Das Erwachen der Raben. Anke Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anke Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783741802850
Скачать книгу
gern auf einem der Besucherplätze sitzen.

      Die Landung verlief ohne Probleme. Der Dicke verabschiedete sich von ihr und überreichte ihr seine Visitenkarte, die sie, als er sich umdrehte, wegschnippte.

      Auf dem Parkplatz stand bereits ihr Mietauto, ein Porsche Cabrio. Sie stieg ein und brauste los. Das Pflegeheim lag drei Stunden Fahrt entfernt.

      Im Haus Auenruhe, einem ehemaligen Gutshaus, zu dem zwei Hektar Land gehörten, führte ein Pfleger sie in ein Zimmer, in dem Bilder von Bäumen an der Wand hingen und eine Orchidee auf dem Fensterbrett stand; auf dem Nachttisch brannte eine Kerze, neben der eine Bibel lag. Ihr Vater schlief, sein Atem rasselte. Astrid rückte einen Stuhl näher ans Sterbebett heran und wartete.

      Das Warten auf ihren Vater war Astrid und ihrer Mutter vertraut gewesen. Manchmal hatten sie sogar in dieser Zeit Spaß miteinander. Wie an dem Tag, als Astrid die Schminke ihrer Mutter benutzen durfte. Im Bad hatte ihre Mutter ein Schränkchen, gefüllt mit Dosen, Tiegeln, Fläschchen, Tuben, Schachteln und Pinseln. Die Mutter war stets geschminkt, frisiert und parfümiert. Zurechtgemacht nach den Modeheften und Katalogen, die im Salon auslagen.

      Am besten gefielen Astrid die Lippenstifte, immer wieder ummalte sie mit dem kirschroten ihren Mund. Ihre Mutter tuschte ihr die Wimpern, was ein bisschen anstrengend war, da sie still halten musste. Dann puderte sich Astrid das Gesicht, worauf sie niesen musste, denn es kitzelte in ihrer Nase. Das Haarspray stank, aber damit standen ihr die Haare wunderbar zu Berge. Rouge war auch eine tolle Sache, damit schmierte sie sich die Backen an. Die Mutter pinselte ihr noch die Augenlider an, Astrid hatte sich orange und blau ausgesucht. Sie fand sich schön, ihre Mutter meinte, sie könne jetzt im Zirkus auftreten. Nun wollte sie noch die Fingernägel lackiert haben, aber ihre Mutter meinte, ein kleines Mädchen brauche keinen Nagellack. Das war nicht schlimm, denn Astrid brannte sowieso darauf, ihrer Freundin Claudia das Kunstwerk zu zeigen, denn sie sah aus wie ein wilder Waldtroll.

      Die Freundin fand sie auf dem Schulhof, sie hockte zusammen mit Maria am Sandkasten. Leider war auch Malte, Marias Cousin aus Hamburg, dabei. Ein Besserwisser und Angeber. Selbst Maria, die ansonsten jeden mochte, konnte diese Knalltüte nicht leiden. Im Moment störte es Astrid aber wenig und sie schritt stolz auf die Gruppe zu. Die Zwillinge kamen ihr vom Klettergerüst entgegengestürzt und fragten sofort, ob Astrid sie auch so anmalen könnte.

      Malte verzog sein Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nur Huren schminken sich.“

      „Malte!“, rief Maria empört. „Das nimmst du zurück.“

      „Mein Vater ist Staatsanwalt und der kennt sich mit dem Gesindel auf der Straße aus.“, sagte er. „Mein Vater bringt jeden Tag Verbrecher und Huren ins Gefängnis. Du weißt bestimmt noch nicht einmal was Huren sind, aber ich kann dir das erklären.“ Er nahm eine Hand voll Sand und warf ihn auf Astrid. „Huren sind Dreck und jeder kann mit ihnen machen, was er will.“

      Die Mädchen schauten schockiert zu Astrid. Ihre Schminke und ihr Haar waren von Sand beschmutzt, einiges war in ihrem Kragen gelandet. Astrid bewegte sich zunächst nicht, denn sie musste gegen Tränen ankämpfen. Ihre Mutter und sie hatten sich so viel Mühe gegeben und jetzt war alles verdorben.

      Aber sie würde vor Malte nicht heulen, nein, auf gar keinen Fall. Stattdessen stellte sie ihre Füße auseinander, zog ihren Schlüpfer beiseite und ließ einen breiten, starken Pinkelstrahl auf den Sand nieder. Dieser Malte glotze wie ein Affe. Dann griff sie in den nassen Sand und starrte ihn an.

      Er machte einen Schritt zurück. „Ich habe meine Sonntagshose an, die darf ich nicht dreckig machen. Maria, sag das deiner doofen Freundin.“

      „Astrid ist nicht doof“, erwiderte Maria.

      Claudia packte Malte von hinten und drückte ihn auf den Boden. „Du bist so gut wie tot“, stieß sie hervor.

      Sogleich sprangen die Zwillinge herbei und hielten seine Arme. Maria setzte sich auf seine Beine. Malte schrie vor Wut. Astrid drückte seine Nasenlöcher zu und stopfte ihm den Sand in den Mund. Er zappelte, seine Augen waren tellergroß. Bevor sie ihn losließen, riss ihm Claudia ein Haarbüschel aus. Malte hustete, spuckte Sand und Rotze aus.

      „Ihr Proleten“, schrie er, „mein Vater macht euch fertig.“

      Claudia wedelte mit dem Büschel. „Ich bring das unserer Waldhexe. Sobald du petzt, kriechen aus deinem Mund Spinnen, Maden und Lurche.“

      Malte rappelte sich auf und lief davon. Der würde sich nicht mehr so schnell mit ihnen anlegen. Maria holte ein Taschentuch hervor und tupfte vorsichtig den Sand aus Astrids Gesicht. Typisch Maria, sie kümmerte sich um jeden, was manchmal nervte, aber diesmal nicht.

      „Ich habe Malte beim Mittagessen in die Suppe gespuckt“, flüsterte sie Astrid zu und grinste.

      „Sieht toll aus, so wie vorher“, verkündete Claudia und die Mädchen stimmten ihr zu.

      Die Welt war wieder in Ordnung und sogar noch besser, als Astrid zu Hause in der Küche ihren Vater antraf. Er war wieder da. Sie stürzte in seine Arme und er warf sie in die Luft, fing sie wieder auf. Ihre Mutter tadelte ihn, er solle nicht so wild mit Astrid umgehen und sich anziehen. Die Ansichten ihrer Mutter waren manchmal komisch.

      Ihr Vater lief gern in Unterhose im Haus herum, denn er mochte die Luft an seiner Haut. Schließlich war er einmal Ringer gewesen, solange bis eine Knieverletzung ihn zum Aufhören gezwungen hatte. Astrid hätte auch gerne die Luft an ihrer Haut gehabt.

      „Du siehst hübsch aus, meine Große.“ Der Vater setzte sie ab und wandte sich seiner Frau zu.

      „Hast du Astrid bereits aufgeklärt?“, fragte er unvermittelt.

      Die Mutter sah ihn an, als habe er mehr als einen Schnaps getrunken. „Dafür ist sie zu jung.“

      „Dann übernehme ich das.“

      „Auf keinen Fall. Sie braucht solche Sachen nicht zu wissen.“

      „Es gibt so viele Geschichten, die ich höre, wenn ich unterwegs bin. Letztens hat die Polizei einen Jungen in der Lüneburger Heide gefunden. Solche Perverse gibt es überall.“

      „Natürlich habe ich Astrid verboten mit Fremden mitzugehen.“ Die Stimme ihrer Mutter wurde schrill. Das passierte stets, wenn sie sich angegriffen fühlte.

      „Und was, wenn sie den Mann kennt?“

      „Wie wäre es, wenn du häufiger bei uns wärst, dann könntest du auf sie aufpassen.“ Nun überschlug sich ihre Stimme.

      Der Vater sagte nichts, fuhr sich durchs Haar. Astrid mochte es nicht, wenn die Eltern stritten und sie mochte es nicht, wenn sie sich anschwiegen.

      „Ich kenne mich aus.“ Sie winkte mit der Hand ab. Bei den Katzen, Hunden, Pferden, Kühen hatte sie häufig genug das beobachten können, was die Erwachsenen Sex nannten. Wenn die Frauen im Friseursalon darüber redeten, dann sagten sie Geschlechtsverkehr dazu.

      Ihre Mutter schüttelte den Kopf, warf ihrem Vater Hemd und Hose zu und ging in den Salon. Er schlüpfte in seine Sachen und erklärte den Sex. Dinge erklären, davon verstand ihr Vater eine Menge.

      Astrid hörte ihrem Vater aufmerksam zu und fragte ihm Löcher in den Bauch. Sie wollte alles genau wissen, doch als ihr Vater dann nicht aufhörte, von den Samen zu schwärmen, die Sportskanonen seien, flink, spritzig, meisterhaft, wurde Astrid sauer. Klar hatte ihr Vater solchen Samen, aber Malte, dieser Wichtigtuer auch? Astrid stampfte mit dem Fuß auf. Das sei ungerecht, dieser Idiot bekomme Tierchen, die überall hin konnten und sie habe nur so ein blödes Ei. Das sei superdoof.

      Der Vater strich ihr über den Kopf und zog sie auf seinen Schoß. Er habe doch noch gar nicht zu Ende erzählt, meinte er, und sie kenne noch gar nicht die Geschichte wie sie, seine Tochter, die beste Tochter der Welt, entstanden sei. Er drückte sie an sich und rieb seine Bartstoppeln an ihrer Wange, worauf sie kreischte und lachte. Dann erzählte er.

      Es gebe nicht nur ein Universum mit dieser einen Welt, sondern viele, viele mehr. Manche groß, manche klein. Und die mächtigsten Gestirne in jedem