Das Erwachen der Raben. Anke Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anke Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783741802850
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      Johanna hatte die Tante auf Anhieb gemocht, die sich gefreut hatte, Johanna kennenzulernen, ihr über die Wange gestrichen hatte und sich nun mit ihr auf der Bank unterhielt, sie nach ihrer Mutter fragte und sagte wie schön es sei, dass Johanna wieder daheim in Eichenstövel sei. Das Dorf war ganz und gar nicht ihr Zuhause. Nun, alte Menschen waren manchmal sonderbar, aber das war nicht schlimm.

      Warum wusste Johanna auch nicht, aber plötzlich fing sie an, ein Lied zu summen, worauf die Augen der Tante aufblitzten. Sie wirkten auf einmal wie die Augen eines Mädchens, das seine Geburtstagsgeschenke betrachtet.

      „Wo Menschen Lieder singen, gibt es keine bösen Menschen“, sagte sie verschmitzt, „das wurde in meiner Familie immer gesagt.“

      Johanna konnte nicht anders, als die Tante anzulächeln und zu singen: „Der Kuckuck und der Esel, die hatten einen Streit.“

      Die Tante klatschte in die Hände, dann fiel sie mit ein.

      „Was für eine schöne Stimme du hast, mein Kind“, sagte sie zum Schluss. Nun kicherte sie auch noch wie ein junges Mädchen.

      Johanna fühlte ihre Brust vor Stolz anschwellen und sogleich stimmte sie das nächste Lied an. Nach und nach kamen die anderen zu ihnen, Maria, Beatrice, Astrid, die Zwillinge und schließlich auch Claudia und alle sangen mit, bis der Duft des Apfelkuchens ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und sie sich endlich über ihn hermachen konnten. Riesenportionen Sahne gab es dazu und Claudia war mit ihrem Werk zufrieden, was sie milde stimmte. Nach dem Gelage, zu dem es auch Kakao gegeben hatte, lagen sie mit ihren vollen Bäuchen überall verteilt herum wie die Kätzchen bei einem Mittagsschlaf; die Zwillinge zusammen in dem Ohrensessel, Beatrice unter dem Tisch auf dem Wollteppich, Astrid und Claudia unter dem Birnenbaum, Maria in dem Autoreifen auf dem Rasen und Johanna auf der Bank neben der Tante, die in der Sonne döste und ab und zu blinzte, um zu schauen, ob all ihre Kätzlein da waren.

      Als sie sich dann alle auf den Weg machen wollten, fragte die Tante, was sie denn heute am Johannestag noch vorhätten. Die Mädchen schauten sich an, keine wusste, mit diesem Tag etwas anzufangen.

      Die Tante hob ihren Zeigefinger an den Mund, „na so was, wisst ihr denn nicht, dass der heilige Johannes an diesem Tag enthauptet wurde?“

      Die Mädchen schüttelten die Köpfe, schon wieder einer dieser Heiligen. Die Armen mussten immer so leiden, wurden mit Pfeilen durchbohrt, von Löwen gefressen oder bei lebendigem Leibe gegrillt und das Gruselige war dabei, dass sie dennoch guckten, als würden sie es erdulden wollen.

      „Dann wisst ihr auch nicht“, sagte die Tante weiter, „dass man an diesem Tag Kräuter sammelt und über Türen und ans Fenster hängt, damit das Haus geschützt ist?“

      Nein, davon hatten sie auch noch nie was gehört.

      „Welche Kräuter denn?“, fragte Claudia.

      Die Tante überlegte: „Kamille, Thymian, Bärlapp, Beifuß, Arnika, Ringelblume und Johanniskraut, an die erinnere ich mich.“ Sie rieb ihr Kinn, dann fuhr sie fort zu sprechen. „Wir tanzten um das Feuer, wunderbar, und sprangen über die Flammen.“ Ihre Augen bekamen wieder diesen Glanz. „So waren wir das Jahr über vor Unheil und Krankheit geschützt. Kinder, ihr müsst immer auf eure Gesundheit achten.“

      Auf dem Weg ins Dorf verkündete Claudia, sie müssten auch so ein Feuer machen. Die Zwillinge waren wie immer von Claudias Ideen begeistert und begannen laut durcheinanderzuplappern, doch sofort gebot Claudia Einhalt. Sie könnten erst dann weiter darüber reden, wenn Johanna nicht mehr dabei sei, schließlich gehöre sie nicht zum Clan der Raben. Johanna versetzte es einen Stich, so sehr hatte sie gehofft, dazu zu gehören, hatte geglaubt, Claudia würde sie nach dem heutigen Tag nicht mehr ausschließen. Schweigen herrschte, doch dann hörte sie Astrids Stimme.

      „Wir sollten abstimmen, ob wir Johanna aufnehmen.“

      Außer Claudia nickten alle, aber sie beugte sich der Mehrheit. „Also gut“, sagte sie, „wer ist dagegen?“ Claudia streckte die Hand in die Luft, die Zwillinge schlossen sich ihr wie gewohnt an. „Das ist ein Unentschieden und damit kann sie nicht bei uns mitmachen.“ Sie zuckte die Achseln, als ließe sich daran nun mal leider nichts ändern, aber Astrid gab nicht auf, sie wollte für ihre Freundin einstehen.

      „Die Zwillinge gelten nur als eine Stimme“, entgegnete Astrid. Der eine Zwilling schaute Claudia an, der andere erhob sogleich Protest, den Astrid mit einer Handbewegung wegwischte. „Sie waren mal ein Mensch, kriegen also auch nur eine Stimme.“ Astrid verschränkte ihre Arme vor die Brust.

      Claudia musterte Astrid: „Gut, aber sie muss ein Opfer bringen.“

      Damit erklärte sich Astrid einverstanden. Alle schienen zufrieden, nur Johanna wurde mulmig zumute, was für ein Opfer? Als sie mit Astrid allein war, fragte sie nach.

      „Mach dir nicht in die Hosen. Sie wird dir schon nicht den Kopf abhauen.“ Jetzt wurde Johanna richtig nervös. Der heilige Johannes wurde enthauptet und heute war das Johannisfest. Nun gut, Claudia würde ihr nicht den ganzen Kopf abhacken, das wäre Mord, aber vielleicht würde sie ein bisschen daran herumschnippeln, das wäre ein Opfer. Johanna wurde übel, sie traute Claudia nicht, nein, sie würde am Abend nicht auf der Wiese wie verabredet erscheinen. Astrid sah ihr die Ängstlichkeit an.

      „Wenn du nicht kommst, werde ich nie wieder deine Freundin sein“, sagte sie verärgert. „Schisshasen kann ich nicht leiden.“

      Was sollte sie tun, sie wollte Astrids Freundin bleiben. Ihr blieb also keine Wahl.

      Im Dämmerlicht wirkte die Sommerwiese als wäre sie mit Magie überzogen. Die Rabenkinder hatten bereits Holz gestapelt, duftende Kräuter drüber gestreut und Steine angeordnet. Auf dem Boden lag ein Teppich aus Blütenblättern. Jedes Mädchen hatte sich Blumen ins Haar geflochten. Claudia sah in ihrem weißen Kleid aus wie eine Elfenkönigin, nur steckte in ihrer Blumenkrone eine Rabenfeder. Sie nahm Johanna bei der Hand und führte sie zum Steinkreis. Dort sprach sie Worte aus, die wie Zauberworte klangen, fremd und geheimnisvoll. Johanna bekam eine Gänsehaut. Sie sagte sich, dass alles nur ein Spiel sei. Johanna, stell dich nicht bescheuert an, mach mit, das sind deine Freundinnen. Es ist ein Abenteuer und du darfst dabei sein.

      Rasch brach die Dunkelheit herein. Astrid und ein Zwilling zündeten das Feuer an. Es sah schön aus, das Orange und das Blau und das Gelb. Claudia legte ihr die Hände auf die Schultern, drückte sie auf die Knie runter, während die anderen Mädchen zuschauten. Der Himmel war schwarz, die Welt war schwarz, außer das Fleckchen Wiese, auf dem sie standen, mit dem Feuer, mit den Blumen, in ihren weißen Kleidern, an denen eine Feder befestigt war. Plötzlich spuckte Claudia ihr ins Gesicht, was Johanna erstarren ließ. Die Spucke rann ihr die Stirn hinab. Claudia war hinterhältig, war gemein. Sie hätte es wissen müssen. Doch dann beugte Claudia sich zu ihr hinunter und strich mit ihrer Feder die Spucke weg. Johanna hörte Claudia wieder diese Zauberwörter sagen.

      „Rabenkind“, sagte sie dann weiter, „aus meinem Mund erfährst du deinen Namen.“ Sie trat hinter Johanna, legte die Hand auf den Kopf und drückte ihn hinunter zu den Feuersteinen. Nun zog sie das linke Ohrläppchen auf einen der Steine.

      Wieder überkam Johanna ein Schrecken. Oh, nein, sie will nicht den Kopf, sondern das Ohr abhacken. Das Opfer würde ihr Ohr sein. Die Kinder in der Schule würden sie hänseln, ihre Mutter würde weinen und der Vater würde mit ihr schimpfen. Nein, sie musste jetzt wegrennen. Doch bevor sie aufspringen konnte, war da etwas Spitzes, gefolgt von einem Schlag, einem Schmerz.

      „Steh jetzt auf“, befahl Claudia. Johannas Knie zitterten, ihr war schwindelig. Ein Zwilling half ihr auf und hielt noch den Stein in der Hand, mit dem er den Nagel durch das Ohrläppchen getrieben hatte. Ihr war als würde ihr Ohr in Flammen stehen. „Wähle nun“, sagte Claudia hoheitsvoll zu ihr, „wem aus dem Clan der Raben du deinen Namen verraten willst.“

      Konnte es sein, sie gehörte nun tatsächlich zu ihnen? Die Angst wich der Freude. Sie hatte bestanden, sie hatte nicht versagt, sie hatte noch nicht einmal geschrien. Erwartungsvoll musterte sie die Mädchen, was würde nun passieren? Hoppla, sie sollte ihren Namen verraten? Den kannten