„Wenn man keine Eltern braucht, können sie genauso gut tot sein“, sagte Johanna.
Die Brillenschlange nickte. „Ich bin Astrid. Wir können Freundinnen werden.“
Johanna wollte keine Freunde in diesem blöden Dorf haben, aber andererseits, wenn die Schöne auf diese Astrid hörte, war es vielleicht gut, sie nicht zu verärgern. „Mal sehen“, sagte sie deshalb vorsichtig, „könnte klappen, aber ich weiß nicht, ob ich viel mit anderen reden will.“
„Das ist in Ordnung. Soll ich dir was Tolles zeigen?“
Johanna rieb sich die Nase, wirklich Lust hatte sie nicht, aber wenn es hier was Tolles zu sehen gab, dann könnte sie ausnahmsweise mitgehen.
Sie folgte Astrid über die Dorfstraße an der Sparkasse und der Bushaltestelle mit der wuchtigen Kastanie vorbei in eine Seitenstraße, bis sie in eine mit Unkraut überwucherte Einfahrt abbog und vor einem Abbruchhaus stehen blieb. Johanna schaute sich um, toll war hier nichts, doch da zeigte Astrid mit dem Finger auf den Boden. An der Mauer hockte ein Spatz.
„Sein Flügel ist gebrochen“, erklärte Astrid, „kannst den ruhig anfassen, der fliegt nicht weg.“
Johanna ging vor dem Winzling in die Hocke. Er tat ihr leid. Behutsam nahm sie ihn in die Hand. Ein Tierarzt müsste dem Kleinen helfen können und sie würde ihn pflegen bis er wieder fliegen könnte.
Astrid trat neben sie, nahm die Sonnenbrille ab und musterte Johanna, die sich auf einmal selbst klein vorkam. „Der Vogel wird nicht wieder.“ Es war kein Bedauern in der Stimme. Sie tippte dem Spatz auf den Kopf und nahm ihn Johanna ab. Sie besah sich ihn von mehreren Seiten und plötzlich holte sie mit dem Arm aus und warf ihn mit voller Wucht gegen die Wand.
Johanna glaubte nicht, was sie sah, starrte mit offenem Mund den toten Vogel an.
Astrid verzog die Mundwinkel nach unten. „Ich habe dir gesagt, der schafft es nicht mehr.“ Sie blickte Johanna an, die noch immer starrte. „Ich habe dir nichts vorher gesagt, weil Leute aus der Stadt zimperlich sind, aber ich zeige dir was anderes Tolles.“
Johanna wollte nur noch nach Hause, doch Astrid packte sie an den Arm. „Stell dich nicht so an. Ich musste es tun. Er hatte Schmerzen.“
Johanna nickte, vielleicht hatte Astrid Recht, bestimmt hatte sie Recht, warum hätte sie es sonst tun sollen? Aber bei Astrid, das lernte Johanna schnell, konnte man nie sicher sein, warum sie etwas tat. Das war ihre erste Lektion gewesen. Damals vor dreißig Jahren.
Fast hätte Johanna ihre Haltestelle verpasst, war jedoch im letzten Moment aufgesprungen und hinausgeeilt. Der folgende Fußmarsch lockerte ihre Muskeln und sie fühlte sich schon besser, als sie zu Hause ankam. Johanna steckte den Hausschlüssel in die Tür. Nadja, ihre Lieblingshilfe, lugte hinter der Küchentür hervor.
„So früh habe ich Sie gar nicht erwartet“, ertönte es fröhlich.
Johanna lächelte zurück. Nadjas Anblick war immer eine Freude. Ihr Struwwelkopf verschwand wieder hinter der Tür und sie begann leise, bei der Arbeit zu pfeifen. Johanna lehnte sich an die Garderobe. Die Schuhe auszuziehen, verursachte ihr auf einmal Schwindel und sie verspürte den Wunsch, allein zu sein, allein mit Sammy. Vielleicht brütete sie tatsächlich etwas aus, in der Stadt schwirrten überall Bazillen herum, jeder Nieser ein Treffer. Nein, das tat sie nicht, sie war einfach nur schwanger.
„Nadja, wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie heute ein paar Überstunden abfeiern.“
Aus der Küche kam ein „Super!“ Johanna schmunzelte, diese Nadja, eine Frohnatur, von der sie sich ein Stück abschneiden konnte. Nadja kam in den Flur, schlüpfte in ihre Jacke.
„Das dumme Ding macht nur Probleme“, sagte sie, während sie vergeblich am Reißverschluss fingerte.
Johanna zwinkerte ihr zu, zog den Reißverschluss mit einem Ratsch hoch. Das veranlasste Nadja zu einem Jauchzer und sie umarmte Johanna. Für eine Sekunde genoss Johanna die Wärme und den Duft von Vanille auf Nadjas Haut.
Pudding in den Geschmacksrichtungen Vanille, Schokolade, Erdbeere und Karamell. Pudding stand für das Gefühl, bei Freunden zu sein, willkommen zu sein. Auch diese Art von Gefühlen war mit dem Dorf verbunden.
Bei ihrem ersten Besuch war Johanna durchs Dorf geschlendert und hatte Quietschmusik aus einem der Häuser gehört. Sie kam nicht vom Plattenspieler oder aus dem Radio, es war ein Instrument, sie vermutete eine Geige. Dem wollte sie nachgehen und näherte sich einem der offen stehenden Fenster.
Die Fensterbank war niedrig und sie konnte problemlos die Unterarme aufstützen und hineinspähen. Da saß ein sommersprossiges Mädchen auf einem Stuhl und zwischen ihren Knien war eine riesige Geige eingeklemmt. Johanna hörte bis zum letzten Ton zu.
„Gefällt es dir?“, fragte das Mädchen und eine Zahnlücke kam zum Vorschein.
Es legte den Bogen auf den Tisch und stellte das Instrument auf der Seite ab, kam zu Johanna, neigte den Kopf, bis er fast die Schulter berührte und verharrte wie ein Standbild.
„Was ist das für ein Instrument?“, stotterte Johanna angesichts dieses Verhaltens. Sogleich wurde sie rot, wie hörte sich das denn an, sie war doch keine Bekloppte.
„Wenn ich groß bin, werde ich Weltbestencellistin. Und du?“
Mit was sollte sie Weltbeste werden? Sie zuckte nur mit den Achseln, jetzt würde das Cellomädchen bestimmt nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen.
Es sagte auch sogleich, es müsse weiterüben. Da öffnete sich die Zimmertür.
„Beatrice“, brummte ein Zweimetermann im Overall, „du hockst mir nicht den ganzen Tag in der Stube, ab nach draußen.“ Schwupp ging die Tür wieder zu.
Das Mädchen namens Beatrice verdrehte die Augen. „Wenn meine Mutter hier wäre, könnte ich weiterspielen.“ Sie runzelte die Stirn und schaute rüber zu ihrem Cello, kletterte dann jedoch aus dem Fenster. „Meine Mutter“, sagte sie, „hat mir versprochen, wenn ich gut bin, bekomme ich Stunden bei einer Musiklehrerin und nicht, wie jetzt, bei Fräulein Otto.“
Johanna konnte sich nicht vorstellen, was daran toll sein sollte, drinnen sitzen und den ganzen Tag üben zu müssen. Auf einmal schien Beatrice durch sie hindurchzublicken. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und begann langsam im Takt mit dem Oberkörper zu wippen. Johanna wusste nicht, was sie tun sollte, warten oder gehen.
Vielleicht war diese Beatrice nicht richtig im Kopf. Johanna erinnerte sich, wie ihre Mutter gesagt hatte, die Leute aus dem Dorf seien alle Idioten. Außerdem was für ein Name. Klang nach Kneifzange. Wenn Eltern ihr Kind liebten, würden sie es Isabella oder Arabella, aber sicherlich nicht Beatrice nennen. Nein, sie würde nicht Beatrice genannt werden wollen, aber ihren Namen mochte sie auch nicht. Sie wollte nicht wie eine Tote heißen, das war unheimlich. Schuld daran war ihr Vater, denn seine Schwester, die nur zwei Jahre alt geworden war, war eine Johanna gewesen und wenn Johanna ein Junge geworden wäre, dann hätte sie den Namen Franz Josef, von ihrem Großonkel, bekommen. Glücklicherweise war sie ein Mädchen.
Wieso jemand Astrid hieß, grübelte Johanna weiter, verstand sie auch nicht. Früher in der roten Kindergartengruppe gab es eine Astrid, die immer mit Arschtritt gehänselt worden war. Die Brillenschlange würde niemand Arschtritt rufen, das würde keiner wagen, da war sich Johanna sicher. In der Gruppe, fiel ihr ein, hatte es auch eine Mercedes gegeben, über die keiner gelacht hatte, was Johanna verwundert hatte, bis sie erfuhr, dass das Mädchen nicht nach einem Auto benannt worden war, sondern der Name schon vor dem Auto existierte. Gut, dass sie nicht gelacht hatte, dann hätte sie als Dumme dagestanden.
Plötzlich wurde sie durch ein Poltern aus ihren Gedanken gerissen. Da stand der Zweimetermann und blickte mit zusammengeschobenen Augenbrauen zu ihnen hinüber. Sofort zog Beatrice sie mit sich: „Lass uns zu meiner Freundin Maria gehen.“
Nach kurzer Zeit war bei Maria der Teufel los. Es gab zwei Sofas, dazwischen einen Eichentisch und auf denen hüpften nun Johanna