Nach Karolas Tod hatte sich Katja immer mehr diesem Zwilling angeglichen. Als wäre der Geist der Toten in den Körper der Schwester eingesickert.
Nun war Katja ebenfalls tot und ihre Tochter Leni trauerte um sie.
„Sie sieht aus, als würde sie schlafen. Ich kann es gar nicht glauben. Erst vor einer halben Stunde habe ich Mutti noch gefragt, ob sie Schmerzen hat“, schniefte die Kleine in den Hörer.
Es war sicherlich schwer, in der Nacht neben der Leiche der eigenen Mutter zu sitzen.
„Hast du deinen Vater angerufen?“
„Nein, noch nicht, er arbeitet gerade in Dubai.“
„Ruf auch gleich den Arzt an. Du solltest nicht allein in dem Haus sein.“ Lenis Vater, ein stiller, fleißiger Mann, war meistens irgendwo in der Welt, nur nicht bei seiner Ehefrau. Von ihrem Verlobten hatte die Kleine ein Foto geschickt, ein Lackaffe, an den die Kleine in der Not offensichtlich noch gar nicht gedacht hatte.
„Tante Astrid, du kommst doch zur Beerdigung? Das hat Mutti sich gewünscht und ich wünsche es mir.“
Die Kleine hockte da neben einer Leiche und rief als erste Tante Astrid an. Wie konnte sie es ihr da abschlagen, zumal sie sowieso auf dem Weg nach Deutschland war.
„Keine Sorge, ich lass dich nicht allein.“
Bevor sie das Gespräch beendete, fiel ihr noch ein zu fragen, woran Katja gestorben war. Dann ging sie wieder zurück zum Taxi. Das Gold fühlte sich zwischen ihren Fingern glatt und kühl an.
In der Business Class waren alle Plätze besetzt. Ausgerechnet neben ihr saß ein Mann mit Flugangst. Bereits vor dem Start stand ihm der Schweiß auf der Stirn und seine Hände zupften an seinem Hemdkragen herum. Wenn er während des Starts in Panik geraten würde, müssten sie wieder landen und Astrid hätte Zeit verloren, Zeit die ihrem Vater nicht mehr blieb. Sie bot dem Mann ein Kaugummi an, damit er später den Druck auf den Ohren ausgleichen konnte. Sogleich stellte er sich vor und erzählte, wie sehr er sich vorm Fliegen fürchtete und mit wie viel Baldrian er versorgt war, einer Dosis für Elefanten. Er lachte nervös auf und erzählte ohne Punkt und Komma von seinem Job.
Astrid betrachtete den Mann genauer, während er sprach. Ein kleiner Dicker mit festem, prallem Fleisch, keiner von der Schwabbelsorte. Er hatte etwas von einem Flummi, sicherlich würde er genauso von einer Wand abprallen, wenn man ihn dagegen warf. Er besaß Niedlichkeitswert, war aber ein Idiot. Einer dieser dressierten Büroaffen. Trotz seiner Angst zu sterben, hatte er den Anweisungen seines Chefs Folge geleistet, statt ihm in den Hintern zu treten.
Ihr Vater hatte für solche Menschen nichts übrig. Menschen, die stolz auf ihr Gefangensein waren. Er hatte die Fabrikarbeit verabscheut und die Stechuhr geradezu gehasst. Büromenschen mit Krawatte waren für ihn ebenso Sklaven, nur Sklaven, die er noch weniger mochte. Vor seiner Heirat war er durchs Land gereist und hatte Gürtel und Schmuck hergestellt und verkauft. Er war geschickt mit den Händen, fast ein Künstler. Außerdem hatte er auf seinen Touren Antiquitäten aufgekauft, die er im Winter restaurierte und weiterverkaufte. Doch das Zentrum, worum das Leben ihres Vaters kreiste, das waren und blieben Frauen.
Ihr Vater hatte später auch Lexika verkauft, in denen, wie er ihr als kleines Mädchen gesagt hatte, das Wissen der Welt gesammelt sei. Er besaß wenige Bücher, die aber alle von ihm geschätzt wurden. Er hatte sie immer wieder gelesen, manche wie „Die Schatzinsel“ über zwanzig Mal. Daraus hatte er ihr vorgelesen, wenn er bei ihr und der Mutter war. Als kleines Mädchen hatte sie geglaubt, solange seine Bücher im Haus ihrer Mutter waren, würde er immer wieder zu ihnen zurückkommen. Denn sein Glück lag nicht bei ihnen im Haus, es bestand darin, in seinem VW-Bulli, in dem es eine Schlafpritsche, einen Gaskocher, Lexika und sonstige Sachen gab, übers Land zu ziehen und Frauen zu erobern. Er wurde nie ein Topverkäufer, aber das hatte auch nie zu seinen Zielen gehört. Einmal hatte Astrid ihn gefragt, warum er nicht bei ihnen bliebe. Da erzählte er ihr eine Geschichte, eine von den vielen, die er kannte und die sie von ihrer Frage ablenkte. Astrid hatte nie eine der Geschichten ihres Vaters vergessen.
Der Dicke neben ihr stöhnte auf. Astrid schenkte ihm ein kleines Lächeln und versicherte ihm, dass die Fluglinie seit Jahren ihr Vertrauen besäße. Er hob die Schultern, lächelte verlegen und hub abermals an, auf sie einzureden. Astrid schaltete auf Durchzug bis eine Frage sie aus ihren Gedanken riss:
„Haben Sie auch Kinder?“
Astrid kräuselte die Stirn. Sie musste daran denken, wie sie den Telefonhörer in der Hand gehalten und ihre Assistentin einen jungen Mann angekündigt hatte. Der Name hatte sie kurz aus der Fassung gebracht, doch dann hatte sie gesagt, sie würde keine Zeit erübrigen können und aufgelegt. Saverio, sie kannte ihren Sohn nur von einem Foto. Aber das ging den Dicken nun wirklich nichts an.
Endlich setzte sich die Maschine in Bewegung und der Dicke umklammerte die Lehne.
„Immer ein und ausatmen, mehr braucht’s nicht“, riet ihm Astrid. Er pustete aus und atmete ein und schaute sie mit einem fragenden Blick an, ob er es richtig machte. Offensichtlich wollte er sich nicht vor einer Frau blamieren, die Klassen über ihm stand und so nett war, sich mit ihm zu unterhalten.
Als das Flugzeug abhob, stieß er einen spitzen Schrei aus, da Astrid ihn jedoch fixierte, schluckte er und litt schweigend. Nachdem das Flugzeug über den Wolken flog und die Passagiere die Gurte öffnen konnten, bekam er wieder Farbe im Gesicht.
„Das haben Sie prima gemacht“, sagte Astrid.
Der Dicke strahlte wie ein Junge, der von seiner Lehrerin gelobt worden war. Sofort fing er an zu plappern, erzählte von seinem Leben, um die Angst in den Griff zu bekommen. Nach einer Stunde schlummerte er endlich ein, da war wohl nicht nur Baldrian, sondern ein Cocktail von Pillen im Spiel gewesen.
Astrid rieb den Goldzahn zwischen ihren Fingern, der sich geschmeidig anfühlte. Sie vermisste Lopez. Sie konnte noch spüren, wie er neben ihr lag, an ihren Körper geschmiegt. Sonst durfte niemand bei ihr übernachten, doch Lopez war eine Ausnahme. Neben ihm hatte sie die Augen schließen und sofort einschlafen können.
Die Wut stieg erneut in ihr hoch. Warum hatte er das Geld gestohlen? Warum hatte er sie dazu gebracht ihn zu töten? Ausgerechnet dem Geld der Samsonow-Brüder hatte er nicht widerstehen können, als er die Gelegenheit dazu bekommen hatte. Dem Geld, das er verzockt und das Ungeziefer auf seine Fährte gelockt hatte. Dabei hatte er nur einen Koffer von A nach B bringen sollen. Es war eine mörderische Idee gewesen, einen Abstecher ins Casino einzulegen und einen Gewinn einstreichen zu wollen. Abends hatte er dann vor ihrer Tür gestanden. Die Jagd war schon längst eröffnet. Er hatte überall die Lichter ausgeschaltet, immer wieder an der Tür gehorcht, ob jemand kommt und war bei jedem Geräusch zusammengezuckt. Astrid hatte ihn vom Sessel aus beobachtet, wie er durch die Wohnung stiefelte, sich Whiskey nachschenkte und sich erst im Morgengrauen aufs Sofa setzte. Er hatte sie angeschaut und gesagt: „Ich bin ein toter Mann.“ Astrid hatte gewusst, dass er recht hatte.
Die Samsonow-Brüder hätten ihn selbst dann getötet, wenn das Geld noch vorhanden gewesen wäre. In ihren Augen war es ein Verrat. Die Samsonows waren Abschaum, der seinen Profit mit Waffen- und Menschenhandel machte. Abschaum, der seine Kinder auf Privatschulen schickte, Politiker mit Spenden beglückte und sich als Geschäftsmann von Welt präsentierte. Big Business. Sich nicht zu schade dafür, einem die Haut bei lebendigem Leibe abzuziehen. Das war durchaus wörtlich zu verstehen. Ihnen genügte es nicht zu töten, sie zelebrierten das Schlachten. Nicht aus Vergnügen, sondern nach ihren Gesetzen. Das war ihre Art, das Revier zu markieren.
Um ihre Haut zu retten, hatte Astrid Lopez in einem Rohbau versteckt und dann Spider losgeschickt. Da sie ihm Zuflucht geboten hatte, wäre sie in den Augen der Samsonow Brüder eine Komplizin. Unter der Folter hätte