Das Erwachen der Raben. Anke Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anke Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783741802850
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schickte Katja jedes Jahr eine Weihnachtskarte und begrüßte sie jedes Jahr im Café. Doch jetzt war es damit vorbei.

      Johanna sah auf die Armbanduhr, sie musste los zum Sender. Da sie es eilig hatte, nahm sie ein Taxi. Während der Fahrt konzentrierte sich Johanna auf Daten, Argumente, Fragen, die sie heute mit ihren Studiogästen besprechen wollte, trotzdem schweiften ihre Gedanken immer wieder ab.

      Als sie durch die Tür des Funkhauses schritt, kam ihr Ulf, ihr Assistent, entgegen. Sie konnte seine Nervosität an seinem Gesicht ablesen. Die Gäste waren bereits im Studio. Johanna gab allen die Hand, entschuldigte sich für ihre Verspätung mit einem bissigen Kommentar über Berlins Taxifahrer, grüßte Frank, den Tontechniker, durch die Scheibe mit einem Nicken, dankte der Pädagogin nochmals für den Literaturtipp und der Ärztin für ihr kurzfristiges Einspringen und erklärte den Ablauf der Sendung.

      Sie setzten sich und stülpten sich Kopfhörer über. Wie üblich strahlte Johanna Ruhe und Kompetenz aus, sie war ein Profi. Sie fand noch ein paar aufmunternde Worte für den Vertreter der Krankenkasse und legte Karteikärtchen vor sich ab. Plötzlich spürte sie den Impuls hinauszurennen, es war nur eine Sekunde, dann leuchtete die rote Lampe auf und Johanna begrüßte die Zuhörerinnen und Zuhörer zur Diskussionsrunde. Alle Gedanken waren beim Thema, bei den Gästen. Sie war in ihrem Element. Als nach einer Stunde die grüne Lampe aufleuchtete, verabschiedete sie sich und bevor Ulf Einspruch erheben konnte, sagte sie etwas von Kranksein und ging, sie wollte nach Hause zu Sammy. Doch Ulf holte sie auf dem Flur ein.

      „Ist es vorbei?“, fragte er, wobei er sich über den Nacken strich, ein Zeichen von Anspannung. Johanna musste überlegen, bevor sie wusste, was er meinte.

      „Dir brauche ich doch nicht zu erzählen, wie viel ich zu tun habe. Ich würde es dir sagen, wenn es so wäre“, sagte sie und schaute zum Fahrstuhl. Eine Aussprache über den Stand der Beziehung, wer sich von wem missverstanden, vernachlässigt oder sonst was fühlte, konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Auf diesem Feld wies sie Defizite auf. „Außerdem dachte ich, du hättest genug mit der Köchin aus der Kantine zu tun.“

      Erstaunlich, wie sehr ihm das Essen dort auf einmal geschmeckt hatte und was er sich alles hatte einfallen lassen, damit die Angebetete einer Verabredung zustimmte. Sogar die Peinlichkeit, ein Gedicht vorzutragen, hatte er nicht ausgelassen, was die Holde zunächst nicht beeindruckt hatte. Johanna hatte nicht gewusst, wen sie mehr bedauern sollte, Ulf, der tapfer seinen Erstling vortrug, oder die Köchin, deren Kolleginnen nur mit Mühe ein Gelächter unterdrücken konnten. Männer, ein seltsam Völklein.

      Ulf tippte Johanna an die Hand, umschloss vorsichtig ihre Finger und lächelte dieses Lausbubenlächeln. Sie liebte es. Sie liebte es, wie seine Augen strahlten, wenn er sich freute, und seine Segelohren frech mitzugrinsen schienen. Würde die kleine Kaulquappe in ihrem Bauch es von ihm, dem Erzeuger, erben? Johanna wünschte sich einen Raum herbei, indem sie Ulf Stück für Stück ausziehen, ihn mit Küssen bedecken konnte. Sex tat ihr immer gut und die Schwangerschaft schien das reinste Aphrodisiakum zu sein. Gab es hier denn keine Besenkammer oder wie wäre es mit dem Fahrstuhl? Ruhig Blut Johanna, wenn das mit deiner Libido so weiter geht, ist bald nichts mehr vor dir sicher.

      „Ich mag die Köchin, aber ich mag auch meine Chefin.“ Ulf trat näher an sie ran. Sie roch sein Rasierwasser, Sandelholz, Zimt, Wacholder. „Ich mag dich sogar sehr, sehr gern.“ Das Zittern in seiner Stimme machte ihr bewusst, dass er fürchtete, sie zu verlieren. Treffer. Mitten in ihr Herz. Johanna gab der Versuchung nach und führte ihn hinauf zur Dachterrasse.

      Zurück fuhr Johanna mit der U-Bahn. Noch einmal holte sie den Brief hervor und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob sie Trauer empfand, schließlich war ein Mensch gestorben, den sie zwar nicht mochte, den sie aber seit Kindheitstagen kannte. Katjas Botschaft war klar, aber sollte sie auf eine Beerdigung gehen, auf der sie wahrscheinlich die Frauen traf, die sie seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte? Nur Katja hatte nie locker gelassen, hatte zu jeder aus der Rabenclique den Kontakt gehalten. Sicherlich hatte sie keiner der früheren Freundinnen von einer Krankheit erzählt. Johanna biss sich auf die Unterlippe, vielleicht war es Selbstmord gewesen. Müsste Katja dann in der Hölle schmoren oder schwebte ihrem Gott eine andere Folter vor? Quatsch, sie würde nie ihr Leben beenden. Verdammt, Katja, was ging in deinem Kopf vor?

      Das monotone Rollen der U-Bahn verleitete Johanna dazu, die Augen zu schließen. In letzter Zeit fühlte sie sich oftmals wie unter Betäubung. Hoffentlich kündigte sich keine Erkältung an.

      Der erste Sommer beim Großvater war ihre Trotzphase gewesen. Sie fühlte sich abgeschoben, abgestraft, denn ihre Mutter hatte sie, nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, der Generalswitwe von gegenüber einen Krankenbesuch abzustatten, ins Auto gepackt und sie in diesem Dorf zurückgelassen, wo sie niemanden kannte. Dabei mochte sie doch nur nicht diese Villa mit den ausgestopften Tieren und dem Geruch nach alten Möbeln. Doch ihre Mutter hatte gemeint, genug von ihrer ewigen Bockigkeit zu haben. Johanna hatte vom ersten Augenblick an nur zurück nach Frankfurt gewollt, musste aber stattdessen irgendwie die Zeit im Dorf totschlagen. Bei einem Großvater, den sie nie zuvor gesehen hatte. Also fütterte sie die Ziege Sieglinde und den grauen Friedrich, das Kutschpferd, mit Leckereien. Ansonsten gab es nur noch Hühner auf dem Hof. Oder sie stöberte durch Haus und Scheune. Meistens lag sie im Heu und träumte vor sich hin, sah sich als Prinzessin in einem Ballkleid auf einem Apfelschimmel reiten oder als Zauberin böse Menschen in Warzenschweine verwandeln.

      Nach einer Woche Lustlosigkeit schickte der Großvater sie Tabak und Schokolade einkaufen. In dem Lädchen war die Verkäuferin in ein Gespräch vertieft und so sah sich Johanna um, beobachtete ein Mädchen, das mit dem Rücken zu ihr vor einem Regal stand. Es hatte einen dicken Zopf, der geflochten war und ihm bis zum Po hing. Das Haar schimmerte in Gold, bestimmt würde es sich wie Seide anfühlen. Ein Papiermobile am Schaufenster reflektierte das Sonnenlicht, sodass der Zopf grüne und rote Farbpunkte aufwies. Johanna streckte die Hand aus, strich über einen der Punkte.

      Sofort bereute sie es, denn das Mädchen wirbelte herum und fauchte: „Fass mich nicht an, Froschgesicht.“

      Johanna wich zurück. Die Verkäuferin hinter der Ladentheke schnalzte mit der Zunge. Woraufhin das Mädchen mit den Schultern zuckte und hinausschritt. Das war eine Prinzessin, dachte Johanna, nicht du, du bist eher, was hatte die Schöne gesagt, ein Frosch. Einen Augenblick lang stand sie da mit gesenktem Kopf, doch da fragte die Verkäuferin, was Johanna wolle. Schnell wiederholte sie, was der Großvater ihr aufgetragen hatte. Die Frau, die zuvor mit der Verkäuferin geplaudert hatte, kniff ihr in die Backe und erkundigte sich nach der Mutter. Johanna merkte, wie ihr Körper ganz steif wurde. Ohne eine Antwort zu geben, legte sie das Geld auf die Theke und stürmte mit den Einkäufen hinaus.

      Auf dem Heimweg spürte sie jemanden hinter sich und drehte sich um.

      „Ist was?“, sagte die Schöne mit gerümpfter Nase. Johanna wollte keinen Streit und ging weiter. „Wenn wir dahinten auf den Feldweg sind, reiß ich dir das Gestrüpp von deinem Kopf.“

      Nun blieb Johanna stehen. „Ich bin größer als du.“ Egal, wo Johanna war, sie war immer das größte Kind, aber dies schien nicht die gehoffte Wirkung auf die Schöne zu haben.

      „So ein gerupftes Huhn werden nicht einmal deine Eltern wiedererkennen.“

      „Ich habe keine Eltern und brauche auch keine.“ Johanna wusste nicht, warum sie so antwortete. Mit solch einer Gans sollte sie nicht reden. Erst später erfuhr Johanna, dass die Feindschaft zwischen ihr und der Schönen schon viel früher gesät worden war. Eine Familiengeschichte war der Grund dafür gewesen, warum ihre Mutter das Dorf hatte verlassen müssen. Die Schöne und Johanna waren durch Blutsbande miteinander verbunden. Nun standen sich die beiden gegenüber und es war nicht klar, was als Nächstes geschehen würde.

      „Claudia“, rief ein Mädchen von den Stufen des Friseurladens, „lass die Bohnenstange in Ruhe. Sie kann nichts dafür.“

      „Dein Glückstag“, schnaubte die Schöne. Sie warf einen Blick auf das Mädchen, lächelte es an und schritt davon. So ein Lächeln hätte Johanna gern auch mal bekommen. Aber die Mutter freute sich nie, sie zu sehen.

      „Du bist die Johanna