Die Samen, Astronauten mit einer Botschaft, schossen durch das Universum. Nur einem gewährte die Sonne Gehör, sog ihn in ihr Inneres. Somit war dem Vater und der Mutter eine Tochter geschenkt.
Astrid rutschte vom Schoß des Vaters. Sie strahlte über das ganze Gesicht, denn mit einer Sonne konnte Malte, der Blödie, nicht mithalten. Ihr Vater war der klügste Mensch, er wusste alles.
„Und. Hast du vergessen, was ich dir vorhin gesagt habe?“, fragte der Vater.
„Nein“, fast war Astrid beleidigt. Ihr Vater hatte es doch häufig genug gesagt. „Wenn jemand was macht, was ich nicht mag, dann sag ich es dir oder Mama.“
„Dann pack ich mir den Kerl“, der Vater schnappte sich Astrid, die jauchzte als er sie in die Höhe warf und wieder auffing. „Dann schüttele ich den Kerl.“ Astrid wurde nun kopfüber von ihrem Vater an den Füßen gehalten. Was für ein Spaß.
Die Mutter riss die Schiebetür auf und rief: „Sei nicht so grob mit dem Kind.“ Die Tür zum Salon wurde wieder zurückgeschoben. Der Vater setzte Astrid auf den Boden ab. Von Spaß verstand die Mutter nur wenig, sie mochte lieber schimpfen oder verbieten.
„Papi“, sagte Astrid und zog an der Hand des Vaters, „können wir Pfannkuchen machen? Die Mami mag die so gerne und dann freut sie sich.“ Keiner konnte solche Pfannkuchen backen wie ihr Vater. Er holte Eier aus dem Kühlschrank und jonglierte damit. Mit dem Vater wurde es nie langweilig.
Die Pfannkuchen schmeckten lecker und sie verputzen Berge davon, scherzten, lachten und plauderten. Was für ein wunderbarer Tag. Astrid erhob auch keinen Einspruch, als die Mutter sie schlafen schickte, damit die Eltern unter sich sein konnten. Endlich war die Mutter glücklich.
Am Abend trieb der Durst Astrid aus dem Bett. Auf dem Weg zur Küche hörte sie hinter der Schlafzimmertür die Eltern streiten. Sie erschrak, der Vater wollte wieder fort, dabei war er doch gerade erst gekommen. Sie trat vorsichtig näher an die Tür, die einen Spalt offen stand, zuckte zusammen, als sie sah, wie die Mutter mit Fäusten auf die Brust des Vaters schlug. Sein Gesicht versteinerte sich und die Mutter schluchzte auf, schlang ihre Arme um seinen Hals. Er packte sie an den Armen und drückte sie von sich. Die Mutter bettelte darum, dass der Vater bei ihr bliebe, niemand würde ihn mehr lieben als sie.
„Du widerst mich an“, presste er zwischen den Zähnen hervor.
„Mich wirst du nie los“, flüsterte sie fast, „ohne mich wirst du deine Tochter nie wieder sehen.“
„Wie will eine Gestörte mich davon abhalten?“
„Wenn sie dich erst einmal wirklich kennen lernt, dann weiß sie, was du bist, dann bist du nicht mehr ihr Held und ich nicht die Spielverderberin.“
„Du machst dich lächerlich“, der Vater verzog die Mundwinkel.
„Lächerlich? Ich? Du bist nie für uns da, weil du dich mit deinen Flittchen vergnügst und einen Bastard nach dem andern zeugst. Du bist ein schlechter Vater, du bist ein schlechter Ehemann.“
Die Eltern starrten sich voller Hass an. Dann wendete sich der Vater ab, er blieb kurz neben Astrid stehen, wollte etwas sagen, ging dann aber wortlos aus dem Haus. Nach einer Woche war er wieder da, so wie immer, früher oder später kam er zurück.
7
Die Morgenpost fiel durch den Türschlitz und Johanna, die gerade ihren Rucksack festzurrte, beobachtete, wie ein schwarz umrandeter Umschlag auf den Boden fiel. Keine Zeit für schlechte Nachrichten, dachte sie, rührte sich aber nicht von der Stelle, denn sie kannte die Handschrift, diese gestochen scharfen Buchstaben. Sie starrte auf ihren Mädchennamen, den sie seit Jahren nicht mehr trug. Was bedeutete das? Als sie den Brief aufhob, schmeckte sie das Frühstück, das aus einem Schinkenbrot und Orangensaft bestanden hatte. Sie schluckte, doch die Übelkeit kroch weiter in ihr hoch. Rasch ließ sie den Brief in ihrer Jackentasche verschwinden und gab dem Brechreiz nach. Im Bad würgte und spuckte sie und murmelte ein paar Flüche. Dann drückte sie den Spülknopf und setzte sich auf den Toilettendeckel.
Johanna rieb sich die Schläfen. Sie war eine Frau mit Lebenserfahrung, Intelligenz und einer Familie, für die sie die Verantwortung trug. Sie hatte eine Entscheidung zu treffen, sie allein. Was sollte sie tun? Vielleicht wäre ein Baby ein Neuanfang. Noch nie hatte Johanna ein Kind geboren, noch nie hatte sie den Wunsch dazu verspürt, noch nicht einmal Gedanken hatte sie daran verschwendet. Und nun, regte sich da eine Sehnsucht in ihr?
Johanna drehte den Wasserhahn auf, trank den bitteren Geschmack hinunter und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Du betrügst dich selbst, Johanna. Du hast zwei Stiefkinder, einen kranken Mann und einen Job. Sara würde dir nie verzeihen, willst du Sara verlieren? Und du warst ein schreckliches Kind. Keine guten Voraussetzungen.
Johanna holte den Brief hervor. War es eine Botschaft, eine Erinnerung oder warum hatte Katja den Mädchennamen mit angeführt? Das hatte sie noch nie getan. Johanna riss den Umschlag auf.
Ihre Augen weiteten sich, das konnte doch nicht wahr sein, aber es war schwarz auf weiß geschrieben. Katja lebte nicht mehr. Katja, die einmal im Jahr Johanna in Berlin besucht hatte. Ein Zwischenstopp im Bahnhofscafé auf dem Weg nach Potsdam. Die üblichen Fragen, wie geht’s, was machen die Kinder und die Ehemänner, Tschüss, alles Gute, bis nächstes Jahr. Aber niemals wurde über die gemeinsame Verstrickung, die gemeinsame Schuld gesprochen. Genau dieses Schweigen war es gewesen, das Johanna an das jährliche Ritual gebunden hatte, gewürzt mit einer Prise Mitleid.
Nun las Johanna das Bibelzitat auf der Karte und ein Gefühl von Wut stieg in ihr auf. Unverkennbar musste Katja es vor ihrem Tod selbst ausgewählt haben. Der Satz war dumm, aber eindeutig: „Der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn.“
Katja war eine Frau gewesen, deren Erwachsenleben nach Plan verlaufen war, nach den von ihr vorgesehenen Zeiten, Ereignissen und Orten. Eine Frau, die sich nie entspannt zurücklehnte, nie ihr Gegenüber aus den Augen ließ. Eine Stütze der Kirchengemeinde. Eine Gotteskriecherin. Für Johanna war es stets ein Rätsel geblieben, was Katja von ihr gewollt hatte, verständlicher wäre es gewesen, wenn sie jeden Kontakt gemieden hätte. Nur einmal, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich nicht getäuscht hatte, hatte sie hinter die Fassade geblickt.
Katja hatte bereits im Café gewartet und hoch zur Uhr geschaut, die Stirn in Falten gelegt. Als ihr Blick abwärts über die Fensterscheibe glitt, musterte sie ihr Spiegelbild. Johanna wollte sich durch ein Hallo bemerkbar machen, doch sie senkte die Hand wieder. Das war das Gesicht einer Fremden und sie hatte das Gefühl bei einer intimen Begegnung zu stören. Einer Begegnung im kalten Zorn.
Es waren einmal sieben Mädchen gewesen, damals, als Johanna in den Sommerferien in die Verbannung zum Großvater aufs Land, nach Eichenstövel, geschickt worden war. Johanna verzog wehmütig die Lippen; der alte Mann, der nichts mit der Enkelin anfangen konnte, sich aber bemühte, der sanfte, alte Mann mit seinen rissigen Händen, seinen traurigen, langsamen Bewegungen, er war der Letzte auf dem Hof seiner Väter.
Jetzt war wieder eine von ihnen gestorben, mit zweiundvierzig Jahren, das war eindeutig zu früh, genau wie bei Karola, Katjas Zwillingsschwester.
Sechs waren Zeuginnen gewesen und mit den Jahren wandelten sich die Bilder und Johanna fragte sich, sind das noch die Originale? Wie dieses Bild, auf dem sie Katja auf den Boden drückte, ihr das Knie auf die Schulter presste und drohte: „Wenn du ein Sterbenswörtchen erzählst, passiert dir das Gleiche wie deiner Schwester.“ Johanna hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, war überrascht, schockiert gewesen, als Katja hinter dem Gebüsch hervorgesprungen war und sie angeschrien hatte. Sie war von einer Angst gepackt worden; der Angst, ihre Mutter würde sie für immer weggeben, wenn sie wüsste, was ihre Tochter getan hatte. In ihren Ohren hallte Katjas schrille Stimme: „Mörderin!“
Es war der Sommer, in dem sie zwölf Jahre alt geworden war und in dem sie ihren ersten Kuss erhalten hatte. Es war der Sommer, in dem