Nun war auch für die anderen kein Halten mehr. Alle sprangen. Es ertönte ein Gekreische und Gejohle, in das Johanna einstimmte. Sie tanzten, drehten sich um das Feuer, stießen die Laute, die in ihnen waren, in die Nacht. Drehen, Kreisen, Stampfen, Füße hoch, Füße runter, Arme überall, die Glieder schwer, die Gedanken leer. Immer weiter. Als Johanna zu Boden fiel, sah sie den Rasen auf sich zukommen, sah die Grashalme, die Blumen und spürte die Feuchtigkeit der Erde auf ihrer erhitzten Haut. Sie glitt in einen Traum.
Als sie die Augen wieder öffnete, schrie sie auf, denn sie konnte nichts sehen, wusste nicht, wo sie war. Noch einmal schrie sie, als etwas nach ihr griff, doch da hörte sie Astrids Stimme. Langsam setzte sie sich auf und nun konnte sie das Glimmen des Feuers erkennen und Astrid, die davor hockte und mit einem Stock darin rumstocherte. Schnell rutschte Johanna neben ihre Freundin, suchte Schutz, schließlich waren sie mitten in der Nacht allein am Waldesrand.
„Du bist ohnmächtig geworden, aber du brauchst keine Angst zu haben, ich habe die ganze Zeit auf dich aufgepasst“, sagte Astrid, ohne dabei die Glut aus den Augen zu lassen. Das stimmte, sie brauchte keine Angst zu haben, denn sie hatte ihre Freundin an ihrer Seite, die beste Rabenfreundin, die sich ein Mädchen wünschen konnte, eine, die dich nie allein lässt. Endlich gehörte sie zum Clan der Raben. Das war einer der glücklichsten Momente der Kindheit gewesen.
Kinder und ihr magisches Denken, dachte Johanna und klemmte sich die Zeitschrift mit den Frisuren, die sie Sara zeigen wollte, unter den Arm. Sie stand vom Stuhl auf und blickte über ihren Garten, über den Rasen, die Sandsteine und die Pflanzen. In all den späteren Jahren hatte Johanna bezweifelt, dass die Dorfmädchen jemals ihre Freundinnen gewesen waren, aber solche Erinnerungen stimmten sie wehmütig.
Johanna ging hoch zu Sara und klopfte bei ihr an. Als sie eintrat, beugte sich Sara über ein Mathebuch.
„Schau mal, Sara, wäre das nichts für dich? Ich finde es hübsch. Weißt du, wir könnten gemeinsam zum Friseur. Der Salon um die Ecke bietet Rabatt, wenn Mutter und Tochter kommen. Danach könnten wir ein Eis essen gehen.“
Sara konzentrierte sich weiterhin auf ihr Buch. „Du bist nicht meine Mutter“, sagte sie beiläufig.
Wenigstens war sie so gnädig gewesen, ihr nicht ins Gesicht zu schauen, um zu sehen, wie es in sich zusammenfiel. Aber es war wohl nur Gleichgültigkeit.
Johanna stammelte: „War nur eine Idee, muss nicht sein.“ Haltung bewahren, Haltung bewahren, dachte Johanna und machte sich auf den Rückzug. War sie als Mutter weniger wert, weil sie das Kind nicht höchst persönlich aus ihrem Leib gepresst hatte? Musste sie erst Blut, Dammriss, entzündete Brustwarzen aufweisen, um als Mutter geadelt zu werden? Johanna hätte jetzt gern irgendetwas an die Wand geschmissen. Dieses kleine Biest.
Sie ging in ihr Arbeitszimmer, massierte ihre Schläfen. Arbeiten war immer eine gute Möglichkeit, sich auf Kurs zu bringen. An Sara durfte sie jetzt nicht denken, sonst würde sie sich noch zu einer Dummheit hinreißen lassen. Johanna schrieb derzeit an einem Buch über Armut in Deutschland, ein Thema, das sie in verschiedenen Varianten in ihrer Sendung diskutiert hatte. Der Verlag drängte sie zur Fertigstellung. Sie fuhr ihren Rechner hoch.
Katja, erinnerte sich Johanna, verachtete Menschen, die ihr Leben nicht selbst meistern konnten, die auf Hilfe angewiesen waren. Schuld seien sie alle selbst, sie seien faul, dumm oder schwach. Nun, damit war Katja nicht allein in diesem Land gewesen. Johanna sah Katjas Gesicht vor sich, wie sich die Falten um ihren Mund vertieften. Derselbe grimmige Ausdruck wie damals bei ihrer Zwillingsschwester Karola am See.
Im letzten Sommer auf dem Lande hatte Johanna ihre Barbiesammlung mit zum Opa genommen und auf diese Weise Pummelchen kennengelernt. Sie hatte gefragt, ob sie einer der Puppen die Haare kämmen könne, als sie Johanna auf der Pferdekoppel entdeckt hatte. Ihre Familie hatte das Knusperhäuschen am Walde, das seit Tante Heides Tod leer gestanden hatte, für drei Wochen gemietet. Johanna mochte die Nähe des niedlichen, rosigen Pummelchens, das Sanftmut ausstrahlte. Vor Pummelchen musste sie nicht auf der Hut sein, bei ihr musste sie mit keinen Überraschungen rechnen.
Das war bei Astrid und Claudia ganz anders. In der zweiten Woche übernachtete Johanna bei Pummelchen und dachte kein bisschen an die Clique. Überhaupt hatte sie in den letzten Tagen die meiste Zeit mit der neuen Freundin verbracht. Am nächsten Mittag begleitete Pummelchen sie auf dem Heimweg, auf dem sie Astrid, Claudia und Beatrice trafen. Die drei saßen auf dem Mauerstück am Bach und pafften. Astrid versperrte den beiden Mädchen den Weg.
„Na, hattet ihr Spaß?“, fragte Astrid mit einem Grinsen, das hinterhältig wirkte.
„Wir haben immer Spaß“, erwiderte Johanna trotzig.
Claudia schlenderte jetzt auch zu ihnen. „Wie schön für Dick und Doof.“
Johanna merkte, wie Pummelchen einen Schritt zurücktrat. „Ich habe keine Lust, mit dir Stinker zu reden“, sagte sie.
Claudia stieß Johanna mit ihrer Schulter an. „Du bist doch nur zu feige zum Rauchen.“
Johanna hatte es einmal probiert, für schlecht befunden und es dann gelassen. Astrid klatschte in die Hände und richtete damit die Aufmerksamkeit der Streithähne auf sich.
„Ich kenne ein Spiel mit einer Überraschung am Ende. Komm, Johanna, umarme mich und drück so fest du kannst gegen meinen Bauch.“ Johanna wollte nicht. Beatrice reckte den Hals, blieb aber auf der Mauer sitzen.
„Das ist albern“, sagte Johanna.
„Nein“, tönte Astrid, „willst du nicht die Überraschung herausfinden?“
Okay, dachte Johanna, ein Spaß kann nicht schaden und dann lässt uns Astrid weitergehen. Johanna schlang von hinten die Arme um Astrid und drückte zu. Plötzlich fühlte sie ein Brennen und zog die Hände weg.
Claudia lachte aus vollem Hals. „Mensch“, japste sie, „die ist echt doof!“
Astrid schaute, als wäre nichts gewesen. Johanna wollte sich nichts anmerken lassen, nicht zugeben, dass die Zigarettenglut, die Astrid auf ihren Handrücken gepresst hatte, Schmerzen verursachte.
„Und wo ist die Überraschung?“, fragte sie stattdessen.
Auf der Hand war ein roter Kreis und sie befürchtete, er würde für immer bleiben. Pummelchen war verschwunden.
Am nächsten Tag schaute Johanna bei Pummelchen vorbei, doch sie sei krank, behauptete ihre Mutter. Also schlenderte Johanna zum See, wo sich die Clique treffen wollte. Als sie ankam, waren Astrid, Claudia und Katja im Wasser. Nur Karola saß am Ufer, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Lippen zusammengepresst und starrte hinüber zu den Wasserratten. Karola konnte nicht schwimmen, wollte es auch nicht lernen, da sie Angst hatte. In diesem Sommer war es möglich, die Zwillinge auseinander zu halten, wenn sie an einem Platz waren. Sie kleideten und frisierten sich unterschiedlich. Hatte die eine von ihnen einen Pferdeschwanz, trug die andere das Haar offen oder geflochten. Die eine war immer mit den Freundinnen zusammen, die andere stand immer abseits. Karola war es, die ihrer Schwester wie ein Hündchen hinterherlief. Katja war es, die ihre Freiheit wollte.
Schnell hatte es sich Johanna angewöhnt, Karola nicht zu beachten, das machten alle so und von Karola war sowieso keine Antwort zu erwarten. Und wie sie da jetzt saß, schien es keine gute Idee zu sein, sie anzusprechen. Manchmal beschimpften die anderen Karola, weil sie ständig hinter ihnen herschnüffelte