Das Erwachen der Raben. Anke Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anke Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783741802850
Скачать книгу
„dabei habe ich mir immer ein Schmusekind gewünscht.“ Johanna hatte einen Klumpen im Magen gefühlt. Ja, die Mutter wollte ein Kind mit blondem, langem Haar, in das sie Schleifen binden, und dem sie schöne Kleidchen anziehen konnte. Johanna ließ die Eier aus dem Karton auf den Boden plumpsen. Sie wusste, wie sie die Nerven ihrer Mutter reizen konnte.

      Genauso hasste ihre Mutter es, wenn sie mit ihren dreckigen Gummistiefeln über den Parkettboden lief. Ein Abdruck nach dem anderen, gekonnt gesetzt. Die Mutter schlug sie nie mehr als einmal, aber dafür war es stets ein Schlag mit voller Kraft. Er schien aus heiterem Himmel zu kommen, obwohl sie wusste, dass er kommen würde, wie ein Fallbeil. Bei einem Schlag flog sie sogar gegen den Türgriff, was eine Riesenbeule hervorrief. Ihre Mutter wendete sich dann ab, ging irgendeiner Beschäftigung nach, als sei nichts geschehen. Neben dem Schmerz, der Demütigung fühlte Johanna Überlegenheit. Ihre Mutter verlor die Kontrolle, wenn ihre Tochter es darauf anlegte, dabei war sie nur ein Kind.

      Und ihre Mutter musste den Vater fragen, wenn sie neben dem Haushaltsgeld Ausgaben plante. Johanna dagegen bekam ein großzügiges Taschengeld von ihrem Vater. Reitunterricht und Hockey oder was immer Johanna gerade ausprobierte, zahlte er. Der Vater war der Meinung, Johanna könne gut mit Geld umgehen, denn sie investierte nicht alles in Süßigkeiten oder Spielzeug. Das war die einzige Anerkennung, die ihr Vater jemals geäußert hatte. Umso mehr hasste Johanna es, wenn ihre Mutter sie zum Vater schickte, damit sie ihn anlog und nach Geld für sich fragte, das die Mutter dann nahm. Wenn möglich, tat Johanna nur so, als habe sie den Vater gefragt und gab der Mutter ihr Erspartes, das sie für diese Fälle ansammelte. Auf diese Weise hatte Johanna den Umgang mit Geld gelernt.

      Das Mittagessen war rechtzeitig fertig, als David in die Küche kam, seiner Mutter zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange gab und sich gleich einen Berg von Püree, Spinat und Fischstäbchen auf den Teller häufte. Sara grummelte nur ein Hallo, schaute in die Töpfe und verkündete, sie wolle erst später essen. Schon war sie auf ihrem Zimmer verschwunden. David dagegen verschlang sein Essen mit Appetit. Johanna setzte sich zu ihm und hörte ihm zu, wie er mit Glanz in den Augen von seiner Bandprobe erzählte. Zu seinem Geburtstag hatte ihm Johanna, wie gewünscht, eine Gitarre geschenkt und kaum konnte der Junge drei Griffe, hatte er mit seinen Schulfreunden eine Band gegründet und wollte auf dem nächsten Schulfest spielen. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht. Johanna schüttete ihm sein Glas nach. Sammy und sie hatten einen tollen Jungen großgezogen. Einen Jungen, dem es mit Fünfzehn nicht peinlich war, seine Mutter zu umarmen oder zu küssen, selbst nicht vor anderen Leuten. Natürlich war er auch ein Schlawiner, der wusste, wie er von seiner Mutter das bekam, was er wollte, aber er kannte seine Grenzen.

      Und sie würde dem neuen Kind ebenfalls eine gute Mutter sein. Wie um sich selbst zu bestärken, reckte sie das Kinn vor. David würde sich über einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester freuen. Sie sah es schon vor sich, wie David mit dem Hosenscheißer Bauklötze aufeinandertürmte oder einem Ball nachjagte. David würde die Rolle als großer Bruder gefallen. Sara dagegen, oh je, an Sara durfte sie nicht denken. Seit zwei Jahren stritten sie über jede Kleinigkeit und das lag nicht an der Pubertät. Angefangen hatten die Schwierigkeiten damit, dass Johanna eine Traumreise in die Karibik für Sammy und sich organisiert hatte. Ja, sie hatte Sammy zum Tauchen in den Korallenriffs überredet. Und in Saras Augen trug sie damit die Schuld an dem Unfall, an allem was folgte. Sara kannte keine Gnade, nur zeitweiligen Waffenstillstand.

      Nachdem David ebenfalls auf sein Zimmer gegangen war, setzte sich Johanna noch eine Weile zu Sammy. Wenn sie bei ihm war, nahm sie seine Hand. Da hockten sie dann wie ein altes Ehepaar. Johanna gefiel die Vorstellung; sie und Sammy mit grauem Haar, auf der Haut Spuren der Zeit und dankbar, dass sie sich noch immer hatten.

      „Sammy“, sagte sie, „würde es dir gefallen, einen süßen Fratz auf deinem Schoß sitzen zu haben, einen, der sich an dein Bein klammert und seine ersten Schritte versucht?“

      Johanna küsste seine Fingerknöchel, einen nach dem anderen. Sie vermisste es, von ihm in den Arm genommen zu werden, wie er ihren Namen aussprach, sein Strahlen, wenn er sich über einen Erfolg freute, seinen tadelnden Blick, wenn sie sich in etwas verrannt hatte. Sie vermisste ihn. Wenn sie könnte, sie würde immer an seiner Seite bleiben, alles andere vergessen. Nur sie beide, Körper an Körper, für alle Zeit. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und begann, ein Lied zu summen. Als David sich noch vor Monstern unter seinem Bett gefürchtet hatte, hatte sie es ihm vorgesungen bis er eingeschlafen war. Sammy liebte ihre Stimme.

      Sie nahm sich eine der Zeitschriften vom Gartentisch zur Hand und las ihm vor, was, das war egal. Früher mochte er Historienromane und Reiseberichte. Früher war er auch ein leidenschaftlicher Koch gewesen, der die Küche als sein Experimentierfeld ansah, jetzt aß er nur Frikadellen oder Knackwürstchen mit Käse überbacken, trank statt Cognac lieber Malzbier. Johanna würde ihm gleich das von Nadja vorbereitete Mittagessen in die Mikrowelle stellen.

      In der Zeitschrift begutachtete Johanna ein paar Frisuren. Eine Hochsteckfrisur fand sie pfiffig. Das wäre eine Gelegenheit, mal wieder etwas mit Sara zu unternehmen, überlegte Johanna. Sie streifte ihre Ohrclips ab und massierte ihr Ohrläppchen. An die Geschichte, die ihr daraufhin in den Sinn schoss, hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Katjas Tod spülte einiges an Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis hervor. Ihre Opfergabe für die Rabenclique.

      Anfangs hatte Johanna nicht mit der Clique auf Streifzüge durch Wald und Wiesen gehen oder am See baden können. Nur auf den Puddingpartys bei Maria tolerierte Claudia sie. Daher verbrachte Johanna die meiste Zeit mit Astrid und manchmal spielte sie auch mit Maria. In den zweiten Sommerferien änderte sich dies jedoch.

      Astrid nahm sie mit zum Knusperhäuschen, wo laut Astrid die älteste Frau der Welt, älter als jede Schildkröte, lebte. In der Tat war Tante Heide hundert Jahre alt, was Johanna zunächst gar nicht glauben wollte. Eine so alte Frau hatte sie sich krumm und buckelig vorgestellt, mit Falten so tief wie Gräben, doch die Tante sah aus wie eine Oma aus den Märchen mit weißem Haar und rundlicher Figur. Höchstens achtzig, hatte sie Astrid später zugeflüstert. Johanna fand es schön, dass die Leute aus dem Dorf sich um die alte Frau kümmerten. Sie brachten ihr jede Woche die Einkäufe nach Hause, putzten die Fenster, reparierten das Dach, hackten das Holz, holten sie an Weihnachten und Ostern mit der Pferdekutsche zur Kirche ab und schauten überhaupt nach, ob es ihr gut ging. Tante Heide war früher die Hebamme im Dorf gewesen. Sie hatte sogar Claudias Großmutter, die Frau Bürgermeister, auf die Welt geholt und da war sie auch schon alt gewesen, hatte Claudia herablassend Johanna erklärt.

      Mit dieser Aussage von Claudia fühlte Johanna sich gewarnt, denn bei allem was ihre verstorbene Großmutter betraf, verstand Claudia keinen Spaß. Immerhin beleidigte oder schubste sie Johanna nicht bei Tante Heide; wieder ein Platz mehr, an dem Claudia sie nun duldete, was Johanna Astrid zu verdanken hatte, denn sie war nicht von ihrer Seite gewichen, bis Claudia mit Johanna gesprochen hatte.

      In Anwesenheit von Erwachsenen benutzte Claudia nie Kraftausdrücke, prügelte sich nie, schließlich war sie die Enkelin des Bürgermeisters und ein ungebührliches Benehmen hätte ihre Mutter nicht geduldet. Wenn sie jedoch unter sich waren, kannte Claudia keine Hemmungen. Nicht, dass sie jemals ein Mädchen aus ihrer Bande geschlagen hätte, aber wer nicht dazu gehörte, durfte keine Gnade erwarten. Johanna kannte die Geschichten von Kindern und was ihnen geschehen war, wenn sie Claudias Zorn heraufbeschworen hatten. Die Strafe für die Kinder, wenn etwa Beatrice wegen ihrer komischen Bewegungen geärgert wurde, folgte stets auf dem Fuß, sodass es im Dorf keine mehr gab, die es sich mit Claudia verscherzen wollten. Einzig und allein sie, Johanna, wurde von Claudia gehasst und nichts, was sie tat oder sagte, keines ihrer Friedensangebote, schien daran etwas ändern zu können.

      An diesem Tag wollten die Mädchen Tante Heide einen Apfelkuchen backen. Das hatte Claudia vorgeschlagen, die sogleich das Zepter in die Hand nahm, schließlich war es ein Rezept ihrer Großmutter. Äpfel mussten geschält, Mehl gesiebt, Eier getrennt werden. Die Zwillinge kneteten den Teig und wurden von Claudia ermahnt, nicht alles vorher aufzulecken. Es war ein geschäftiges Treiben in der Küche und Claudia suchte alle Schränke nach Cognac ab, weil die Apfelstücke und die Rosinen unbedingt damit beträufelt werden mussten.

      Das Gelächter, Geplapper und Geschepper drang durch die offen stehende