich gebeten. Johanna wollte die Schule verlassen und eine Ausbildung als Goldschmiedin beginnen. Endlich würde sie weg können, ihr eigenes Leben genießen in einer kleinen Wohnung. So ihre Hoffnungen. Sie hatte heimlich Bewerbungen verschickt, doch dann hatte ihre Mutter es herausgefunden und gepetzt.

      Der Vater redete, sie hörte zu. Seine Tochter würde Abitur machen und studieren. Was, das könnte sie selbst entscheiden. Ende des Gesprächs. Er verlangte nicht viel von seiner Familie, nur ein vorzeigbares Bild von Ehefrau und Tochter. Ein Bild, das seiner Position und seinem Selbstverständnis entsprach. Widerspruch duldete er nicht und war ihn auch nicht gewohnt. Also war ihr Fluchtversuch gescheitert, ihr Mut hatte nicht ausgereicht.

      Ihr Vater war ein schöner Mann, ein kluger Mann, auf den sie als Kind stolz gewesen war. Sie erinnerte sich immer gern daran, wie sie ihn gebeten hatte, zum Elternsprechabend zu gehen. Überraschenderweise tat er ihr den Gefallen. Ihr schöner Vater in dem gestärkten Hemd und dem Maßanzug, als wäre er einem Katalog entsprungen, ging zu dieser schrecklichen Lehrerin, die Johanna das Leben schwer machte, sie an der Tafel vorführte, sie mit ihrem Blick hypnotisierte. Die Rechnung ging auf. Seit diesem Abend hatte die Lehrerin sie nicht mehr malträtiert, sogar Nachsicht gezeigt, wenn sie eine Erklärung nicht verstand. Als Kind hatte Johanna schnell begriffen, dass Frauen sich in der Nähe ihres Vaters auffällig benahmen. Ihre Stimmen wurden höher oder weicher, sie zupften an Haar und Kleidung herum oder hingen an seinen Lippen und ständig lächelten sie. Rudi, ein Nachbarsjunge, den sie nur doof fand, pflegte für solche Fälle immer die flache Hand auf seine Faust zu klopfen und „ficke, ficke Kuchen“ zu johlen. Am liebsten hätte sie ihm dafür eine gescheuert, aber das hätte nur Ärger gegeben. Natürlich hatte sie gewusst, was damit gemeint war, sie war kein dummes Kind gewesen.

      Ihre Mutter dagegen war immer und überall da gewesen, nicht, dass sie sich Zeit für Johanna genommen hätte, dafür gab es genug im Haushalt und im Garten zu tun, aber morgens mäkelte sie bereits an Johannas Haar herum, das ihr nicht gekämmt erschien, mittags beschwerte sie sich, dass Johanna undankbar sei, weil ihr das Essen nicht schmeckte, nachmittags störte sie Johanna bei den Hausaufgaben, um im Kinderzimmer zu putzen und abends kontrollierte sie Zähne und Ohren. Oft hatte sich Johanna gewünscht, ihre Mutter würde irgendwo arbeiten gehen, so wie bei Claudia. Glückliche Claudia.

      Johanna hatte immer gespürt, dass sie nicht die Tochter war, die ihre Mutter sich gewünscht hatte. Nie war sie mit ihr zufrieden gewesen. Im Supermarkt hatte sie einer Frau von einem Missgeschick ihrer Tochter